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314–379
Minuten
Luthers Theologie in Grundzügen
Dargelegt in Anlehnung an Kurt Dietrich Schmidt und Bengt Hägglund
Von Roland Sckerl
Inhaltsverzeichnis
3. Luthers Geschichtsverständnis
5. Die Lehre vom Heiligen Geist
6. Der dreieinige Gott (Trinität)
7. Das Verständnis des Menschen (Anthropologie)
9. Gottes Erlösungswerk am Menschen
A) Die Buße oder Sinnesänderung
Die Rechtfertigung des Sünders – allein Gottes Werk aus Gnaden
Gerechtfertigt allein durch Christi Verdienst für uns
Gerechtfertigt allein mittels des Glaubens
Der Gottesdienst der um Wort und Sakrament versammelten Gemeinde
Religionsfreiheit und Toleranz bei Luther
11. Das Leben im neuen Gehorsam
Das Widerstandsrecht bei Luther
12. Die Lehre von den letzten Dingen (Eschatologie) bei Luther
Luthers Theologie ist nicht zuletzt eine Theologie der biblischen Begriffe, ja, überhaupt eine Theologie des Wortes. Sehr deutlich wird das in seiner Vorrede zum Römerbrief, die vor allem eine Erklärung der grundlegenden biblischen Begriffe des christlichen Glaubens ist.[1] Das ist wichtig, denn Luther geht auf die Schrift selbst zurück und legt sie direkt aus, ohne Rückgriff auf den von Aristoteles geprägten Sprachschatz der Scholastik.[2] Das ist genuin biblische Theologie.
Dabei steht im Zentrum der Heiligen Schrift die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden, allein um Christi Verdienst willen, allein durch den Glauben, durch die allein die Schrift recht aufgeschlossen wird, wie Luther selbst es erfahren hatte.[3]
Luther hat dabei unbedingt festgehalten an der Wörterinspiration der gesamten Heiligen Schrift durch den Heiligen Geist, was sich auch darin zeigt, wie sehr er auf der Ausdrucksweise der Schrift in ihrem Verständnis beharrt hat, denn sie ist das Schrift gewordene Wort Gottes.[4] Dem widersprechen nicht Luthers kritische Anmerkungen zum Jakobusbrief, vor allem in der Vorrede von 1522. Es ist zu beachten, dass Luther sich in der Haltung zu den kanonischen Büchern an die Alte Kirche anschloss, die zwischen den unumstrittenen (Homologumena) und den zeitweilig von einigen angezweifelten (Antilegomena) Schriften unterschied. Zu letzteren zählten der zweite Petrusbrief, der zweite und dritte Johannesbrief, der Hebräer-, Jakobus- und Judasbrief sowie die Offenbarung. Nur hinsichtlich dieser Gruppe von Schriften hat Luther solch kritische Äußerungen gemacht, hat sich auch nicht tiefer in sie hineingearbeitet. Man kann daraus also keinesfalls Ansätze zu einer Bibelkritik bei Luther ableiten.
Jesus Christus selbst ist die Mitte der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments, d.h. auch das Alte Testament spricht direkt von Christus, nicht nur typologisch[5]. „Also weist und zeigt die ganze Heilige Schrift vom Anfang bis zum Ende auf Christus und schweigt aller andern Heiligen in diesem Stück, dabei Gnade und Wahrheit zu finden und zu suchen sei. Soll sie nun jemand erlangen, so muss es Seine Fülle tun; unsere Brocken, Partecken und Tröpflein oder Stöcklein werden‘s nicht tun.“[6] Darum, weil die Schrift Gottes Wort ist, Gott selbst zu uns redet, und gerade in Christus sich besonders offenbart hat, ist die einzige angemessene Haltung der Schrift gegenüber die des Glaubens, nämlich sie im Glauben anzunehmen, gleichgültig, was das Wort sagt, gleichgültig, wie die Vernunft sich dazu stellt. Denn die Vernunft kann ja allerdings nicht die Tiefen der Gottheit erkennen (1. Kor. 2,14), die muss Gott durch seinen Geist im Wort uns selbst erschließen (1. Kor. 2,11).[7]
Die Heilige Schrift, weil sie Gottes Wort ist, ist daher für Luther die einzige Autorität in der Kirche (SOLA SCRIPTURA), aus der allein die Kirche ihre Lehre zu ziehen hat. Keine andere Größe kann entsprechende Aussagen über Gott machen, es gibt keine weiteren Offenbarungsquellen, wie etwa apostolische Tradition, kirchliche Tradition, Wissenschaft, Gefühl, Vernunft, Zeitgeist. Denn all das wäre ein Eingriff in Gottes Majestätsrechte und daher Gotteslästerung.