Rektoratsrede des Dozenten Pastor Wilhelm Martin Oesch bei der Übernahme des Rektorats der Lutherischen Theologischen Hochschule

am 10. November 1949

zum Thema: Der Tertius usus legis [dritter Gebrauch des Gesetzes] und der Gesetzesbegriff der Konkordienformel im Lichte neuester ‚Angriffe‘ von Lund und Erlangen

Nachträgliche Vorbemerkung von Hans Kirsten: Die Rektoratsrede von Oesch 1949, die unter anderem ja auch sich mit [Werner] Elert und seinem Gesetzesbegriff auseinandersetzen musste, forderte nachträglich – [Martin] Kiunke war auf Reisen – dessen entschiedenen Protest heraus. Dies geschah offenbar nicht aus theologischen Gründen, sondern im Zuge der neuen Kirchenpolitik, die es nicht zulassen wollte, dass der ehemalige Breslauer Seminardirektor in Oberursel öffentlich kritisiert und angegriffen wurde.I

Vorbemerkung von P. Oesch: Der Kampf, den andere (nicht zuletzt die in der Rektoratsrede genannten Autoren) gegen die ausgesprochen antinomistische [gegen den Gebrauch des Gesetzes für den Christen gerichtete] und gerade dadurch durch und durch nomistische [gesetzliche], das Evangelium in Gesetz verkehrende Theologie Karl Barths aufgenommen haben, soll durch die nachfolgenden Ausführungen nicht gehemmt, sondern an einer entscheidenden Stelle gefördert werden. Dass dies durch Kritik geschieht, dazu zwang die Beobachtung a) dass die Studenten aus der Lektüre auch der besten Vertreter des neueren Luthertums immer wieder Unsicherheit gegenüber dem Gesetzesbegriff schöpfen; b) dass die outrierten Äußerungen, die im Namen des Luthertums in der Welt verbreitet werden und von denen die Rektoratsrede einige beleuchtet, dort, wo die einfachen organischen Begriffe des lutherischen Bekenntnisses bisher das stärkste Bollwerk gegen den Calvinismus bildeten, das Vertrauen zum Bekenntnis zu erschüttern drohen. Dass der Angriff auf die Konkordienformel – um einen solchen handelt es sich in der Gesamtsituation – im Namen der Lutherforschung ergeht, macht ihn nicht ungefährlicher, so wenig auch eine sachliche Differenz zwischen Luther und der letzten lutherischen Bekenntnisschrift nachweisbar ist. Die nachfolgende Rede musste sich an alle Semester, auch an die jüngeren, wenden und manches in einfacher Form sagen, was „selbstverständlich“ ist, was auch in schwerer wissenschaftlicher Rüstung in den letzten Jahren von denen, die sich um Gesetz und Evangelium mühen, wiederholt gesagt wurde. Da nicht alles schriftlich erarbeitete Material in der zeitlich begrenzten mündlichen Rede vorgetragen werden konnte, werden die ergänzenden Ausführungen in Klammern bzw. in Fußnoten geboten, die man gleich mitlesen wolle. Mit Walch2 wird die St. Louiser Ausgabe sämtlicher Schriften Luthers (1880-1910) bezueichnet, die auf der von Joh. Georg Walch besorgten Hallenser Ausgabe (1739) beruht.

Hochverehrte Herren und Brüder! Liebe Kommilitonen!

    Wir leben in der apokalyptischen Zeit nach dem zweiten Weltkriege (man ist fast versucht zu sagen, vor dem dritten Weltkriege). Wir bewohnen buchstäblich eine Art Niemandsland zwischen zwei Stapeln von Atombomben. Ein Ungeheuer, dessen Gier keine Grenzen kennt, scheint aus allernächster Nähe nach uns zu greifen. Unübersehbare Heere von Krüppeln, von leiblich und seelisch zu Grunde gerichteten Menschen, umgeben uns. Nirgends aber ist Frieden. Wenn je die ganze Welt unter der Signatur der Gerichte Gottes gestanden hat, dann heute.

    Christus ist wunderbar und herrscht mitten unter seinen Feinden. In der von den Kulturerfolgen des neunzehnten Jahrhunderts betrogenen Kirche waren die großen Wirklichkeiten des Handelns und Urteilens Gottes von dem handelnden und urteilenden Menschen zugedeckt. Die fahlen endgeschichtlichen Blitze der letzten Jahrzehnte haben die Nebelschwaden vielerorts zerteilt. Die unentrinnbare Realität des Zornes Gottes, der sich außer Christo über der gottlosen Welt entlädt, starrt den Kirchen, den Theologen ins Gesicht und lässt manche fragen nach der Gnade in Christus für alle armen Sünder.

    Das Thema der Heiligen Schrift, die Rechtfertigung des verdammten Sünders aus Gnaden um Christus‘ willen durch den Glauben, tritt wieder in den Vordergrund, und, damit zusammenhängend, die Unterscheidung von Gottes Gesetz und Evangelium. Man fragt auch wieder nach den beiden ganz verschiedenen Reichen Gottes, dem zur rechten Hand im Christusreich, in der Kirche, und dem zur linken Hand in den harten Ordnungen dieser Welt, die noch obendrein von den Gottlosen dieser Endzeit gehandhabt werden. Die Einzelfragen, von deren Beantwortung schließlich alles abhängt, werden wieder aufgegriffen: „Was ist das Gesetz Gottes? Was ist die Frohbotschaft Gottes? Wie gebraucht man das Gesetz Gottes recht? Wie kommt man zur Erkenntnis und zum Trost des Evangeliums?“ Zu den theologischen Themen, um die man heute ringt, gehört auch die Untersuchung der Bräuche des Gesetzes. Es kommt nun aber darauf an, dass mit einem Ernst, den Gott selbst wirken muss, gefragt wird, und dass die göttliche Antwort gehört wird, die den Ausweis besitzt: „Es steht geschrieben.“

    Wie ist in dieser Hinsicht die Lage?

    Karl Barth, der den Umbruch der Zeiten seit Jahrzehnten gefühlt hat, hat versucht, unserer aus den Fugen geratenen Welt die calvinistische Antwort in neuer Formulierung, zu der Kierkegaard beitrug, zuzurufen. Sie lautet dahin, dass im Grunde das Evangelium doch Gesetz ist, dass das Gesetz umgekehrt auch Evangelium ist, dass Gericht gleich Gnade und Gnade auch zugleich Gericht ist, dass in dieser hin- und herwogenden Offenbarung auf ein Unbestimmtes hin zu glauben oder besser zu handeln ist, dass in Gesetz und Evangelium nicht zweierlei Offenbarung desselben Gottes zu ganz verschiedenen Zwecken vorliegt, sondern dass Evangelium und Gesetz (letzteres als „Form des Evangeliums“) eine Einheitsoffenbarung darstellen auch für die Diesseitsordnung! Die Antwort biegt zurück zu der falschen Beruhigung der vergangenen Zeiten, trotz aller Vertiefung der Problematik. Sie ist nicht Gottes reine, wahre Antwort. Sie ist sogar potenzierte Irrlehre.

    Barths Macht als Neo-Calvin beginnt die Männer, die von lutherischer Theologie wissen, aus der Betäubung des großen dialektischen Siegeszuges herauszureißen, sie zum Reden zu zwingen. Das gilt seit Jahren auch von den Fakultäten Lund und Erlangen. Ich habe dabei die entscheidenden Männer dieser Fakultäten im Auge, Anders Nygren und Werner Elert, die von der Säkularisation und auch von Barths falscher Lösung der Zeitfrage zu Luther und wirklich zum Neuen Testament zu führen suchen.

    Jedoch genügt auch deren Antwort noch nicht in jeder Hinsicht. Die tiefen Krankheiten der Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts, vor allem die Preisgabe des Schriftprinzips, wirken noch weiter. Das Neuluthertum will gern in der Theologie neben der Reformation etwas Eigenes machen. Es kehrt noch nicht ganz zum Bußernst des Täufers, nicht völlig zum Neuen Testament zurück. Man findet wohl zum Teil den einfachen, geraden, alten Weg nicht, weil man das, was man in den vergangenen Tagen verkehrt gelernt hat, nicht so schnelle vergessen kann.1

    So gerät man nun gerade in einen gewissen Gegensatz zur Konkordienformel, derjenigen lutherischen Bekenntnisschrift, die die Schwärmerei der Reformierten am schonungslosesten aufdeckt. Es sollte doch zu denken geben, dass die Bekämpfer Karl Barths und der großen calvinischen Welle selbst das Bollwerk gegen Genf, die Formula Concordiae, kritisieren. Das dürfte doch kaum der Weg zum Sieg sein.

    Gestatten Sie, hochverehrte Versammlung, dass ich Ihnen nun, der Ankündigung entsprechend, den

Tertius Usus Legis und den Gesetzesbegriff der Konkordienformel im Lichte neuester „Angriffe“ von Lund und Erlangen

darlege.

    Wie lutherische Theologie Gesetz und Evangelium unterscheidet, in welchem Sinn hier von den drei Bräuchen des Gesetzes geredet wird und wie insbesondere die Konkordienformel den 3. Gebrauch des Gesetzes darlegt, daran sei zuerst erinnert. Danach ist zu erörtern, welche Kritik man heute in Lund und Erlangen daran übt und wie wir uns dazu stellen.

I.

    „Das Gesetz fordert, das Evangelium schenkt.“ So sagt und schreibt Luther in unermüdlicher Wiederholung. (Man beachte etwa WA 36, 12 ff; Walch 2 IX,802 ff.; E.A. 182, 150 ff.) Weil das Gesetz die Gerechtigkeit, die wir vor Gott haben sollten, aber von uns aus nie haben, fordert, darum kann es uns nur verdammen. Das Evangelium allein macht uns selig, weil es uns Christi Gerechtigkeit als unsere Gerechtigkeit, als seine Erfüllung des Gesetzes an unserer Statt, frei und umsonst schenkt. Es ist der Dienst, der „die Gerechtigkeit predigt“, und der „den Geist gibt“, die „Kraft Gottes zur Seligkeit“, die den Glauben wirkt und erhält, der Christum ergreift. Das Evangelium allein macht zeitlich und ewig lebendig (2. Kor. 3,6). Auch alle guten Werke werden aus dem im Glauben ererbten Gnadenhimmel heraus getan, haben ihren Ursprung jenseits des Gesetzes.

