Der Lehrgehalt der ganzen heiligen Schrift, sowohl des Alten als des Neuen Testaments, besteht aus zwei von einander grundverschiedenen Lehren, nämlich dem Gesetz und dem Evangelium.
Ein reiner Lehrer ist nur derjenige, welcher nicht nur alle
Artikel des Glaubens schriftgemäß darlegt, sondern auch Gesetz und Evangelium
recht von einander unterscheidet.
Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden, ist die schwierigste und höchste Christen- und Theologen-Kunst, die allein der Heilige Geist in der Schule der Erfahrung lehrt.
Die rechte Erkenntnis von dem Unterschied des Gesetzes und Evangeliums
ist nicht nur ein herrliches Licht zu rechtem Verstand der ganzen
heiligen Schrift, sondern ohne jene Erkenntnis ist und bleibt auch dieselbe ein
fest verschlossenes Buch.
Die erste und zwar die offenbarste und gröbste Art und Weise der Vermischung von Gesetz und Evangelium ist, wenn man, wie die Papisten, Sozinianer und Rationalisten tun, Christus zu einem neuen Mose oder Gesetzgeber und so das Evangelium zu einer Werklehre macht, hingegen, wie die Papisten, die verdammt und verflucht, welche das Evangelium als eine Botschaft freier Gnade Gottes in Christus lehren.
Gottes Wort wird zweitens nicht recht geteilt, wenn man das Gesetz nicht in seiner ganzen Strenge, das Evangelium nicht in seiner vollen Süßigkeit predigt, sondern in das Gesetz Evangelisches und in das Evangelium Gesetzliches mengt.
Gottes Wort wird drittens nicht recht geteilt, wenn man erst das Evangelium und dann das Gesetz predigt, erst die Heiligung und dann die Rechtfertigung, erst den Glauben und dann die Buße, erst die guten Werke und dann die Gnade.
Gottes Wort wird viertens nicht recht geteilt, wenn man das Gesetz den schon über ihre Sünden Erschrockenen oder das Evangelium den in ihren Sünden Sicheren verkündigt.
Gottes Wort wird fünftens nicht recht geteilt, wenn man die vom Gesetz getroffenen und erschreckten Sünder, anstatt sie auf Wort und Sakrament zu weisen, anweist, durch Beten und Kämpfen sich den Gnadenstand zu erringen, nämlich so lange zu beten und zu kämpfen, bis sie fühlen, dass sie Gott begnadigt habe.
Gottes Wort wird sechstens nicht recht geteilt, wenn man vom Glauben entweder so predigt, als ob das tote Fürwahrhalten selbst trotz Todsünden vor Gott gerecht und selig mache, oder also, als ob der Glaube um der Liebe und Erneuerung willen, die er wirkt, rechtfertige und selig mache.
Gottes Wort wird siebtens nicht recht geteilt, wenn man nur diejenigen mit dem Evangelium trösten will, welche durch das Gesetz Reue haben nicht aus Furcht vor Gottes Zorn und Strafe, sondern aus Liebe zu Gott.
Das Wort Gottes wird achtens nicht recht geteilt, wenn man so lehrt, als ob die Reue neben dem Glauben eine Ursache der Sündenvergebung sei.
Gottes Wort wird neuntens nicht recht geteilt, wenn man den Glauben so fordert, als könne der Mensch sich denselben selbst geben oder doch dazu mitwirken, anstatt denselben durch Vorlegung der evangelischen Verheißungen selbst in das Herz hineinzupredigen zu suchen.
Gottes Wort wird zehntens nicht recht geteilt, wenn man den Glauben fordert als eine Bedingung der Rechtfertigung und Seligkeit, als ob der Mensch nicht allein durch, sondern auch wegen des Glaubens, um des Glaubens willen und in Ansehung des Glaubens vor Gott gerecht und selig werde.
Gottes Wort wird elftens nicht recht geteilt, wenn man das Evangelium zu einer Bußpredigt macht.
Gottes Wort wird zwölftens nicht recht geteilt, wenn man so predigt, als ob schon die Ablegung gewisser Laster und die Ausübung gewisser Werke und Tugenden eine wahre Bekehrung sei.
Gottes Wort wird dreizehntens nicht recht geteilt, wenn man die Gläubigen so beschreibt, wie sie nicht alle und nicht immer sind, sowohl was Stärke des Glaubens als was das Gefühl und die Fruchtbarkeit desselben betrifft.
Gottes Wort wird vierzehntens nicht recht geteilt, wenn man das allgemeine Verderben der Menschen so beschreibt, als ob auch die wahrhaft Gläubigen in herrschenden und mutwilligen Sünden lebten.
Das Wort Gottes wird fünfzehntens nicht recht geteilt, wenn man so predigt, als ob gewisse Sünden schon an sich nicht verdammlich, sondern an sich läßlich seien.
Gottes Wort wird sechszehntens nicht recht geteilt, wenn man die Seligkeit an die Gemeinschaft mit der sichtbaren rechtgläubigen Kirche bindet und jedem in irgendeinem Glaubensartikel Irrenden die Seligkeit abspricht.
Das Wort Gottes wird siebzehntens nicht recht geteilt, wennman lehrt, dass die Sakramente ex opere operato [durch den bloßen Vollzug] heilskräftig wirken.
Das Wort Gottes wird abzehntens nicht recht geteilt, wenn man
zwischen Erweckung und Bekehrung einen falschen Unterschied macht, und nicht
glauben können mit nicht glauben dürfen verwechselt.
Das Wort Gottes wird neunzehntens nicht recht geteilt, wenn man die Unwiedergebornen durch die Forderungen oder Drohungen oder Verheißungen des Gesetzes zur Ablegung der Sünden und zu guten Werken zu bewegen, und also fromm zu machen, die Wiedergebornen aber, anstatt sie evangelisch zu ermahnen, durch gesetzliches Gebieten zum Guten zu nötigen sucht.
Das Wort Gottes wird zwanzigstens nicht recht geteilt, wenn man die unvergebliche Sünde gegen den Heiligen Geist so beschreibt, als ob dieselbe wegen ihrer Größe unvergeblich sei.
Das Wort Gottes wird einundzwanzigstens nicht recht geteilt, wenn man in seiner Lehre nicht das Evangelium im Allgemeinen vorherrschen lässt.