[8] Sehr deutlich wird das schon in seinem Buch „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“, in dem er sich mit dem römischen Sakramentsverständnis auseinandersetzte und gegen Tradition und menschliche Lehre auf die Worte der Heiligen Schrift im Blick auf die Sakramente pochte, beim Abendmahl auf die Einsetzungsworte Christi, die allein angeben, was das Abendmahl ist und wir darin empfangen. Daher bekennt er auch in den Schmalkaldischen Artikeln: „Es gilt nicht, dass man aus der heiligen Väter Werk oder Wort Artikel des Glaubens macht, sonst müsste auch ein Artikel des Glaubens werden, was sie für Speise, Kleider, Häuser usw. gehabt hätten, wie man mit dem Heiligtum getan hat. Es heißt, Gottes Wort soll Artikel des Glaubens stellen und sonst niemand, auch kein Engel.“ (Teil II, Art. II,15.) In seiner Schrift „Vom Missbrauch der Messe“ hatte er schon 1522 geschrieben: „So ist’s ja auch menschlicher Vernunft, ich geschweige der göttlichen Schrift, entgegen, dass man einen Artikel des Glaubens auf Menschenträume gründen und bauen will. Denn die heiligen Sakramente und Artikel des Glaubens sollen und wollen allein durch göttliche Schrift gegründet und bewährt werden; wie denn Mose im 5. Buch überflüssig bezeugt.... Ich habe gesagt, man fragt nicht, wie die Heiligen gelebt und geschrieben haben, sondern wie die Schrift anzeigt, dass wir leben sollen.“[9]
Die Bedeutung des Wortes Gottes zeigt sich vor allem darin, dass Gott nie anders mit uns verkehrt als durch das Wort. Und das heißt für den Glauben wie auch für die Kirche: Gottes Wort, nicht das Sakrament, steht im Zentrum.[10] Und das hat Folgen: a) Der Gläubige hat durch das Wort ein bewusstes Verhältnis zu Gott (im Unterschied zum römischen Sakramentalismus und zur Mystik), das sich in Anfechtung, Verzweiflung, Buße, Glauben, Gebet, Liebe zeigt. Die Verkündigung ist daher DIE kirchliche Tätigkeit. b) Dieses bewusste Gottesverhältnis führt auch zu einer persönlichen Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen, in der Gott durch sein Wort mit uns verkehrt. c) Gottes Wort wendet sich dabei zuerst und vor allem an das Gewissen, nicht an das Gefühl oder den Verstand, und will so durch Sündenerkenntnis und Trost des Evangeliums an uns arbeiten, uns verändern, eine biblische Sittlichkeit hervorbringen.[11] d) Dabei besagt schon der Begriff „Wort Gottes“, dass die Gemeinschaft nicht von uns Menschen ausgeht, auch gar nicht ausgehen kann, sondern dass sie von Gott ausgeht, dass er, durch sein Wort und kulminierend in Christus, zu uns kommt, uns anspricht und so, und nur so, Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch entsteht.[12] e) Dieses Wort Gottes aber ist kein leeres Wort, keine bloße Information, sondern ist dynamis, ist eine Kraft (Joh. 6,63), weil Gott selbst darin wirkend gegenwärtig ist. Darum kommt es auch nicht leer zurück, sondern wirkt, wozu Gott es gesandt hat (Jes. 55,11).[13]
Weil allein die Heilige Schrift Gottes Offenbarung ist, darum kann es auch keine Instanz in dieser Welt geben, die sich das Recht anmaßt, die Auslegung festzulegen, denn sonst würde eine fremde Größe, etwa die Kirche, der Papst, die Bischöfe, eine Synode, ein Konzil, Herr über die Schrift. Vielmehr gilt für die Auslegung: Die Schrift legt sich selbst aus. Das heißt: a) Jedes Schriftstück ist aus seinem eigenen Zusammenhang zu erklären. b) Nur der buchstäbliche Sinn ist der rechte Sinn; dabei ist der historische Zusammenhang zu beachten. Den vierfachen Schriftsinn, wie er in der Scholastik propagiert wurde, lehnte Luther entschieden ab. Die Schrift ist grammatisch-historisch zu verstehen. c) Entscheidend ist, dass der Kern der Schrift beachtet wird. Erst dem nachgeordnet ist die Kenntnis der Sprachen von hoher Bedeutung.[14] Bei Rom entscheidet die Kirche, letztlich der Papst, was nach der Schrift – und weiteren Quellen (Tradition) – die Norm für die Kirche und ihre Lehre ist. Tatsächlich aber legt allein die Schrift die Norm fest, ja, sie ist die Norm der Lehre der Kirche, ist norma normans, normierende Norm, denn Gottes Wort ist nicht dunkel, zweifelhaft, sondern klar.[15]