    Im Exkurs zum dritten Kapitel im großen Galaterkommentar unterscheidet Luther den bürgerlichen und den theologischen oder geistlichen Gebrauch des Gesetzes (WA 40 I, 519 ff.; Walch 2, IX, 445 ff.; E.A. Gal. II, 104 ff.) Erstlich hat das Gesetz, das fordernde Wort Gottes, eine Außenseite. Nach derselben dient es dem leiblichen Leben, wehrt es den groben Ausbrüchen der Sünde einigermaßen. (Der erste Absatz im Exkurs Luthers ist zunächst hier zu beachten, für den die zweite Dekalogtafel quoad externem disciplinam [zur äußeren Zucht], ferner die Stellen von der Obrigkeit, auch 1. Tim. 1,9 f. als biblischer Beleg dienen mögen.) Deshalb pflegen unsere Dogmatiker diesen Gebrauch den usus politicus seu civilis [politischen oder Zivilgebrauch] zu nennen. – Das ist aber nicht der volle Umfang, das ist noch nicht das innerste Wesen des Gesetzes Gottes. Das ist nicht der Hauptgebrauch, um dessen willen Gott das Gesetz, von dem nach dem Sündenfall noch eine dumpfe Erkenntnis im Gewissen, im Herzen übrig geblieben ist, sowohl im Alten als im Neuen Testament in seiner geistlichen Tiefe als Totalforderung offenbart hat. Der Gebrauch ist der hauptsächlichste, der die Leute ihre Sünden recht erkennen lehrt, indem er sie zur Krisis steigert, so dass die ganze geheime Sündenkrankheit hervorbricht. Das ist das Strafamt des Gesetzes, dass es, mit Luther zu reden, wie ein Herkules das Ungeheuer der Selbstsicherheit tötet. Es dringt durch den Panzer der Selbstentschuldigen und Selbstrechtfertigungen. Es trifft den Lindwurm der Selbstsicherheit und Selbstgerechtigkeit, so dass er, ob der Verwundung entsetzt und empört, sich hoch aufbäumt zum Todeskampf. Röm. 3,19.20 lesen wir: „Wir wissen aber, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, auf dass aller Mund verstopft werde und alle Welt Gott schuldig sei, darum, dass kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein kann; denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (dia gar nomou epignosis hamartias) – also das Gegenteil von Gerechtigkeit vor Gott. Dieser eigentliche Gebrauch des Gesetzes wird in jenem Exkurs von Luther der theologische oder geistliche, von den lutherischen Dogmatikern später meist der usus elenchticus  [die Sünde aufdeckender Gebrauch] genannt. Denn jene Stelle des Johannesevangeliums gehört hierher: „Wenn der Paraklet (der Beistand) kommt, der wird die Welt strafen um die Sünde, um die Gerechtigkeit und um das Gericht“, Kap. 16,8. Wie das „peri hamartias“ [um die Sünde] gemeint ist, wird im nächsten Vers gesagt: „Um die Sünde, dass (weil) sie nicht glauben an mich.“ Der Heilige Geist nimmt das  Gesetz, so wie es Römer Kap. 1,18 bis 3,20 geschieht, in seine Hand, um dadurch den Menschen seiner völligen Verlorenheit ohne Christus zu überführen und ihn, wie Luther in den Schmalkaldischen Artikeln sagt, in „das Schrecken und Verzagen“, „das rechte Herzeleid, Leiden und Fühlen des Todes“ zu treiben (A.S. 3, III, 2). „Aber zu solchem Amt tut das Neue Testament flugs die tröstliche Verheißung der Gnaden durchs Evangelium, der man glauben soll“, sagt Luther weiter. Das zeigt die Fortsetzung des Römerbriefes von Kap. 3,21 an. Ja, Gott Lob: „Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht“ (Röm. 10,4).

    Aber da entsteht die Frage: Ist dann nicht für den Gläubigen, den Christen, das Gesetz in jedem Brauch abgeschafft? Denn es nützt ihm ja nicht zur Rechtfertigung, ja auch nicht zu dem aus dem Glauben, aus der Rechtfertigung allein hervorgehenden neuen Leben, zu den guten Werken. Alle Rettung und alles neue Wesen steht unter der Devise: „Nicht aus dem Gesetz, sondern unter der Gnade“ (Röm. 6,14). Was soll dann noch das Gesetz? „An den Galgen mit Moses!“ Diese naheliegende Patent- und Radikallösung wurde zu Luthers Lebzeiten von Johannes Agricola aus Eisleben („Meister Grickel“), einem der Mitarbeiter Luthers, aufgebracht: „Das Gesetz gehört aufs Rathaus, nicht auf den Predigtstuhl.“ Luther hat Agricola zum Widerruf gezwungen. Er hat diesen Angriff auf die heilsame Lehre für noch gefährlicher gehalten als die römische Vergesetzlichung des Evangeliums. Der Reformator wusste: Wenn Rom so gestanden hätte, dann wäre er, Luther, nie in den Zusammenbruch unter den Gesetzesanklagen geführt worden, aus dem ihn das wiederentdeckte Evangelium errettete. Er hat in sechs gewaltigen Thesenreihen bzw. Disputationen und weiteren Veröffentlichungen auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit, vom Jahr 1537 an, mit unüberbietbarer Schärfe sein „Quod nom“ gesprochen. (Vgl. WA 50,461 ff.; 39 I, 334 ff.; Walch 2, XX, 1610 ff. – 1624 ff. werden Agricolas Sätze eingeschoben – ; E.A. 32,1 ff.; v.a. IV, 420 ff.)

    Die Wirren nach Luthers Tode nötigten die Konkordienformel, die Antwort Luthers auf den Antinomismus, auf die Gesetzeszertrümmerung (mit der der ganze Philippismus durch seine gesetzliche Neigung zur Vermischung von Gesetz und Evangelium widerspruchsvoll verwandt und vielfältig verschlungen war), zu wiederholen und symbolisch zu fixieren. Sie tut das vor allem im fünften Artikel „Vom Gesetz und Evangelio“, im welchem sie die Begriffe beider Worte Gottes definiert und die exklusiven Funktionen beider voneinander abgrenzt, vor allem klarstellend, dass das Gnadenwort, das Evangelium im eigentlichen Sinn, keine Buß- und Strafpredigt ist, dass darum auch die Sünde des Unglaubens gegen das Evangelium nur vom Gesetz, das den Gehorsam gegen jedes Wort Gottes fordert, bestraft wird. Unsere Bekenntnisschrift ist aber durch die das Gesetz nur äußerlich auffassende, es stets verflachende oder beseitigende Art des Antinomismus genötigt, besonders auf das Verhältnis des bereits Bekehrten, des Gläubigen, zum Gesetz, was nämlich seinen täglichen Heiligungskampf, seinen Wandel anlangt, einzugehen. Sie kann das ohne weiteres tun, nachdem sie in Art. III „Von der Rechtfertigung“ Gesetz und Evangelium weiter voneinander getrennt hat als Himmel und Erde und in Art. IV auch das neue Leben, den neuen Gehorsam zusamt den guten Werken als Frucht allein des Evangeliums sichergestellt, jede Abhängigkeit des Heils von nachfolgenden Werken aber abgewiesen hat. Es muss gegen den Antinomismus, dieses „missverstandene Luthertum“, nun aber das gesagt werden, was unter der Überschrift „Vom dritten Brauch des Gesetzes Gottes, De Tertio Usu Legis Divinae“ im VI. Artikel folgt. Die Ordnungszahl will zum Ausdruck bringen, dass sie den Gebrauch des Gesetzes bei dem Widergeborenen behandeln und ihm demgemäß von vornherein in eine Kategorie für sich stellen will.2

    Es wird eingeräumt (S.D. VI,5), dass die Gerechtfertigten als solche nicht nur vom Fluch, sondern auch vom Zwang des Gesetzes frei sind, nach Röm.7,1-6 und 1. Tim. 1,9 („Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben, sondern den Ungerechten.“) wir lesen: „Die Meinung St. Paulis ist, dass das Gesetz diejenigen, so durch Christus mit Gotte versöhnt, mit seinem Fluche nicht beschweren kann, auch die Wiedergeborenen mit seinem Zwang nicht quälen dürfe, weil sie nach dem inwendigen Menschen Lust haben an Gottes Gesetz.“ Im Irrealis wird fortgefahren (§ 6): „Und zwar, wenn die Gläubigen und auserwählten Kinder Gottes durch den einwohnenden Geist in diesem Leben vollkommen erneuert würden, also dass sie in ihrer Natur und allen derselben Kräften ganz und gar der Sünde ledig wären, bedürften sie keines Gesetzes und also auch keines Treibers, sondern sie täten für (von) sich selbst ohne alle Lehre, Ermahnung, Anhalten oder Treiben des Gesetzes, was sie nach Gottes Willen zu tun schuldig sein (sind), gleichwie die Sonne, der Mond und das ganze himmlische Gestirn sein(en) ordentlichen Lauf ohne Ermahnung, ohne Anhalten, Treiben, Zwang oder Nötigung für [von] sich selbst unverhindert hat nach der Ordnung Gottes, die ihnen Gott einmal gegeben hat, ja wie die lieben Engel einen ganz freiwilligen Gehorsam leisten.“

    Dem steht aber der Realis, die nüchterne Wirklichkeit, entgegen (§ 7): „Nachdem aber die Gläubigen in diesem Leben nicht vollkommlich, ganz und gar, completive vel consummative, erneuert werden; denn obwohl ihre Sünde durch den vollkommenen Gehorsam Christi bedecket (ist), dass sie den Gläubigen zur Verdammnis nicht zugerechnet wird, auch durch den Heiligen Geist die Abtötung des alten Adams und die Erneuerung im Geist ihres Gemüts (angefangen hat): So hanget ihnen doch noch immer der alte Adam in ihrer Natur und allen desselben innerlichen und äußerlichen Kräften an, davon der Apostel geschrieben (Röm. 7,18.23; Gal. 5,17). …“ (§ 9): „Darum, so bedürfen in diesem Leben die rechtgläubigen, auserwählten und wiedergeborenen Kinder Gottes von wegen solcher Gelüste des Fleisches“ – nun folgen die genauen Bestimmungen – „nicht allein des Gesetzes täglicher Lehre (doctrina) und Ermahnung, Warnung und Drohung (comminationibus), sondern auch oftermals der Strafen (castigationibus), damit sie aufgemuntert und dem Geiste Gottes folgen.“