Gottes Wort ist ein gewaltiges, ein schöpferisches Wort, nicht nur Erkenntnisquelle, durch das Gott der Vater, durch den Sohn, das Wort und den Werkmeister der Schöpfung (Spr. 8,30), und den Geist seines Mundes (Ps. 33,6) alles erschaffen hat und noch erhält. „Gott der Vater hat das Geschöpf aller Kreatur durch sein Wort angefangen und vollbracht, und erhält es auch noch für und für durch dasselbe, bleibt so lange bei seinem Werk, dass er schafft, so lange bis er will, dass es nimmer sein soll. … Wenn Gott seine Hand gehen ließe und abzöge, so würde Haus und alles gar bald in einem Haufen fallen. Aller Engel und Menschen Gewalt und Weisheit vermöchten sie nicht in ihrem Wesen einen Augenblick zu erhalten; die Sonne würde nicht lange am Himmel haften und leuchten; kein Kind würde geboren; kein Körnlein, Gräslein noch sonst etwas würde wachsen aus der Erde, noch sich erneuern, wo Gott nicht für und für wirkt. Täte der Schöpfer, der immerdar wirkt, ebenso sein Mitwirker, die Hand ab, so ging alles gar bald zu scheitern und zu Trümmern. Darum bekennen wir in den Artikeln unsers christlichen Glaubens: Ich glaube an Gott den Vater, Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden. Wenn er uns, die er geschaffen hat, nicht erhielte, so wären wir vorlängst, ja wohl in der Wiege und in der Geburt verdorben und gestorben.“[16]
Dieses Wort ist auch kraftvoll, schöpferisch gerade im Hinblick auf das Heilswerk des HERRN an uns Menschen. Auch das hat Luther betont. Gottes Wort wirkt Sündenerkenntnis, Verdorbenheitserkenntnis und damit Buße, Sinnesänderung und schließlich den rettenden Glauben an Jesus Christus. Dazu aber ist es notwendig, dass Gesetz und Evangelium klar unterschieden werden, ein wichtiger Schlüssel zum rechten Verständnis der Heiligen Schrift und zur rechten Verkündigung. „Hier ist zu wissen, dass die ganze Heilige Schrift wird in zweierlei Wort geteilt, welche sind Gebot oder Gesetz Gottes und Verheißung oder Zusagung. Die Gebote lehren und schreiben uns vor mancherlei gute Werke; aber damit sind sie noch nicht geschehen. Sie weisen wohl, sie helfen aber nicht; lehren, was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu geordnet, dass der Mensch darinnen sehe sein Unvermögen zu dem Guten und lerne an sich selbst zweifeln. Und darum heißen sie auch das Alte Testament und gehören alle ins Alte Testament. Wie das Gebot: ‚Du sollst nicht böse Begierde haben‘, beweist, dass wir allesamt Sünder sind und kein Mensch vermag zu sein ohne böse Begierde, er tue, was er will; daraus er lernt an sich selbst verzagen und anderswo zu suchen Hilfe, dass er ohne böse Begierde sei und so das Gebot erfülle durch einen andern, das er aus sich selbst nicht vermag. So sind auch alle anderen Gebote uns unmöglich.
Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein Unvermögen gelernt und empfunden hat, dass ihm nun Angst wird, wie er dem Gebot genug tue (das das Gebot muss erfüllt sein oder er muss verdammt sein), so ist er recht gedemütigt und zunichte geworden in seinen Augen, findet nichts in sich, damit er könne fromm werden. Dann, so kommt das andere Wort, die göttliche Verheißung und Zusagung, und spricht: Willst du alle Gebote erfüllen, deiner bösen Begierde und Sünde los werd ,wie die Gebote zwingen und fordern, siehe, da glaub an Christus, in welchem ich dir zusage alle Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit, glaubst du, so hast du; glaubst du nicht, so hast du nicht. Denn ich habe kurz in den Glauben gestellt alle Dinge, dass, wer ihn hat, soll alle Dinge haben und selig sein; wer ihn nicht hat, soll nichts haben.“[17]
Die Schrift kann aber nur durch den Glauben recht verstanden werden, denn sie ist nicht eine Ansammlung von Anweisungen, gesetzlichen Vorschriften, sondern in ihrem Kern Evangelium, ruft zum Glauben, wirkt den Glauben und als seine Frucht den Gehorsam des Glaubens auch im Leben. Das führt zum inneren Verständnis der Bibel durch die Anwendung im Glauben. Der bezieht sich direkt auf das Wort, nicht, wie die Scholastik propagierte, auf eine metaphysische Wirklichkeit dahinter.[18]
Um die Heilige Schrift Gottes recht zu verstehen, müssen Gesetz und Evangelium klar unterschieden werden. Dies ist eine der Grundlagen der Theologie Martin Luthers. Dabei geht es für uns heute nicht mehr um das mosaische Gesetz, das für Israel im Alten Bund galt, in Christus aber zum Ende gekommen ist, sondern um das natürliche oder Moralgesetz, das für alle Zeiten gilt, auch für die Christen. Christus hat für uns das gesamte Gesetz, auch das mosaische, erfüllt.[19]