    Niemand übersehe das Wichtigste, das Grundlegende, dass die Konkordienformel den Gebrauch des Gesetzes bei den Christen lediglich mit dem alten Adam begründet. Das entspricht dem gesamten neutestamentlichen Zeugnis. Der Gerechtfertigte ist nicht unter dem Gesetz, sondern er ist in Christi Gnadenreich. Als neuem Menschen ist ihm das Gesetz eingeschrieben. Insofern kommt das Gesetz in keinem Brauch mehr für ihn in Betracht (Röm. 7,1 ff.), auch nicht als Lehre, da der neue Mensch die Salbung des Heiligen Geistes hat und alles weiß (1. Joh. 2,20). – Aber Christus und der Heilige Geist bedienen sich, nicht ohne Zustimmung des neuen Menschen, des vorgeschriebenen Gesetzes als eines unentbehrlichen Hilfsmittels wider das Fleisch. Dabei ist im Einzelnen zu beachten: Dass der Christ in seinem Verhältnis zur Welt oder in relatione den harten gesetzlichen Ordnungen, die mit dem ersten Brauch zusammenhängen, genauso unterstellt ist wie jeder andere Mensch, geschieht um der Liebe willen, damit der Christ nicht äußerlich aus der Welt gelöst wird, sie nicht „ärgert“ (Matth. 17,24-27; 1. Petr. 2,13 ff.). Es geschieht aber auch zur Demütigung des Fleisches (1. Mose 3,16-19; 1. Tim. 2,12 ff.; Röm. 13,1 ff.). Das besondere Kreuz, das Gott verhängt, auch die harte Zucht, die der Christ selbst seinem Fleisch auferlegt, kommen als castigationes speciales [besondere Züchtigungen] noch hinzu (2. Kor. 12,7-9; 1. Kor. 9,24-27). – Vor allem aber ist und bleib tauch dem Fleisch der Christen gegenüber die Hauptfunktion des Gesetzes „Warnung und Drohung“ (comminationes), also das ελέγχειν, damit der Christ seine Sünde erkennt und fortlaufend zu Christi Blut seine Zuflucht nimmt und so in der sturmfreien Burg der vergebenden Gnade verbleibt (Röm. 7,14 ff.). – Aber bei dem Christen kommt, wenn es sich um seine Beziehung zum eigentlichen Inhalt des Gesetzes handelt, etwas in Betracht, was bei den Weltkindern nicht statt hat. Diese sind ja unter dem Teufel, nicht unter dem Heiligen Geist, können das Gesetz nicht innerlich erfüllen. Die Gläubigen dagegen sind eine neue Kreatur. Sie wandeln nach dem Geist und nicht nach dem Fleisch (2. Kor. 5,17; Röm. 8,3 f.) Sie sprechen mit Paulus das Wort, das angesichts der ungeheuerlichen Forderungen des Gesetzes nur durch den Heiligen Geist gefasst werden kann: „Ich habe Lust am Gesetz Gottes nach dem inwendigen Menschen“ (Röm.7,22). Sie geben in Antwort auf die Barmherzigkeit Gottes ihre Leiber zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, und prüfen dabei, „welches da sei der gute, der wohlgefällige und der vollkommene Gotteswille“ (Röm. 12,1). Gegen den Schwärmergeist des eigenen Fleisches, der auf eigene Andacht und Werke fällt, der schwarz für weiß, weiß für schwarz hält, greifen sie nach den Geboten als der göttlichen Regel und haben dieselbe auch bitter nötig. Für den alten Menschen ist natürlich jede Lehre des Gesetzes nichts anderes als Strafe, für den neuen Menschen aber ist sie eine Waffe gegen den alten. In unserem längeren Zitat war darum die Rede von des Gesetzes „täglicher Lehre und Ermahnung“ (assidua legis admonitione, doctrina - § 9, ähnlich 6, ferner 24). Im Einzelnen führen die Paragraphen 20 ff. der Solida Declaratio hierzu aus: „So ist auch solche Lehre des Gesetzes den Gläubigen darum nötig, auf dass sie nicht auf eigene Heiligkeit und Andacht fallen und unter dem Schein des Geistes Gottes eigen erwählten Gottesdienst ohn Gottes Wort und Befehl anrichten, wie geschrieben steht 5. Mose 12 (8.28.32): „Ihr sollt der keines tun, ein jeder, was ihm recht dünkt“, sondern „höret die Gebote und Rechte, die ich euch gebiete“, und „sollet auch nichts dazutun, noch davontun“ … „also, da Paulus die Neugeborenen zu guten Werken ermahnt, hält er ihnen ausdrücklich vor die zehn Gebote, Röm. 13 (9), und dass seine gute(n) Werke unvollkommen und unrein sei(e)n, erkennet er aus dem Gesetz, Röm. 7 (7), und David spricht Ps. 119 (32): ‚viam mandatorum tuorum cucurri, ich wandel(e) auf dem weg deiner Gebote; aber gehe mit deinem Knecht nicht ins Gericht, denn sonst wird kein Lebendiger für [vor] dir gerecht sein‘, Ps. 143 [3].“

    Was ergibt sich als Lehre der Konkordienformel vom Tertius Usus und als maßgebender, man ist versucht zu sagen: hintergründiger, Gesetzesbegriff der Konkordienformel? Der Tertius Usus ist der Gebrauch des Gesetzes in allen seinen Funktionen gegen den alten Adam des Christen. Es kommt sowohl der Zwang nach dem ersten als auch die unerbittliche Offenbarung und Verurteilung der Sünde nach dem zweiten Gebrauch in Betracht, aber beide so, dass der Christ nicht unter dem Gesetz ist. Jedoch ein Drittes tritt hinzu. Nennen wir es ruhig den „drittesten“ Gebrauch, oder besser: den dritten Gebrauch im dritten Gebrauch, tertium usum in tertio usu. Derselbe geht davon aus, dass das Gesetz immer Forderung des heiligen Gottes gegenüber der ursprünglich nach seinem Ebenbild geschaffenen Kreatur ist.3 Nun aber ereignet sich dies Neue, dass dem Christen das, was das Gesetz Gottes als gut fordert, nicht mehr schrecklich ist. Nach dem neuen Menschen ist ihm Gottes heiliger Wille, der da sagt, wie wir sein sollen und was wir tun und lassen sollen, lieblich. Er ist selbst „ennomos“, denn der Glaube ist durch die Liebe wirksam – durch die Liebe gegen Gott und gegen die Menschen. Er spricht: „Rede, Herr, denn dein Knecht höret.“ Weil Gott ihm der himmlische Vater ist, hört er Gottes Wort als Vaterwort, auch die Forderungen als Vaterforderungen, die heilig, recht und gut sind – im Urteil des neuen Menschen. Und dieser auf Gottes Seite stehende neue Mensch, der sich gegen das Urteil des Gesetzes am Evangelium aufrichtet, entdeckt nun in der hinter den Forderungen des Gesetzes stehenden Lehre und Norm eine Handhabe, um die Lügen des alten Menschen zu entlarven, um die Versuchung zur Schwärmerei zurückzuweisen.4 Es tritt hier der Urbegriff des Gesetzes zutage, das schon vor dem Sündenfall da war, der Inhalt, der hinter der gegen die Sünder gerichteten barschen, drohenden Form, hinter dem „Du sollst“ steht. Vernehmen wir die unermüdlich wiederholte Begriffsbestimmung von 1577, Epitome VI,2: „Wir glauben, lehren und bekennen, obwohl die rechtgläubige(n) und wahrhaft zu Gott bekehrte(n) Menschen vom Fluch und Zwang des Gesetzes frei und ledig gemacht sind), dass sie doch der Ursach nicht ohne Gesetz sein (sind), sondern darum von dem Sohn Gottes erlöst worden, dass sie sich in demselben Tag und Nacht üben sollen, Ps. 119 (1). Wie denn unser(e) ersten Eltern auch vor dem Fall nicht ohne Gesetz gelebet (haben), welchen das Gesetz Gottes auch ins Herz geschrieben (war), da sie zum Ebenbild Gottes geschaffen worden.“ S.D., VI,4: „Denn das Gesetz in der Spiegel (instar speculi limpidissimi), in welchem der Wille Gottes und was ihm gefällig, eigentlich abgemalet ist.“ Par. 15: „Es ist mit sonderem Fleiß zu merken, wenn von guten Werken geredet wird, die dem Gesetz Gottes gemäß sein (sind) (denn sonst seind es nicht gute Werk), dass hier das Wort Gesetz einerlei heißt (unam tantum rem significet), nämlich den unwandelbaren Willen Gottes (immutabilem videlicet voluntatem Dei), nach welchem sich die Menschen in ihrem Leben verhalten sollen.“ Diesen Begriff teilt das Bekenntnis mit Jesus, der Matth. 5,18 sagt, dass nicht der „kleinste Buchstabe“ (iota hen), oder ein Tüttel vom Gesetz zergehen soll, bis dass Himmel und Erde zergehen.  Als Folge dieser Lehre vom Gesetz als dem heiligen Willen Gottes ist es ohne weiteres verständlich, dass die Epitome § 1 aufzählt: „Nachdem das Gesetz den Menschen umb dreierlei Ursach willen gegeben (ist): Erstlich, dass dadurch äußerliche Zucht wider die Wilden, Ungehorsamen erhalten (wird). Zum anderen, dass die Menschen dadurch zu Erkenntnis ihrer Sünden geführet (werden). Zum dritten, nachdem sie wiedergeboren (sind) und gleichwohl das Fleisch ihnen anhanget, dass sie umb desselben willen eine gewisse Regel ha(e)tten, nach welcher sie ihr ganzes Leben anstellen und regieren sollen.“5

II.

    Sehen wir nun, inwiefern Lund und Erlangen mit der Konkordienformel nicht einig werden, und welche Bedeutung ihrer direkten oder indirekten Kritik am lutherischen Bekenntnis beizumessen und was darauf zu antworten ist.

    In Anders NygrensRomarbrevet“ („Pauli Bred Till Romana“, Andra Upplagen, Svenska kyrkans Diakonistyrelses Bogförlag, Stockholm, 1947. – 1. Auflage 1944 -) hat die seit Jahren betriebene schwedische Lutherforschung ihren bedeutendsten, obschon mittelbaren Niederschlag gefunden. Die Tendenz ist antisynergistisch, objektiv, die Auslegung u.E. die bedeutendste seit Stöckhardts und Philippis Kommentaren.

    Aber auf S. 53 f. der schwedischen Auflage von 1947 heißt es: „Des Gesetzes Heilsweg (frälsningsväg) ist durchs Evangelium als ein falscher Heilsweg aufgezeigt.“ Nygren fährt fort: „Und doch will Paulus auf der anderen Seite das Alte Testament nicht preisgeben. Er hält an demselben fest als an Gottes Offenbarung.“ Ist Paulus in Not? Nygren weiß einen Ausweg: „Für eine bloß statistische und unpersönliche Auffassung kann dies als ein Widerspruch erscheinen. Aber für die lebendige Gottesauffassung des Paulus liegt hier kein Widerspruch vor. Gott braucht nicht mit allen Menschen in derselben Weise umzugehen oder alles auf einmal zu geben. Es ist der lebendige und tätige Gott und durch seine Aktivität bringt er das Neue hervor.“ Wenn Worte einen Sinn haben, dann heißt das: Das Gesetz bot einen anderen Heilsweg, der damals richtig war, jetzt aber überholt und verkehrt ist, nachdem das Evangelium gekommen ist. Das steht dann auch wörtlich Seite 386: „Paulus hat die zwei Heilswege – Gesetzesrechtfertigung und Glaubensrechtfertigung – einander scharf gegenüber gestellt. Beide können nicht zugleich gelten. Mit dem Kommen Christi ist das Urteil gesprochen über die Gesetzesrechtfertigung.“