Beide, Gesetz und Evangelium müssen gepredigt werden. Denn das Gesetz soll den Sünder von seiner Sünde überführen, ihm seine Verdorbenheit aufzeigen und so schließlich ein geängstetes und zerschlagenes Herz bewirken. Es zielt auf das Gewissen und will so zu Christus, dem Heiland, treiben (Röm. 3,20; Gal. 3,19.24). Das Gesetz gibt dabei an, was wir tun sollen und droht bei Nichtbefolgen Strafe an. So soll das Gesetz das Böse verhindern, das Gute fördern und anzeigen, was die guten Werke sind, die Gott haben will (für den Christen). Aber die Hauptaufgabe des Gesetzes ist das Wirken der Sünden- und Verdorbenheitserkenntnis.[20]
Das Evangelium dagegen fordert nicht, sondern schenkt die Vergebung der Sünden um Christi willen aus lauter Gnade frei umsonst und wirkt so das herzliche Vertrauen, den rechten Glauben an Jesus Christus, richtet den Sünder auf und bewegt ihn als Frucht des Glaubens dann auch zur Hingabe an seinen Retter und zu den guten Werken, die Gott haben will, und zwar nicht aus einer Haltung des Zwangs oder der Pflichterfüllung, sondern aus rechter Gottes- und Nächstenliebe aufgrund des Liebesgebotes Gottes.[21]
Luther hebt deutlich hervor, dass alle Gotteserkenntnis nur durch Jesus Christus möglich ist. Damit bekräftigt er nur das, was Christus selbst seinen Jüngern in seinen Abschiedsreden gesagt hat: „Wenn ich mich kenntet, so kenntet ihr auch den Vater. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. … Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ (Joh. 14,7.9b.)
Gott, das hebt der Reformator hervor, ist lebendiger Wille, weist sich aus durch ein Wirken, Tun ohne Ende, d.h. er hört nicht auf zu wirken. Gott ist aber vor allem auch allmächtig. Und das heißt: Es gibt für Gottes Wirken keine Grenzen, keine Schranken. Alles wird von ihm erschaffen und auch erhalten. Es geschieht alles nur, weil Gott es will. Er ist allmächtig, allgegenwärtig, allein wirksam.[22] Es kann nichts geschehen, was Gott nicht will.[23] Es geschieht alles notwendig, weil Gott es so will. „So steht gar fest und bleibt unüberwindlich der Satz, dass alles aus Notwendigkeit geschieht. Und hier gibt es kein Dunkel oder Rätsel. Bei Jesaja spricht der Herr: ‚Mein Anschlag wird bestehen und mein Wille wird geschehen.’ (Jes. 46,10)“[24]
Das aber hat weitreichende Folgen. Zuerst und vor allem, wie Luther es schon bei der Heidelberger Disputation 1518 dargelegt hat, dann ausführlich in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus (Vom unfreien Willen), dass der Mensch keinen freien Willen hat. Kein Mensch kann irgendetwas zu seiner Seligkeit beitragen. Er kann letztlich nur widerstreben. Gott allein ist es, der aus dem Nichtwollenden einen Wollenden macht.[25] Hier stoßen wir allerdings auch an Grenzen. Denn wenn Gott allmächtig ist, wenn der Mensch nichts tun und wollen kann ohne Gott, so ergibt sich die Frage, warum dann doch Menschen verloren gehen, obwohl doch Gott will, dass alle Menschen gerettet werden (1. Tim. 2,4). Hier können wir nicht weiter gehen, als die der Heilige Geist selbst es in der Bibel sagt: „Israel, du bringst dich in Unglück; dass du gerettet wirst, ist lauter meine Gnade.“ (Hos. 13,9.) Also: Wer verloren geht, der geht aus eigener Schuld verloren; wer gerettet wird, wird allein aus Gottes Gnade gerettet. Das letzte Warum können wir in dieser Welt nicht lösen. Da haben wir es mit dem Deus absconditus zu tun, dem verborgenen Gott. Über den können wir aber nichts sagen; um den sollen wir uns auch weiter nicht kümmern. Gott hat uns an Christus und sein Wort verwiesen. Darum sollen wir uns allein an den offenbarten Gott halten, wie er uns in dem ins Fleisch gekommenen und gekreuzigten Christus begegnet. Denn hier, in Christus, lernen wir ihn wirklich kennen, als den, der nicht den Tod, sondern das Leben des Sünders will. Da wird deutlich: Gottes Wille des Sünder gegenüber ist Liebe schlechthin. In Christus offenbart sich Gott als der völlig frei Schenkende. So erkennen wir ihn übrigens auch schon in der Schöpfung.[26] Über den verborgenen und nur in Christus uns offenbaren Gott schreibt der Reformator: „Über Gott, sofern er nicht offenbart ist, gibt es weder Glauben noch Wissenschaft noch Kenntnis, und muss man sich hier daran halten, dass gesagt ist: Was über uns ist, geht uns nichts an. Solcherweise nämlich sind Erkenntnisse, welche über und außerhalb der Offenbarung Gottes etwas allzu hoch ausspüren, gänzlich des Teufels. Sie nützen zu nichts mehr, als dass sie uns in das Verderben stürzen, weil sie sich um einen unerforschlichen Gegenstand bemühen, nämlich um den nichtoffenbarten Gott. Wenn Gott seine Beschlüsse und Geheimnisse im Verborgenen zurückhält, warum bemühen wir uns so sehr, sie uns offenbar zu machen? Gott hat von Anfang an alsbald dieser Neugier entgegenstehen wollen. So nämlich hat er seinen Willen und Beschluss sich gesetzt:
Ich werde aus einem nicht offenbaren Gott zu einem offenbaren Gott werden und werde dennoch der gleiche Gott bleiben. Ich werde Fleisch werden und dir meinen Sohn senden, dieser wird für deine Sünden sterben und von den Toten auferstehen. Und so werde ich dein Sehnen erfüllen, dass du wissen könntest, ob du prädestiniert bist oder nicht. Siehe hier meinen Sohn, diesen höre, diesen schaue an, wie er in der Krippe liegt, im Schoß der Mutter, wie er am Kreuz hängt. Siehe zu, was er tut und was er sagt. Dort kannst du mich sicher greifen. Wenn du Christus hörst und auf seinen Namen getauft wirst und sein Wort lieb hast, dann bist du sicher prädestiniert und deines Heils gewiss.“[27] Wir müssen bedenken: Gott ist Gott, ist die ewige Majestät, der allein Unsterblichkeit hat und wohnt in einem Licht, da niemand zukommen kann (1. Tim. 6,16) und daher für uns immer auch unerforschlich und unbegreiflich bleiben wird. Da können wir ihn nur mit Furcht und Zittern anbeten. Wir selbst aber sollen uns, um Gott zu erkennen, an das Christus und sein Wort halten, denn da hat er sich uns offenbart, da will er erkannt, geglaubt, erfasst werden. „Dieser heimliche Wille ist nicht zu erforschen, sondern mit Furcht und Zittern anzubeten als eine tiefe, heilige Heimlichkeit der hohen Majestät, die er sich allein behalten hat.
So müssen wir nun Gott in seiner Majestät und Natur in seinem heimlichen Willen unerforscht lassen. Denn da haben wir nichts mit ihm zu schaffen; er will auch nicht, dass wir sollen mit ihm zu schaffen haben. Es tut Gott vieles, das er uns durch sein Wort nicht zeigt. Er will auch vieles, da er uns durch das Wort nicht zeigt, dass er es will. Nun sollen wir das Wort ansehen und den unerforschlichen Willen stehen lassen, davon uns nichts befohlen ist. Denn wir müssen uns nach dem Wort regieren, nicht nach dem unerforschlichen Willen. Man soll sich hier nicht kümmern zu erforschen die hohen, großen, heiligen Heimlichkeiten der Majestät, welche doch wohnt in einem Licht, da niemand zukommen kann, wie Paulus sagt (1. Tim. 6). Wir sollen uns halten an Gott, da er uns zu sich lässt, der Mensch geworden ist, an Jesus Christus, den Gekreuzigten, wie Paulus sagt, in welchem alle Schätze der Weisheit Gottes verborgen sind. Den durch ihn haben wir reichlich, was wir wissen und was wir nicht wissen sollen.“[28]
Was aber erkennen wir von Gott, wenn wir Christus ansehen? Neben seiner Heiligkeit und Zorn, die die Sünde nicht ungestraft lassen können, aber vor allem das wahre Herz Gottes zu uns, sein Erbarmen und seine Liebe. „Hieraus ist offenbar, dass die Lehre des Evangeliums, die allerlieblichste Lehre und die so überaus voll ist des reichsten Trostes, nicht predige von unseren oder des Gesetzes Werken, sondern von der unbegreiflichen und unaussprechlichen Barmherzigkeit und Liebe Gottes gegen uns unwürdige und verlorene Menschen, nämlich, dass der barmherzige Vater, da er sah, dass wir durch den Fluch des Gesetzes unterdrückt und so darunter gehalten würden, dass wir uns selbst mit unseren Kräften niemals daraus hätten befreien können, seinen eingebornen Sohn in die Welt gesandt und alle Sünden aller Menschen auf ihn gelegt habe und gesagt: Du sollst Petrus sein, der da verleugnet hat; Paulus, der da verfolgt, gelästert und Gewalt geübt hat; David, der die Ehe gebrochen hat; der Sünder, der den Apfel im Paradies gegessene hat; der Schächer am Kreuz: Kurz, du sollst die Person sein, die alle Sünden aller Menschen getan hat; gedenke also, dass du bezahlst und für genugtust.