    Sie empfinden all, dass es für die Frage des Tertius Usus und des Gesetzesbegriffes von ausschlaggebender Bedeutung ist, ob das Gesetz einen falschen Heilsweg zeigte, nämlich den des äußeren Haltens von Geboten. Dann kann uns das Gesetz in seinen klaren Schriftforderungen nicht Ausdruck des heiligen Willens unsers Gottes sein, denn dann hat, deutsch gesagt, der Gott des Neuen Testaments den des Alten korrigiert, den alten Heilsweg verworfen und einen neuen gesetzt. Das wirkt sich aber auch nach dem Evangelium hin aus. Denn Christus hat dann nicht an unserer Statt das Gesetz erfüllt, nicht unsere Verschuldung am Gesetz getragen, nicht selbst das (und noch viel mehr) an Liebe gegen Gott und die Menschen nach dem Gesetz geleistet, was wir schuldig geblieben waren. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Nygren an gewissen Stellen des Romarbrevet in Verlegenheit kommt. Das ist besonders Kap. 8,3 ff. der Fall: „Das dem Gesetz unmöglich war, da es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott und sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches und der Sünde halten und verdammte die Sünde im Fleisch, auf dass die Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert (to diakaioma tou nomou) in uns erfüllet würde, die wir nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist.“ Theos katekrinen, vollzog das Urteil des Gesetzes am mit den Sündern verwandten, selbst sündlosen Fleische seines Sohnes auf Golgatha. Derselbe hing anstelle alles sündigen Fleisches dort, zog dessen Fluch auf sich. Sein Opfertod brach die Schuld-, Straf- und Teufelsverfallenheit, in der wir durch die ungesühnte Sünde uns befanden. Nun ist an unserer Statt das katakrima der Sünde, die Verdammnis, an ihm vollzogen, der Freispruch uns erworben. Darum hieß es etliche Verse vorher: „So ist nun keine Verdammnis für die, die in Christo Jesu sind.“ Dadurch ist nun auch in uns die Sünde nicht mehr Herrscherin, sondern der Geist da, der in uns ein neues Wesen wirkt, eben das Gesetz erfüllt. Die Stelle erfordert den Begriff des Gesetzes, den die Konkordienformel hat. Nygren muss deshalb S. 324 das Zugeständnis machen: „Das Gesetz ist Ausdruck des heiligen Willens Gottes. Das Ziel, welches es anstrebt, ist, dass die Gerechtigkeit Gottes herrscht“ (vgl. auch die folgenden Seiten und 303 ff.). Zu einer ähnlich Konzession nötigen ihn die Verse 13,8-10, indem er Seite 432 ff. schreibt: „Wenn Paulus vom Gesetz und seiner Erfüllung redet, so geht er nicht vom jüdischen Gesetzeserfüllungsideal aus. Hier wie Römer 8,4 denkt er an Gottes heiligen Willen; dass dieser erfüllt werden soll, ist nicht bloß eine jüdische Forderung.“ Nichtsdestoweniger heißt es gegen Ende des Buches (S. 432 f.): „Das Gesetz stellt kein positives Ideal der Gerechtigkeit auf.“ Wir fragen: „Ist das denn kein positives Ideal, wenn Jesus das Gesetz so zusammenfasst: ‚Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen und von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst?‘“ Es ist Ausdruck des heiligen Willens Gottes, der stets zwei Seiten hat, Gebot und Verbot. Nygren hat von Haus aus ein modern-antinomistisches Schema mitgebracht, das er nicht recht los wird. Kein Wunder, dass sich Nygren an den Stellen, wo die stellvertretende Genugtuung Christi im Römerbrief zum klaren Ausdruck kommt, trotz seines ernsthaften Willens, die freie Gnade zu preisen, sozusagen vorbeistiehlt. Es mangelt der eindeutige Begriff des Gesetzes, das Christus an unserer Statt erfüllte. Die falsche Stellung zum Alten Testament, die in „Eros und Agape“ (vgl. die in Amerika gleich nach dem Kriege phototechnisch gedruckte deutsche Ausgabe auf S. 54) noch krasser hervortrat, schadet dem sonst so erkenntnisreichen, ernsten, auch biblisch-lutherisch urteilenden Mann sehr. Es wird hier klar: Sein Schriftprinzip reicht nicht aus, um die Lehre von Gesetz und Evangelium gründlich durchzuführen, sie zum Siege zu führen.

    Es dürfte der Defekt Nygrens deutlich geworden sein – der auf dem gefährlichen Hintergrund der Lundenser Theologie, wie sie Aulén, der Bekämpfer der satisfactio vicaria, verkörpert, erscheint – die in so entscheidenden Fragen wie der forensischen Rechtfertigung viel tiefere Theologie Werner Elerts hat damit leider doch einen Berührungspunkt, der uns nötigt, hier auf den Erlanger Systematiker, der gerade über Gesetz und Evangelium oft sehr markant und bahnbrechend schreibt, kritisch einzugehen. Auch er greift wie Nygren die calvinischen Hauptthesen an, dass wir doch durch irgendeine Gesetzeserfüllung selig werden, dass Gottes eigentliches Reich ein Gesetzesreich ist, dass schließlich das Letzte und Höchste erreicht wird, indem wir „die Regel, gut und recht zu leben“ (Calvins Genfer Katechismus) beobachten. Aber es kommt auch bei ihm nicht zu dem Sieg über die Gesetzlichkeit, der durchgehend mit der Schrift und darum auch mit dem Bekenntnis stimmt. Darum werden auch in Erlangen Calvin und Barth noch nicht so überwunden, wie es gerade heute dringend nötig wäre.

    Vor uns liegen das Buch Elerts „Zwischen Gnade und Ungnade“ (Ev. Presseverband München, 1948) und sein Artikel „Tertius Usus Legis“ im Heft Nr. 3 des ersten Jahrgangs der „Lutherischen Welt-Rundschau“, der Zeitschrift der Lutherischen Weltföderation.

    Wir gehen, ohne die geschichtlich und polemisch vorzüglichen Partien zu berücksichtigen und ohne auf ein Forschungsergebnis einzugehen, das für die ganze lutherische Kirche von Wort ist (Elert weist nach, dass der Satz von den drei Gebräuchen nachträglich in die 2. Antinomerdisputation Dr. Martin Luthers eingeschmuggelt wurde), gleich über zu der Behandlung des Tertius Usus Legis und insbesondere zu seinem hier hervortretenden Gesetzesbegriff.

    Wir bringen einfach Zitate aus den beiden Veröffentlichungen, die neusten Datums sind und weiteste Verbreitung gefunden haben. Wir schließen unsere Bemerkungen6 an die Fundstellen an, indem wir diese in ihrem Zusammenhang für sich selbst sprechen lassen und von dem sonstigen Schrifttum Elerts keine Notiz nehmen. Es heißt zunächst in dem berührten Artikel in der „Lutherischen Welt-Rundschau“ (Nr. 3, S. 43 ff.):

    „Zweitens sind nach dem Gesetz die Hoffnung auf Lohn und die Furcht vor Strafe die legitimen Motive seiner Erfüllung.“

    Dann wäre das Gesetz ja erfüllbar, denn dieser Motive ist der natürliche Mensch durchaus fähig. So richtig und fein die vorhergehenden und nachfolgenden Sätze Elerts sind, die Kar Barths Gleichung: Das Gesetz ist die Form das Evangelium, das Gericht ist die Gnade, vernichtend treffen, so überspitzt ist dieser Satz. Trotz der besonderen verdammenden Form, in der das Gesetz dem, der bereits Sünder ist, begegnet, muss daran festgehalten werden, dass das Gesetz das Gottgefällige, das Positive fordert und entsprechend auch den Unglauben, also auch alles, was unter Römer 14,23 fällt, straft, da das Evangelium als Gnadenbotschaft ihn nicht strafen kann, S.D. V, 17-21. Das Gesetz fordert im 1. Gebot das richtige Verhältnis und Verhalten zu Gott.

    „Das Gesetz ist immer Vergeltungsgesetz, nicht nur zwischen Gott und den Menschen, sondern auch zwischen den Menschen untereinander. Alles nun, sagt Christus selbst, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch, das ist das Gesetz und die Propheten (Matth. 7,12). Das ist das Gesetz des ‚wie du mir, so ich dir‘, des ‚Do, ut des‘, des ‚Suum cuique‘, der Äquivalenz von Arbeit und Lohn, der Zuteilung des gerechten Strafmaßes, des Interessenausgleichs unter den Staatsmächten.“

    Es ist fast unglaublich, diesem Jesuswort diesen veräußerlichten Sinn zu unterschieben angesichts der ausdrücklichen Aussage: „Das ist das Gesetz und die Propheten.“

    „Die im alten Gesetz gebotene Liebe hat ihr Maß an der Liebe des Menschen zu sich selbst Matth. 19,19).“

    Demgemäß wäre auch Jesu Wort Matth. 22,39: „Das andere aber ist dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘“, eine indirekte Empfehlung der Selbstsucht.

    Weiterhin heißt es in: „Zwischen Gnade und Ungnade“:

    „Zunächst ist klar, dass der sterbende Christus gegen die Sünder keine andere Haltung einnimmt als der lebende, noch in der letzten Stunde begnadigt er den Schächer, dass er mithin bis zum letzten Atemzuge dem Vergeltungsgesetz widersprochen hat.“ (S. 152)

    Hier wird nicht gesagt: Jesus erfüllte das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten“ für den Schächer und trug zugleich die ewige Strafe für dessen Mord und unser aller Mordgesinnung (1. Joh. 3,15) und sprach ihm daraufhin als einem Erlösten Gottes Vergebung zu. Sondern Prof. Elert sagt: Jesus widersprach dem Vergeltungsgesetz, indem er dem Schächer vergab. Jesus soll sich also in ausdrücklichem Widerspruch zu dem Gesetz des Alten Testaments gesetzt haben. Dabei hat Jesus in Wirklichkeit den Grundsatz: „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll wieder durch Menschen vergossen werden“, so sehr gutgeheißen, dass er spricht: „Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig.“(Matth. 5,22.) Er widerspricht hier dem „des Todes schuldig“ so wenig, dass er es vielmehr steigert, denn er legt hier das Gesetz aus. Seine Vergeltung ist nie Widerspruch gegen das „schuldig“, sondern Überwindung desselben durch seine eigene Tat an unserer Statt.

    „Nur kraft der Auferweckung ist der Tod Christi auch Evangelium. Denn erst durch sie wurde offenbar, dass die neue Ordnung aller Dinge, die der irdische Christus aufrichtete, indem er an die Stelle des Vergeltungsgesetzes die Vergebung setzte, dass diese neue Ordnung auch die Ordnung Gottes war und ist. In dieser neuen Ordnung hat aber das Gesetz überhaupt nichts mehr zu sagen“ (S. 155). „Wenn er nach Johannes von einem neuen Gebot spricht, so ist das eben ein wirklich neues Gebot, nicht bloß eine Dekalog-Interpretation“ (S. 140).

    So richtig der auf das erste Zitat folgende Satz ist, dass das Evangelium das Gesetz unwiderruflich zum Schweifen bringt, so bedenklich ist der mit eingeführte Ordnungsbegriff. Das zeigt das zweite Zitat. Wir fragen: Hat Gott ursprünglich nicht das Richtige gefordert, sondern ein sittlich minderwertiges Vergeltungsgesetz gegeben, das nun durch ein „neues Gebot“ abgelöst ist? Ist diese Auffassung nicht sehr leicht verwechselbar mit der vieler alt er und neuer Ethiker, Jesus habe die Maßstäbe einer höheren Sittlichkeit eingeführt? Kann es irgendeine Ordnung, also auch die des Himmelreiches, der Gemeinde Christi, ohne Maßstäbe geben? Sind die neuen Maßstäbe etwa erst seit Jesus da? Hatte Gott sie vorher selbst nicht, oder hat er sie vorher nicht offenbart? Wie konnte aber dann der Elenchticus vorher schon Totalforderung sein?