Da kommt das Gesetz und spricht: Ich finde ihn als einen Sünder, und zwar einen solchen, der die Sünden aller Menschen auf sich genommen hat, und ich sehe außerdem keine Sünde als allein auf ihn, darum soll er am Kreuze sterben; und so greift es ihn an und tötet ihn.
Da dies geschehen ist, ist die ganze Welt von allen Sünden gereinigt und gesühnt, also auch befreit vom Tode und von allem Übel.“[29]
Gottes Alleinwirksamkeit hebt die Verantwortung des Menschen nicht auf. Hier liegt vielmehr die Spannung oder Antinomie, dass wir einerseits mit der Schrift bekennen, dass Gott der allein Wirkende ist, vor allem unser Heil allein sein Werk ist, ohne jegliches menschliche Mittun, andererseits aber der Mensch, wenn er verloren geht, dafür selbst verantwortlich ist. Ebenso ist der Mensch vor Gott verantwortlich für all sein Tun und Lassen.[30]
Diese Spannung zeigt sich auch in der Lehre von der Prädestination oder Gnadenwahl. Aus der Bibel wissen wir, dass Gott alles wirkt mit unabänderlicher Notwendigkeit und dass die Gnadenwahl, das ist, Gottes Wahl in Christus vor der Zeit der Welt zur Errettung von Menschen durch den Glauben an Christus, die Ursache unseres Heils, unserer Erlösung ist, denn der natürliche Mensch ist völlig unfrei, unfähig, irgendetwas zu seinem Heil beizutragen. Weiter aber dürfen wir gemäß der Schrift nicht gehen. Wir können und dürfen Gott keine Verantwortung dafür geben, dass damit diejenigen, die er nicht erwählt hat, für immer verloren sind – und das, obwohl doch Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1. Tim. 2,4). Das ist aber, wie gesagt, nicht Gottes Schuld, sondern liegt in der Verantwortung der Menschen, die verloren gehen. Darüber können wir nicht hinausgehen. Da bekommen wir es wieder mit dem Deus absconditus zu tun.[31] Vielmehr soll ja die Lehre von der Prädestination oder Gnadenwahl dazu dienen, uns unseres Heils gewiss zu machen und zu verdeutlichen, dass wir selbst nichts zu unserer Errettung beitragen können. „Damit ist ja nun rein abgeschnitten und verdammt alle Vermessenheit der falschen heiligen wider Gott, dass sie so viel tun und verdienen wollen, dass sie Gott versöhnen und zum Freund machen. Denn was tun solche anders, als dass sie die Wahl anfangen und wollen die Ersten sein, dass ihr Verdienst vorgehe und seine Gnade hernach getrollt komme; und nicht er sei, der uns erwählt, sondern wir ihn suchen und uns zum Freund machen wollen, dass wir rühmen können, er habe Guts von uns empfangen. So tut alle Welt, durch ihre vorgehenden Werke Gottes Gnade zu verdienen. Aber es heißt: ‚Ihr habt mich nicht erwählt‘, das ist, ihr seid meine Freunde nicht um euret-, sondern um meinetwillen. Denn so ihr wäret um euretwillen, so müsst ich euer verdienst ansehen. Nun aber seid ihrs allein von mir und durch mich, der ich euch zu mir ziehe und gebe euch alles, was ich habe, dass euer Ruhm nichts anders sei, als von meiner Gnade und Liebe, weder euer und aller Welt Werk und Verdienst. Denn ich habe mich nicht lassen finden von euch, sondern ich habe euch müssen suchen und zu mir bringen, da ihr ferne und fremd wart von der Erkenntnis Gottes und lagt im Irrtum und Verdammnis wie die andern.“[32]
Ähnlich geht es auch mit der Frage nach dem Ursprung des Bösen. Gott hasst die Sünde, das Böse (Ps. 5,5) – und dennoch existiert es. Luther verweist hier auf das Beispiel des Apfelbaums: Der Gärtner kann wohl den Baum pflanzen und pflegen, aber er kann nicht bewirken, dass er gute Äpfel bringt bzw. verhindern, dass er schlechte bringt. Das Beispiel hinkt allerdings, weil Gott ja allmächtig ist. Ähnlich mit dem anderen Beispiel, das Luther verwendet, wenn er Gott mit einem Zimmermann vergleicht, der mit einer schartigen Säge arbeitet und daher keine guten Ergebnisse bekommt, weil eben das Werkzeug schlecht ist. Warum macht Gott in seiner Allmacht das Werkzeug nicht gut? Wir wissen es nicht. Auch hier haben wir es wieder mit dem Deus absconditus zu tun. Gemäß der Bibel wissen wir nur, dass Gott gerecht ist, und dass die Verdammnis die gerechte Strafe für die Sünder ist.[33]
Gott lässt unter anderem auch das Böse zu, um uns die Augen über unsere Bosheit, die Bosheit der Menschen, zu öffnen. Vor allem aber: Auch der Teufel muss letztlich Gott dienen.[34] Satan ist keine eigenständige Macht, sondern letztlich Gott unterworfen, wie wir sehr schön am Leben des Joseph sehen. Satan suchte es durch die Brüder böse mit ihm zu machen; Gott aber machte daraus, was gut ist, um ein großes Volk zu erretten (1. Mose 50,20).
Auch wenn Gott uns in Christus vor allem als der liebende Gott begegnet, dürfen wir nicht vergessen: Er ist auch der heilige Gott, der dem Sünder zürnt und die Sünde richtet. Beides gehört also zusammen: Gottes Heiligkeit und Gottes Liebe. Jes. 28,21 zeigt, wie beides zusammen passt: Die Liebe ist Gottes eigentliches Werk, die sich verbirgt hinter dem fremden Werk Gottes, seinem Zorn. Gottes Zorn soll den Sünder zu Christus treiben. Daneben aber dürfen wir auch den strafenden und richtenden Zorn Gottes nicht vergessen.[35]
Wenn Gott der allmächtige, alleinwirkende Gott ist – wie kann es dann in dieser Welt so viel Leid und Elend geben? Luther macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass der Mensch erst zerbrochen werden muss, bevor er Gott finden kann. Gott muss ihm alle selbstgebastelten Stützen, Hilfen nehmen, alles, woran sein Herz, außer Gott, hängt. In Leid, Schmerz, Elend soll er so die Ohnmacht der eigenen Kraft und Gottes wahre Liebe zu ihm erkennen. Denn im Leid zeigt sich Gottes Liebe. Es gilt aber, in der schlagenden Hand Gottes wirklich die suchende Liebe Gottes zu erkennen.[36]
Auch Luthers Geschichtsverständnis gründet in der Alleinwirksamkeit Gottes: Gott sieht und ordnet alles im Voraus und vollbringt es in der Zeit. Dabei ist Gott selbst die Regel. Sein allmächtiges Handeln zeigt sich gerade auch darin, dass er ein Land hebt, stärkt, sich ausbreiten lässt, während er ein anderes Land, das eben noch in Blüte stand, stürzen lässt, wie wir das an Israel/Juda, an Assyrien, Babylonien und Mazedonien in der Bibel sehen.[37] Augenscheinlich scheinen ja wir Menschen die Handelnden zu sein, denken wir nur an die Großen der Geschichte wie Alexander von Mazedonien oder Hannibal. Und Gott will auch, dass wir in der Geschichte verantwortlich handelnd tätig werden. Aber was sind wir Menschen in der Geschichte tatsächlich? Nichts weiter als Marionetten. Dahinter aber steht die göttliche Leitung, die eben Reiche fördert oder stürzt, die wir aber nicht sehen.[38] Gott braucht sie zwar nicht notwendig, aber er hat es beschlossen, durch weltliche Mächte, Kräfte zu handeln, die Guten zu beschützen, die Bösen zu strafen und hat daher der Obrigkeit das Schwert gegeben (Röm. 13). Durch sie regiert er mittelbar die Welt.[39]
Gott ist der Alleinwirkende in der Geschichte – das ist die eine, grundsätzliche Aussage. In der Geschichte, das sehen wir vordergründig, tobt sich auch die Bosheit der Menschen, die Bosheit der Welt, tobt sich der Teufel aus und baut sein Gegenreich auf. So ist auch in der Geschichte Gott nur verborgen am Werk. Und doch regiert Gott alles und wird am Jüngsten Tag der Geschichte für immer ein Ende setzen. Was Gott jeweils mit den einzelnen Geschehnissen in der Geschichte bezweckt, das können wir oft nicht erkennen, zuweilen vielleicht im Nachhinein.[40]
Luther hat klar und deutlich die Zweinaturenlehre der Schrift, wie sie das Konzil von Chalcedon 451 bekannt hat, bejaht. Sein eigentliches Interesse aber galt besonders der Menschheit Christi, denn sie ist die Offenbarung Gottes des Vaters. Gott können wir normalerweise nicht sehen (s. 2. Mose 33; 34), aber in Jesus von Nazareth ist er zu uns gekommen, wahrer Gott und wahrer Mensch in einer Person. In dem Menschen Jesus von Nazareth wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig (Kol. 2,9). Gerade an Christi Gehorsam, an seinem Leiden und Sterben am Kreuz, an seiner erbarmenden Liebe wird die Liebe Gottes zu uns Menschen deutlich – aber auch sein Zorn über die Sünde, der auch den eigenen Sohn, der als Gottes Lamm die Sünde der Welt auf sich nahm (Joh. 1,29), nicht verschonte. In dem Menschen Jesus aber begegnet dir Gott. Und einen anderen Gott sollen wir nicht haben als eben diesen, der zugleich wahrer Mensch wurde, auch wenn es aller natürlichen Vernunft widerstreben mag.