     „Die Gesetzestreuen entscheiden hier bei der Verurteilung Jesu mit der Hilfe des Gesetzes gegen die Verheißung. Insofern ist die Tötung Christi in der Tat ein gesetzlicher Vorgang. Aber es wird hier wiederum unwiderleglich klar, dass das Gesetz und die Verheißung, die sich in Christus erfüllte, in unversöhnlichem Gegensatz stehen“ (S. 153).

    In meiner Bibel jedenfalls steht das anders. Ich lese Gal. 3,21: „Wie? Ist denn das Gesetz wider Gottes Verheißung? Das sei ferne!“ Indem jüdischer Hass Christus schuldig spricht unter Missbrauch des Gesetzes, kommt es dahin, dass der Fluch des Gesetzes, den wir alle verdient haben, unsern Stellvertreter trifft nach Gottes ewigem Rat und Plan zu unserm Heil. Wir lesen: „Denn die zu Jerusalem wohnen und ihre Obersten, dieweil sie diesen nicht kannten noch die Stimme der Propheten (welche an allen Sabbathen gelesen werden), haben sie dieselben mit ihrem Urteilen erfüllt“, Apg. 13,27; vgl. 2,23. Gerade dadurch, dass Christus als ein Fluch unter dem Gesetz stirbt, wird die Verheißung erfüllt: „Christus hat uns erlöst vom Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns …, auf dass der Segen Abrahams unter die Heiden käme in Christo Jesu und wir so den verheißenen Geist empfingen durch den Glauben“ (Gal. 3,13.14. Der Tod Christi ist rettend als das alle Forderungen Gottes unendlich überragende Opfer des ewigen Sohnes, also Gottes selbst, dem in der Auferstehung die göttliche Anerkennung und damit die Absolution der ganzen Sünderwelt folgt. –

    Nun zurück zu Gal. 3,21: Das Gesetz ist dem gefallenen toten Menschen gar nicht zu dem Zweck gegeben, um ihn lebendig und selig zu machen, Vers 22, was allein die Gnade tun kann, sondern ihn umso schuldiger zu machen, V. 23. Damit streitet es nicht wider die Gnade, sondern dient der Gnade. Auch in seiner letzten Zuspitzung als Verdammungsurteil sagt es: „Du bist um deines Abfalles, um deines Unglaubens willen von Gott ewig verworfen, du kannst nicht zu Gott zurück.“ Aber in der Begründung dieses Urteils liegt noch die Forderung: „Du sollst nicht andere Götter haben neben mir!“ – Umgekehrt: Wenn die Gnaden den Schuldigen freispricht, gibt sie ja gerade zu, dass er mit Recht verdammt war. Entgegen den Behauptungen Auléns wird in der Begnadigung das Recht nicht gebrochen, nicht aufgehoben, sondern der „Gottlose“ wird „gerecht gesprochen“ um Christi willen, Röm. 3,23 ff.; 4,5.25, das heißt: um der „satisfactio vicaria Christi“ willen, 2. Kor. 5,21. Also bedingungslose Gnade bei Anerkennung des göttlichen Rechts.

    Das ist der Hintergrund, auf dem Elert zwar in vorsichtiger, aber immerhin merklicher Weise den Tertius Usus Legis der Konkordienformel kritisiert. Das kann allerdings nicht wundernehmen. Derselbe passt nicht zu einer lex talionis, die gerade die Liebe nicht gebietet und die Tiefen dessen, was nach göttlichem Urteil gut ist, gar nicht zugrunde legt. Wir gehen lediglich von den vernommenen Zitaten aus – ob daneben ein anderer Elert existiert, ist hier nicht die Frage –; wir stellen in Bezug auf sie fest, dass sie sich mit dem ganzen Gesetzesbegriff der Konkordienformel und damit auch mit dem Tertius Usus nicht reimen. Aus der in den Fundstellen zu merkenden Tendenz heraus kann Elert daneben auch nicht umhin, seinem an sich dankenswerten Forschungsergebnis, dass Luther in der zweiten Antinomerdisputation nicht drei Gebräuche des Gesetzes aufgezählt hat, eine falsche Bedeutung beizumessen.

    Zur Klärung stellen wir nachträglich die Frage: Welche begrifflichen Verwechslungen verraten sich in den vorgetragenen Zitaten? Die Antwort ist zunächst die, dass Elert nicht genügend unterscheidet zwischen der lex politica und überhaupt der theokratischen Seite des Gesetzes und dem eigentlichen Kern der alttestamentlichen Gesetzgebung, den das Neue Testament allein noch als maßgebende Richtschnur hinstellt, entfaltet und unerbittlich geltend macht. Das Neue Testament zwingt uns nun aber zu dieser Unterscheidung, Matth. 19,8; Kol. 2,16: Wir müssen, gegen eine gewisse alttestamentliche Wissenschaft, mit unseren Symbolen (siehe Anm. 6) dem Neuen Testament folgen.7

    Auf die zu den Zitaten nachträglich gestellte Frage ist ferner zu antworten: Infolge der ungenügenden, wenigstens nicht konsequent durchgehaltenen Unterscheidung der beiden Bräuche, besonders im Alten Testament, verwirren sich bei Elert auch zwei wesensverschiedene Begriffe der Vergeltung. Im zivilen Gesetz, ob nun Bestandteil der Theokratie Israels oder ob Vernunftgesetz, muss in irgendeiner Form immer der Grundsatz gelten: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sonst wäre das zivile Gesetz ungerecht. Nur unter Anwendung strenger distributiver Gerechtigkeit kann der usus civilis secundum rationem als Notstandsmaßnahme Gottes für das Weltreich laut göttlicher Anordnung seinen erforderlichen Dienst tun. Aber es ist ein Fehlschluss zu folgern, dass Gott damit, sei es im Gesetz des Alten oder des Neuen Testaments, die Rachsüchtigkeit, die Rache als Gesinnung fordere oder auch nur erlaube. Obwohl Gottes eigentliche Gesetzesoffenbarung, also der Elenchticus und Normativus, die Werke der iustitia civilis einschließt, uns in relatione und vocatione trifft, uns auch in das Schwertamt hineinstellt, fordert sie – Agape. Gott fordert himmlische Gesinnung der Liebe selbst im Racheamt – so ungeheuerlich für uns die Spannung sein mag. Gerade mit dieser letzten Gesinnungsforderung (vgl. Jesus und den reichen Jüngling, ferner Röm. 7,7-15 und 4,15) wirkt das Vollgesetz den Tod, das Gegensteil von Leben und Liebe. Aber eben diese Wirkung ist nötig, göttliche Absicht. – Und wenn nun auch gerade hinter dieser eigentlichen, letzten und höchsten Forderung Gottes wiederum Vergeltung, ja sogar das Jüngste Gericht steht, Gott selbst sich gerade nach dem Neuen Testament Vergeltung und Rache vorbehält und Gottes Totalforderung dem Sünder somit eine schauerliche lex aeternae talionis ist, Gal. 3,10 f., so verändert das den Inhalt der Forderung für uns und an uns dennoch in keiner Weise. Das Gesetz bleibt „geistlich“ (Röm.7,14) trotz der dahinter drohenden ewigen Verdammnis, die ja am Jüngsten Tage kein geringerer als Christus selbst aussprechen wird.

    Gelangen wir nun zu einem abschließenden Urteil.

    Man gewinnt Nygren in seinem „Romarbrevet“ lieb. Man kann auch Elert herzlichen Dank sagen, dass er als einer der ersten und als Einsamer seine Stimme erhoben hat gegen die gesetzliche Barthsche Einheitsoffenbarung in der ersten Barmer These. Barmen macht das Evangelium zum Gesetz. Das aber ist die Häresie aller Häresien. Auch in Elerts neuem Buch („Zwischen Gnade und Ungnade“) liegen viele vorzügliche Formulierungen gegen die gesetzlichen theokratischen Vorstellungen des Gottesreiches bei den Reformierten vor. Man kann dankbar sagen, dass Elert in dieser Hinsicht nicht zu übertreffen ist. Aber Elters hier entwickelte Lehre von Gesetz und Evangelium genügt noch nicht, um an die Erschreckten unserer Zeit Gottes Antwort in voller Klarheit und mit ungeschwächter Kraft weiterzugeben. Hier fehlt ein erhebliches Stück von jener Unbedingtheit und Konkretheit, die nötig ist, um mich ganz schuldig zu sprechen, um mich ganz zu Boden zu werfen, dann aber mich ganz zu trösten mit der Gewissheit der konkretesten Erfüllung der Forderung und der konkretesten Bezahlung der Schuld und Strafe für mich. Elert hat in den angeführten Zitaten – weiter geht unser Urteil hier nicht – keinen echten geistlichen Gesetzesbegriff (nomos pneumatikos, Röm. 7,14). Und das „mehr als genug“ der satisfactio vicaria erhebt sich dementsprechend auch nicht zur vollen göttlichen Siegeshöhe. Man muss hier aber auch fragen (so sehr Elert offenkundig vorwärts drängt): Kann er mit voller Plerophorie beides – das konkrete offenbarte Vollgesetz und die stellvertretende Genugtuung als Herz des Evangeliums – fassen und halten, ohne die ganze Bibel als Gottes Wort anzuerkennen, ohne ein wirkliches autoritäres Formalprinzip neben dem Material-, verbunden mit dem Materialprinzip zu akzeptieren? (Ohne Sätze wie den über die Jungfrauengeburt („Der Christliche Glaube“, 1941, S. 378) fallen zu lassen, ohne die bisher sonderlich zum Alten Testament eingenommene Stellung, die derjenigen der Lundenser nicht unähnlich ist, im Geiste des größeren Theologen Dr. Martin Luther zu korrigieren?)

    Wo man nicht erkennt, dass des Gesetzes eigentliches Wesen sich im ersten und in den letzten beiden Geboten ausdrückt, kommt man, ob man widerstrebt oder nicht, notwendig dahin, überhaupt kein Gesetz zu kennen, das den vollen heiligen Willen ausdrückt, keine lex Dei, die verdammt, weil wir des allerheiligsten treuen Gottes Gebote übertreten haben und an ihm schuldig geworden sind (und nicht etwa nur, weil ein falsches oder wenigstens minderwertiges Prinzip der Rache oder der irgendwie als Schicksal empfundene Deus Absconditus sich darin ausdrückt).

    Es gilt deshalb, mit allem Nachdruck den in den Fundstellen vorkommenden falschen Gesetzesbegriff zurückzuweisen. Nach dem neueren, besonders in Schweden vertretenen Gesetzesbegriff fordert das Gesetz gerade nicht die vollkommene Liebe gegen Gott und den Nächsten. Diese lehren Schrift und Bekenntnis aber gerade als die Forderung des Gesetzes, Matth. 22,37-40; Röm. 13,9.10; Apol. IV,8. 122 ff. (bei Müller: III, 1 ff.); besonders Luther im Kleinen und Großen Katechismus beim ersten Gebot, 5. Gebot, Anfang und Schluss des 2. Hauptstücks, usw. – man lese doch nur Luther selbst in der Konkordia -; von den Artikeln 3 bis 6 der Konkordienformel zu schweigen. Veräußerlicht man das Gesetz, das dem Evangelium gegenübersteht, in dieser Weise, dann fordert das Gesetz im Strafgebrauch inhaltlich nicht wesentlich mehr, als es im bürgerlichen Gebrauch (usus politicus) verlangt. Dann ist der eigentliche Theologicus oder Elenchticus (Gesetz als Sündenspiegel), mag man ihn noch so sehr als Hauptgebrauch vertreten (was z.B. Elert ohne Zweifel tut), dennoch tödlich getroffen. Die Funktion kann nicht mehr total verdammend sein, wenn die Forderungen nicht inhaltlich die einer totalen Gerechtigkeit, einer totalen Liebe sind. kein Gesetz kann seine Strafe über den Bereich seiner Vorschriften ausdehnen, d.h. mehr bestrafen, als es verbietet bzw. gebietet. Auch Gottes Gesetz geht nach der Schrift in der Strafvorschrift nicht über die Sollvorschrift hinaus. Christus aber ist nicht nur für unsere Verstöße gegen die bürgerliche Gerechtigkeit gestorben, sondern vor allem für unseren heillosen Unglauben, für unsere Verstocktheit gegen Gott, aus der allein unser Götzendienst, unsere Ichgebundenheit entspricht, und für unsere frevle Lieb- und Treulosigkeit. Fordert das Gesetz gar nicht, dass wir vollkommen sind, so ist er innere Zusammenhang des Gesetzes mit dem, was Christus am Kreuz für uns litt, an einem entscheidenden Punkt verletzt. Eine Schädigung des Gesetzesbegriffes schädigt also in gefährlicher Weise den Inhalt des Evangeliums, die stellvertretende Genugtuung (satisfactio vicaria) und die ganze Predigt der Buße und des Heils. Wir erinnern an die konkrete, inhaltliche Gesetzes- und Gerichtspredigt bei Paulus, die den ganzen Römerbrief durchzieht, z.B. Röm. 7,7: „Aber die Sünde erkannte ich nicht ohne durch das Gesetz, denn ich wusste nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht hätte gesagt: Lass dich nicht gelüsten!“, und an Jesu programmatisches Wort, das den einzigen Weg im Himmel und auf Erden, über das Gesetz hinauszukommen, zeigt, Matth. 5,17: „Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“8

    Zugleich in der Absicht, das Gesagte zu illustrieren, unterstreichen wir in etlichen Strophen des Lieder „Es ist das Heil uns kommen her“ den Zusammenhang zwischen der göttlichen Wahrheit des Gesetzes und des Evangeliums, um den es Luther im Gehorsam gegen die Schrift vornehmlich geht, auf den es auch uns endlich ankommt.

Was Gott im G’setz geboten hat,

da man es nicht konnt halten,

erhob sich Zorn und große Not

vor Gott so mannigfalten;

vom Fleisch wollt nicht heraus der Geist,

vom G’setz erfordert allermeist,

es war mit uns verloren.

Es war ein falscher Wahn dabei,

Gott hätt sein G’setz drum geben,

als ob wir könnten selber frei

nach seinem Willen leben;

so ist es nur ein Spiegel zart,

der uns zeigt an die sündge Art,

in unserm Fleisch verborgen.

Noch musst das G’setz erfüllet sein,

sonst wärn wir all verdorben;

darum schickt Gott sein’n Sohn herein,

der selber Mensch ist worden;

das ganz Gesetz hat er erfüllt,

damit seins Vaters Zorn gestillt,

der über uns ging alle.

Und wenn es nun erfüllet ist

durch den, der es konnt halten,

so lerne jetzt ein frommer Christ

des Glaubens recht Gestalte.

Nicht mehr als: Lieber Herre mein,

dein Tod wird mir das Leben sein,

du hast für mich bezahlet!

    Wir wollen weiterhin um des Gewissens willen und zugleich freudigen Herzens an der Konkordienformel, der letzten unserer Bekenntnisschriften, festhalten <gerade an Art. V und VI, besonders an den für den Gesetzesbegriff maßgebenden Stellen: S.D. V,17; VI,4. 15>.

    Die abschließende Bekenntnisschrift steht heute in statu confessionis gegen die Calvinisten, aber auch gegen gesetzesunischere und gesetzesunsicher machende Lutheraner, sonderlich des Nordens. Wir glauben, lehren und bekennen, was diese große Konkordie über den Tertius Usus Legis Divinae, über das Gesetz als Regel, nach der wir uns in der Versuchung der Schwärmerei richten soll, was sie über den Gesetzesbegriff überhaupt lehrt.9

    Man darf wohl sagen: Wenn das Luthertum unserer Tage einer aufgescheuchten Menschheit Gottes Antwort in des Heiligen Geistes Kraft bezeugen soll, dann führt dieser Welt gerade auch in der Richtung der vom Text des Römerbriefs erzwungenen „Zugeständnisse“ Nygrens und einer bereits gesegneten Lutherforschung, die sich gegen alle Sonderfündlein durchsetzt, auch gegen die leider in Lund unter Auléns dogmatischem Einfluss beliebte Umdeutung des Reformators.

    Uns liegt nicht an der Negation, sondern an der Position, am Sieg des Evangeliums. Gerade wenn, wie es erfreulicherweise von den angeführten lutherischen Autoren geschieht, der krasse Antinomismus der Barthschen Identitätstheologie (Gesetz gleich Evangelium) bekämpft wird, kommt es darauf an, dass die Waffe nicht stumpf wird durch einen falschen Gesetzesbegriff (Theologicus oder Elenchticus und auch Normaticus), der sich inhaltlich nicht wesentlich erhebt über einen Civilis, ein Gesetz im bürgerlichen Brauch. Durch den Konsensus in der ganzen Lehre vom Gesetz und Evangelium wird eine biblisch-lutherische Einheitsfront gegen alles Schwärmertum zur Rechten und zur Linken gewonnen, die freilich sehr Not tut. Das ist dann wirklich Gottes Front, und diese siegt auch, ob wir’s sehen oder nicht. Sie zerstört durch das Vollgesetz radikal die falsche Sicherheit der Welt. Sie wirkt durch das bedingungslose freie Evangelium die himmlische Gewissheit, eine Gewissheit, die höher ist als alle Vernunft, weil sie Gott und seine ewige Herrlichkeit aus Gnaden hat und den Segen ererbt, die aber gerade dadurch frei ist, der Welt in Liebe zu dienen, auch in den nüchternen Ordnungen dieser Weltzeit.

    Die hochverehrte Versammlung wir gestatten, dass ich die Feststellung, mit der ich das Thema („Tertius Usus Legis und der Gesetzesbegriff in der Konkordienformel im Lichte neuester ‚Angriffe‘ von Lund und Erlangen“) abschließe, in ein Lutherwort kleide:

    „Und wo will man lernen, was Christus ist, was er getan hat für uns, wo wir nicht wissen sollen, was das Gesetz sei (welches er für uns erfüllet), oder was die Sünde sei, da <dafür> er genug getan hat? Und wenn wir gleich des Gesetzes für uns nicht bedürfen und aus dem Herzen reißen könnten, das doch unmöglich <ist>, so müssten wir’s doch um Christus‘ willen predigen (wie denn geschieht und geschehen muss), damit man wüsste, was er für uns getan und gelitten hätte. Denn wer könnte wissen, was Christus und warum Christus für uns gelitten hätte, wenn niemand wissen sollte, was Sünde oder Gesetz wäre? Darum muss doch das Gesetz gepredigt werden, wo man Christum predigen will!“ Aus dem Schreiben an Dr. Caspar Güttel wider die Antinomer, 1539 (WA 50,473; Walsch 2 XX, 1616; E.A. 32,7 ff.)

Nachbemerkung: Die ihren Segen in sich tragende Lutherforschung, sei’s in Schweden, sei’s in Deutschland, entdeckt nicht nur das große Hauptthema, Gesetz und Evangelium, sondern fördert es auch beständig. Auch die Lundenser Neo-Orthodoxie, auch Auléns zum Teil mit Ritschl verwandte Thesen können dagegen auf die Dauer nicht standhalten. Hauptsächlich von dieser Lutherforschung, sofern sie beim Gegenstand bleibt du durch ihn in die Schrift zurückgeführt wird, kommt es zu einer echten Gegenmacht gegen den reformierten Gesetzesgeist, der alle Welt, auch die lutherische, zu verschlingen droht. Nur die das volle Gesetz und das volle Evangelium richtig handhabende echte lutherische Theologie kann den antinomistischen und zugleich nomistischen Verrat des Evangeliums gerade bei Karl Barth auf der ganzen Linie strafen und überwinden. Dazu aber ist nötig, dass die ganze Schrift Alten wie Neuen Testaments nach Jesu Vorbild, Matth. 5,18; Joh. 17,20, als das unverbrüchliche Gotteswort anerkannt wird. Ein Luthertum, das sich hinreißen ließe, die unlösbare Verbindung zwischen dem Alten und Neuen Testament schließlich den orthodoxeren unter den heutigen Reformierten zu überlassen, gäbe die Bibel, gäbe sich selbst auf. Das sei besonders mit der Adresse nach Norden gesagt. – Auch bei Elert hat die Lutherforschung Fortschritte gezeitigt – für ihn und für uns. Das neueste große Werk, „Das Christliche Ethos. Grundlinien der lutherischen Ethik“ (Furche-Verlag Tübingen, 1949),ist erheblich über die dogmatische Vorgängerin, „Der Christliche Glaube“ (Berlin, 1941), an Glaubenstiefe hinausgewachsen. Dies gilt besonders vom Zentralthema „Gesetz und Evangelium“. Vieles an diesem Werk gehört zu dem Besten, das in diesem Jahrhundert erschienen ist. Die Verbindung mit Luther ist oft ein Zusammengewachsensein, besonders da, wo es gilt, die von keiner Bindung abhängige freie Gnade in Christo zu rühmen. Wenn nur das, was es Christus gekostet hat, die „Köste“, wie Luther sagt, mehr hervorleuchtete! Elert kann sich selbst und uns allen keinen größeren Dienst tun, als wenn er die irreführenden Linien, die unsere nicht wegzudisputierende Zitatenreihe in den zwei kurzen Artikeln nachwies und die sich auch im „Christlichen Ethos“ finden (manchmal sogar in identischer Form, wenn auch meist besser geschützt) tilgt, und statt dessen die fast in jedem Fall bei ihm vorhandene schriftgemäße symbolgerechte Stellung zum Siege führt. Es handelt sich nicht um begriffliche Spannungen, sondern um verschiedene Ausgangspunkte. Wenn keine gesetzesflüchtigen Nebentöne mehr stören, kann auch das so nötige Wort gegen „heilige“ Politik, „heilige“ Kriege, Politik in der Kirche, gegen Weltkirchentum und seine Ausgleichstheologie in wahrer Vollmacht gesagt werden, was Elert an sich zum Teil trefflich gelingt und was man besonders in angelsächsischen Ländern hören sollte. Denn dort fälscht die calvinische Irrlehre und Heuchelei den harten, wirklich nur äußerlichen, vergeltenden bürgerlichen Brauch des Gesetzes (civilis) beständig um in (nicht ernst genommene, theokratisch missdeutete) „Bergpredigt“ und nennt das noch obendrein das „Evangelium“. Wir Lutheraner müssen das ganze Schwergewicht auf die Lehre von der Buße legen. Wir dürfen das Gesetz an keiner Stelle kürzen, müssen es aber als Vollgesetz ganz in seiner untergeordneten Stellung gegenüber der noch viel größeren, ganz freien Gnade halten, um den in der römischen und calvinischen Welt Gefangenen und Betrogenen die wahre Hilfe und Rettung bringen zu können. – Am Rande bemerkt, nichts kann ernüchternder wirken, als dass der ausgesprochen reformierte Nomist Karl Barth – Antinomist ist, dass er direkte Gesetzesoffenbarung Gottes nicht gelten lassen will, dass er das „Gesetz“ aus dem „Evangelium“ gewinnen will.

    Wir schließen auch die Nachbemerkung mit Luther.

    In der 3. Disputation wider die Antinomer heißt es:

Satz 32: Denn er selbst führt Math. 5,17 ff. nicht allein das Gesetz Moses an, sondern legt es auch vollkömmlich aus; und lehrt, dass es nicht aufgelöst werden solle.

Satz 33: Und da er den Pharisäer von dem vornehmsten und größten Gebote des Gesetzes unterweist, bestätigt er das Gesetz und spricht: „Tue das, so wirst du leben.“ (Luk. 10,28)

Satz 36: Nämlich die elenden Leute schämen sich, dass zu lehren und zu tun, was der HERR selbst getan und gelehrt hat.

    Die 2. Disputation sagt in

Satz 27: Und weil Gottes Gesetz unsern Gehorsam gegen Gott fordert, heben diese Gesetzesstürmer auch den Gehorsam gegen Gott auf.

    Die 4. Disputation schließt mit den Sätzen:

Satz 37: Wahr ist es, dass nach der Rechtfertigung gute Werke freiwillig folgen ohne Gesetz, das ist, ohne Hilfe noch auch Zwang des Gesetzes.

Satz 38: Summa, das Gesetz ist nicht nütz noch vonnöten zur Rechtfertigung, noch zu irgendwelchen guten Werken, viel weniger zur Seligkeit;

Satz 39: Sondern umgekehrt: Die Rechtfertigung, gute Werke und Seligkeit sind nötig zur Erfüllung des Gesetzes.

Satz 40: Denn „Christus ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, das verloren war.“ (Luk. 19,10), und „alles wiederzubringen“, wie St. Petrus (Apg. 3,21) spricht.

Satz 41: Deshalb wird das Gesetz durch Christus nicht aufgehoben, sondern wieder aufgerichtet, auf dass Adam so werde, wie er gewesen ist, und sogar noch besser. (WA 39 I,347 ff.; E.A. v.a. IV,427 ff.: lat. Text. – Walch 2 XX, 1632 ff.: obiger deutscher Text.)



I Der spätere Erlanger Professor Werner Elert, der auch wegen seiner Haltung während der Hitlerzeit nicht unumstritten ist, weil er, ohne wirklich dem Nationalsozialismus zu huldigen, mit dem „Ansbacher Ratschlag“ die Herrschaft Hitlers, auch über die Kirche, durch eine falsche, überzogene Anwendung der natürlichen Theologie legitimierte und dadurch den Bekenntniskampf erschwerte und mit einem Gutachten, zusammen mit Althaus, den Arierparagraphen für die Kirche rechtfertigte, soweit es um das Amt der Kirche ging. Andererseits hat er sich strikt dagegen gewandt, Judenchristen aus der Kirche auszuschließen. Elert war kein Antisemit und hat wohl auch politisch und rassisch inkrimierte Theologiestudenten geschützt. (Paul Althaus, der den Ansbacher Ratschlag zunächst auch unterschrieben hatte, distanzierte sich kurze Zeit später wieder davon.) Elert, der auch in der Lehre von der Schrift (Verbalinspiration, Irrtumslosigkeit) wie auch von der Schöpfung nicht die biblische Lehre vertrat, fiel besonders auf, dass er den dritten Gebrauch des Gesetzes verwarf und mit seiner Theologie, die er auch in die Bad-Boll-Gespräche mit der Missouri-Synode nach dem zweiten Weltkrieg einbrachte, einer Reduzierung der Bedeutung aller Lehrartikel der Schrift das Wort redete, wobei vor allem die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und die Rechtfertigungslehre absolut dominieren, andere Lehrartikel dagegen zweitranging werden sollten, in ihnen auch Irrlehre zu dulden sei. Dies führte zu der Irrlehre des „Law-Gospel-Reductionism“ und war neben dem „Statement der 44“ im Jahr 1945 eine Mitursache für den geistlich-theologischen Niedergang der Missouri-Synode in den 1950er und 1960er Jahren. Werner Elert kam ursprünglich aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche  Altpreußens (Altlutheraner) und war zunächst seit 1919 Direktor des Seminars der Altlutheraner in Breslau, bis er dann 1923 nach Erlangen berufen wurde (zunächst für Kirchengeschichte, seit 1932 für Systematische Theologie). Die Altlutheraner standen ja bis 1945 mit den sich lutherisch nennenden Landeskirchen in Kirchengemeinschaft.

    Elert, auch das muss, um seiner theologischen Tätigkeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, gesagt werden, hat gerade in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg sehr deutlich und klar gegen den Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts und die Synthese von Theologie und Umwelt Front gemacht und Gottes Gericht gegenüber der allgemeinen Kultur und Bildung proklamiert, wie es sich nicht zuletzt im Weltkrieg selbst zeigte. Es ging ihm darum, dass das Christentum aus der Verschlungenheit mit der Welt und ihrer Kultur gerettet wird (Der Kampf um das Christentum, S. 489). Bestimmend für Elerts Theologie ist, und der Ansatz ist an sich durchaus gut und richtig, die Unterscheidung zwischen dem Gesetz als dem richtenden Schuldspruch Gottes über den Menschen und dem Evangelium als dem Freispruch in Christus. Allerdings kommt in diesem so formulierten Ansatz auch schon die Verkürzung der Aufgabe des Gesetzes heraus, nämlich dass es nicht nur, was allerdings ja seine Hauptaufgabe ist, richtender Spiegel zu sein hat, sondern für den Christen dann auch noch Regel für sein Leben, steht doch der Christ, dem das Gesetz ins Herz geschrieben ist, diesem ganz anders gegenüber als der Nichtchrist. Gut hat Elert auch immer wieder herausgearbeitet, dass das Gerichtshandeln Gottes, gerade in den Schrecken des Krieges („Heimsuchungen“), oftmals das Wirken des Deus absconditus ist, des verborgenen Gottes. Es ging Elert, und das ist durchaus gut, um die Erfahrung von Sünde und Gericht einerseits und Gnade andererseits.

    Wichtig ist besonders Elerts Auseinandersetzung mit der Barth’schen Theologie, die ja gerade den Unterschied von Gesetz und Evangelium leugnet (siehe erste Barmer These) und der er die klare Unterscheidung von Gesetz und Evangelium entgegenstellt und auch Gottes Setzung der Schöpfungsordnungen, in denen Gott auch wirkt, als in seinem Reich zur Linken, und zwar gerade und durch das Gesetz. (Dass er dies Wirken allerdings hauptsächlich dem Deus absconditus zuschreibt, ist nicht biblisch.) Damit hat Elert im Unterschied zu Barth deutlich gemacht, wie alle Bereiche des menschlichen Lebens unter Gottes Regiment stehen, und hat nicht, wie Barth, viele Gebiete als theologisch nicht integrierbar den Atheisten überlassen. Elert ging es dabei auch um die Allgegenwart Gottes, der uns in allem begegnet, in jedem Ort, jedem Ereignis. Hier liegt allerdings auch die Problematik der Elert’schen Theologie, die dann auch dem NS-Regime meinte, eine theologische Weihe im Ansbacher Ratschlag geben zu müssen und in ihm eben nicht mehr die Welt erkannte, der die Gemeinde kritisch gegenüber zu stehen hat. In diesem Punkt war Barths radikale Front gegen die Welt konsequenter und biblischer. (vgl. dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Elert)

Dass die „Kirchenpolitik“ schon so kurz nach den Einigungssätzen (1947) darauf aus war, Irrlehre nicht mehr beim Namen zu nennen und sie damit stillschweigend zu dulden, zeigt, wie brüchig und auf tönernen Füßen stehend die „Einigung“ zwischen der Evangelisch-Lutherischen Freikirche und den Altlutheranern tatsächlich war. Sie hat auch in den folgenden Jahren, bis zum unseligen Zusammenschluss der verschiedenen lutherischen Freikirche in der BRD zur SELK 1971/72 immer wieder unter Beschuss gestanden, nicht zuletzt die Lehre von der Verbalinspiration und Irrtumslosigkeit der Schrift, die offen in der SELK überhaupt nicht vertreten wird, nur von einzelnen Pastoren; ebenso die Lehre von der Kirchengemeinschaft, denn die Altlutheraner und die „alte“ SELK tendierten immer zu enger Kooperation mit den (lutherischen) Landeskirchen und praktizieren inzwischen weiteste Union durch die Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), „ökumenische“ Gottesdienste, Bibelwochen, „gastweise“ Zulassung zum Abendmahl und vieles mehr. Auch waren die inzwischen bei etlichen offen zu Tage tretenden hochkirchlich-romanisierenden Tendenzen, etwa in der Lehre von den Schlüsseln, vom Predigtamt, von der Ordination, von der Absolution, von der Taufe, schon vor dem Zusammenschluss virulent. (Anm. d. Hrsg.)

1 Darüber hinaus spielt das oft verführerische Kampfesgesetz, dass man das gerade Gegenteil von dem, was der Gegner sagt, geltend macht, eine bedeutsame unbewusste Rolle. Weil die Reformierten einen falschen Tertius Usus Legis haben, weil sie mit demselben einerseits in den Raum des Civilis eindringen und den Staat „nach Gottes Wort“ regieren wollen, andererseits die Christen zu Gesetzesknechten machen, den neuen Menschen mit dem Gesetz treiben, das sie durch Zusätze erweitern, weil Melanchthon auch schon zur Theokratie neigte, darum liegt es nahe, sich gegen den Tertius Usus Legis überhaupt zu wenden, zumal Luther formell nur zwei Bräuche kennt.

2 An ein einheitliches fundamentum dividendi der Dreiteilung der „Gesetzesbräuche“ ist dabei nicht gedacht, wie der Inhalt des Artikels zeigt.

3 Auch im iudicium Dei, in der Judikatur Gottes, unter der das gefallene Menschengeschlecht von vornherein steht und die sich direkt und mit letzter Schärfe im Elenchticus ausdrückt, die aber auch hinter den harten Ordnungen des ersten Brauches steht (obschon diese die Welt vorläufig erhalten) – in dem allen tritt die Forderung Gottes zutage: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR euer Gott.“ (3. Mose 19,2; 1. Petr. 1,16). Forderung aber bedeutet immer – auch Legislatur. Gott sagt, was er fordert, sagt es im Gewissen, sagt es vor allem in der Schrift. Man könnte vielleicht in moderner Redewendung in einer Folge von drei Begriffen von „Kommandantur“ ausgehen, hinter der stets Legislatur steht und die den Sünder von vornherein als Judikatur trifft.

4 Dem neuen Menschen selbst schmilzt die Norm, der Wille Gottes, zusammen mit der Liebe Christi, der für ihn alles erfüllte, der da ruft: „Folge mir nach“, der durch den Glauben ihm das neue Wesen und den seligen hingebenden Dienst schenkt. Die evangelischen Ermahnungen werden von dem neuen Menschen (gleichsam mitsamt der darin enthaltenen Norm) als Evangelium gehört, vom alten aber (weil die Norm ihm heterogen ist) als Gesetz. Da aber das Evangelium nur Schenkewort ist, und der tertius non datur, kann man die Norn an sich nur als Gesetz definieren.

5 Dass die Theokratie, die besondere Kirchen- und Staatsform des alten Bundes, nun in Christus Jesus, auf dessen Kommen sie als vorauseilender Schatten hingewiesen hatte, hinfällig geworden ist, und dass insofern die Zeremonien und bürgerlichen Sondergesetze Israels als abgetane nicht zu diesem unwandelbaren Willen Gottes gehören, versteht sich dabei am Rande. Unter Vergleichung des Neuen Testaments sieht man, was im alttestamentlichen Gesetz theokratische Hülle war. Bereits die Augsburgische Konfession (Art. 28,43 ff.) und die Apologie (Art. 4,6) haben diese Abgrenzung der geltenden Gesetzesumfangs ausgesprochen. – In den beiden erwähnten Bekenntnisschriften findet sich auch schon mit stärkster Betonung der Nachweis, dass das Liebesgebot uns auf die Ordnungen und in den Ordnungen verpflichtet, die Gott geboten hat, und in denen Gott einem jeden seinen besonderen Beruf zuweist. Die Norm des Gesetzes umfasst auch den Dienst unter dem civilis, in dem sich Liebe erweisen muss – oft als „harte Liebe in relatione“ (vgl. C.A. 16; 20,1 ff. usw.). Die Lehre von den Ordnungen, auch die vom natürlichen Gesetz, ist bei Elert unübertrefflich, seine höchste Leistung (auch gerade im „Christlichen Ethos“, 1949).

6 Die Anmerkungen kamen in der mündlichen Rede nicht zur Verlesung. Sie waren vorbereitet, wurden aber mit Rücksicht auf die zur Verfügung stehende Zeit durch Betonung und durch daran sich anschließende pointierte Fragen ersetzt, die nicht im Konzept waren und nachträglich nicht reproduziert werden können.

7 Nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes findet sich sowohl Gottes totale Forderung als auch Gottes totale Verurteilung aller Menschen auf Erden im Gesetz des Alten Bundes klar ausgesprochen. Man vergleiche Römer 3,9-20 und beachte besonders Vers 16 f. Darin liegt, was sonderlich die bekannte Zusammenfassung des Gesetzes in dem Doppelgebot der Liebe unterstreicht, dass die richtige, eigentliche, bleibende Norm auch schon im Alten Testament offenbar wurde. Davon werden nicht nur die Zeremonien (vgl. auch Joh. 4,21 ff.) deutlich abgegrenzt, sondern auch die im Bereich jener Theokratie waltende lex politica (vgl. auch Matth. 5,38). – Erst recht müssen wir jetzt, nachdem Christus gekommen ist, eine auch heute noch geltende Sonderrolle des Gesetzes im Civilis (so beschaffen, dass harte Ordnungen mit einer um Christi willen der ganzen Welt noch gewährten zeitweiligen Verschonung und Erhaltung gekoppelt sind) aufs schärfste scheiden von dem Radikalgesetz, wie es der Elenchticus predigt. Mit letzterem deckt sich die totale Norm – also der Normativus (Normaticus, Didacticus), sofern man ihn als Brauch spezialisiert. Das ist damit ein Normativus oder Didacticus, der inhaltlich dieselben Radikalforderungen ausspricht wie der Elenchticus, - der auch jeder kleinsten Sünde und dem ganzen Sündersein aller Menschen gegenüber alsbald Elenchticus ist und bleibt, nur der Vergebung im Evangelium weichend. Ein solcher aus der Totalforderung nicht herausspringender, auch nie isolierter „Didacticus“ wird niemals einer heuchlerischen theokratischen Klerikalisierung des Weltreiches Gottes Vorschub leisten, den Mythen Roms und Genfs dienen. Hält man die Dinge (res) fest, so ist die bloße Lehrform unwichtig: Ob man dann zwei – drei – oder, ziemlich überflüssigerweise, vier – Bräuche des Gesetzes zählt, lohnt keinen Streit. Als hervorragendes Beispiel, wie Luther seine einfache Zählung von zwei Bräuchen vereinigt mit sämtlichen Anliegen von F.C. VI, vergleiche man den „Sermon von der Hauptsumma Gottes Gebots“ 1525 (WA 16,102 ff.; Walch 2, IX, 858 ff.; E.A. 51,276 ff.) besonders gegen Ende. (Gewisse Partien von F.C. VI schließen sich daran bis auf den Wortlaut an!)

8 Ferner verweisen wir auch noch auf Gal. 4,4.5; Röm. 7,7-14; 8,3 ff. und auf Luthers sechs Thesenreihen wider die Antinomer (WA 39 I,334 ff.; Walch 2, XX,1620 ff.; E.A. v.a. IV 420 ff.), die sich von den neueren Konstruktionen so völlig abheben, die mit dem Gesetzesbegriff der Konkordienformel so lückenlos übereinstimmen, dass nach sorgfältigem Vergleich die Konkordienformel nicht mehr umgedeutet, aber auch nicht mehr als irgendwie unlutherisch verkannt werden kann.

9 <Nachträglicher Zusatz, mit Wiederholungen.> Der Elenchticus dient dem Evangelium, wie vorher (im ersten Teil) bemerkt. „Den Armen“ – denen das Gesetz alle Gerechtigkeit abgesprochen hat – „wird das Evangelium gepredigt.“ Es spricht den Gottlosen, den Verdammten, um Christi willen frei, spricht ihm die Gotteskindschaft und das Gotteserbe umsonst zu, ist Geist und Leben. Es wirkt bei dem, der es im Glauben annimmt, eine ganz neue Einstellung nicht nur gegen Gott, sondern auch gegen den Mitbruder, den Nächsten, die Menschenwelt – Agape (Gal. 5,6)! Es versetzt in das Reich Christi, in dem es ganz anders zugeht als im Reich zur Linken, als im Gefüge der für die Bösen berechneten Ordnungen, als unter der Obrigkeit (Matth. 18-20). Es ist der aion mellon, der hier schon anbricht, eine Welt, wenn man sich so ausdrücken darf, ohne Civilis und ohne Elenchticus, der vollendete Ausdruck der Agape Gottes in Christo. Als neue Schöpfung haben wir nicht einmal eine Norm extra nos nötig, weil sie durch den Heiligen Geist in uns verkörpert ist, nachdem sie von Christo für uns, an unserer Statt, erfüllt wurde, welche Erfüllung uns gegen jede Forderung schützt. Dem Gläubigen, sagt Luther, kann man gute Werke nicht gebieten, denn er tut alles schon zuvor aus Liebe; jedes Gebot und Verbot kommt zu spät, bleibt ohne Adresse. Aber gerade diese Haltung, die allein aus dem Glauben fließt, ist es, die das Gesetz eigentlich wollte, durch die der nomos pneumatikos innerlich in den Herzen aufgerichtet wird, Röm. 3,21; 2,26 ff.; 8,3 ff.; Jer. 31,31-34; Hebr. 8,10. Lex praescribit, evangelium inscribit [Das Gesetz schreibt vor, das Evangelium schreibt ein [ins Herz].] – Weil wir aber nicht nur Geist, sondern auch Fleisch sind, der unheimlichsten Verführung Tag und Nacht von innen und von außen ausgesetzt, so muss mit dem eingeschriebenen Gesetz auch das vorgeschriebene beständig verkoppelt sein, damit das Fleisch in Schranken gehalten und die Lüge entlarvt werde. Nehmen wir als das einfachste Beispiel, das, was Gottes Wort über das geschlechtliche Leben, über die Ehe sagt. Wo blieben wir, wo bliebe die christliche Gemeinde ohne diese Norm? Vor allem, wie könnte man ohne sie auch nur innerhalb der Gemeinde die Sünde konkret strafen? Nehmen wir ein anderes Beispiel, den Begriff der Adiaphora, die an sich weder geboten noch verboten, sondern nach der Liebe zu entscheiden sind. Wie kann die Grenze dieses Begriffes gegenüber dem, was stets verboten ist, aufrecht erhalten werden, und die Gemeinde vor Pietismus bzw. Libertinismus bewahrt werden ohne normatives Gesetz? Die Gemeinde kann nichts anfangen mit dem dialektischen Spiel, das die Norm abwechselnd setzt und bekämpft. Gerade so – unter ernstester Handhabung des Gesetzes auch im Heiligungskampf – bleibt man evangelisch, verfällt man nicht dem Pietismus und nicht der Zuchtlosigkeit, die beide gesetzlich sind, herrscht nicht das „Du sollst“, sondern die wahre Buße, der wahre Glaube, die wahre Liebe, der Heilige Geist. Den Erweis kann nur die rechte Praxis von Gesetz und Evangelium in der christlichen Gemeinde bringen. Die Not ist z.T. die, dass das Studium von Gesetz und Evangelium sich auf dem volkskirchlichen Hintergrund zu sehr in weltanschauliche Auseinandersetzungen verwickelte, wie E. Kinder in „Gottes Gebote und Gottes Gnade im Wort vom Kreuz“ (München, 1949) klagt. Wie nahe bleibt dagegen der größte Vertreter der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in den letzten beiden Jahrhunderten, Dr. C.F.W. Walther, der Gewissenspredigt, der Praxis, dem Entscheidungsort, der Gemeinde! Diese überwindet auch allein den Nomismus, sei’s rechts, sei’s links. Die Verheißung: „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ gilt der von Christus selbst auf das Bekenntnis gebauten Ekklesia. Den Gemeindeweg haben wir unserer aus den Fugen geratenen und zerrissenen Zeit durch Gesetz und Evangelium zu weisen. Er ist der unserer Symbole.