[41] „An dem Christus fange deine Kunst und Studieren an, da lass sie auch bleiben und haften; und wo dich deine eigenen Gedanken und Vernunft oder sonst jemand anders führt und weist, so tu nur die Augen zu und sprich: Ich soll und will von keinem andern Gott wissen als in meinem Herrn Christus. Siehe, ist er vom Vater gesandt, so muss er wahrlich etwas ausrichten und uns zu sagen haben aus des Vaters Willen und Befehl, dass wir ihn als die Majestät selbst hören sollen. Nun hören wir kein anderes Wort, als dass er soll der Welt helfen und uns den Vater zum Freund machen; sehen auch kein anderes Werk, als dass er dahingeht und solches ausrichtet, predigt, leidet und zuletzt am Kreuz stirbt. Siehe, da steht mir des Vaters Herz, Wille und Werk offen und erkenne ihn gar; welches sonst niemand jemals sehen noch treffen kann, wie hoch er steigt und spekuliert mit eigenen klugen und spitzigen Gedanken.
Wenn du aber solchen Blick fahren lässt, so musst du anlaufen, erschrecken und zurückfallen, weil du dich selber außer dem Gnadenblick rückst und in die bloße Majestät gaffst, die dir zu hoch und zu schwer ist. Denn außer Christus kann die Natur keine Gnade noch Liebe in Gott sehen noch erlangen; wie denn auch außer ihm nichts als eitel Zorn und Verdammnis ist.“[42]
Aber dass der Mensch Jesus von Nazareth zugleich wahrer Gott ist, liegt nicht unbedingt auf der Hand. Auch hier hat sich Gott wieder verborgen. Nur der Glaube erkennt ihn. Christus schenkt persönlich alles, was wir brauchen, Frieden, Vergebung, Rechtfertigung, neues Leben. Aber all das kann eine Kreatur nicht, sondern allein die göttliche Majestät. Daran erweist er, Jesus von Nazareth, sich als der Christus, als der wahre Gott. Und so handelt er heute noch, durch Wort und Sakrament.[43] Luther schreibt dazu: „O, das ist ein lächerlich Ding, dass der einige Gott, die hohe Majestät, sollte ein Mensch sein; und kommen hier zusammen beide, Kreatur und Schöpfer, in einer Person. Da sperrt sich die Vernunft mit allen Kräften.
Hier sind uns genommen und gewehrt die klugen Gedanken, damit die Vernunft gen Himmel flattert und Gott in der Majestät sucht und forscht, wie er im Himmel regiere usw., und das Ziel hierher gesteckt, dass ich aus der ganzen Welt laufe nach Bethlehem, in den Stall und die Krippe, das das Kindlein liegt, oder Maria in dem Schoß; das heißt die Vernunft doch gar gedämpft. Da liegt ein Mensch, der da geboren wird wie ein anderes Kind und lebt wie ein anderes Kind und führt kein anderes Wesen, Werk, Gebärde als ein anderer Mensch, dass keinem Menschen jemals ins Herz fallen könnte, dass die Kreatur soll der Schöpfer selbst sein. Wo sind die Weisen, die das je hätten erdenken oder in den Sinn nehmen können? Da muss ja alle Vernunft niederliegen und ihre Blindheit bekennen, dass sie will gen Himmel klettern und geistliche Dinge untersteht zu messen, und kann doch, das vor Augen liegt, nicht gewahr werden.“[44]
Entscheidend ist die Einheit der einen Person mit ihren zwei Naturen, besonders in ihrem göttlichen Tun, Gehorchen, Lieben, Schaffen, unter gegenseitiger Mitteilung der Eigenschaften der einen Natur an die andere. Dabei gilt: Was Christus macht, macht Gott, eben aufgrund der Wesenseinheit von Vater und Sohn.[45]
Für Christi Werk ist entscheidend, dass er Gottes Wort an uns ist, und zwar bis heute.
Christi Tod für uns ist a) Urbild dessen, was Gott an uns wirken will, nämlich uns durch den Tod zur Herrlichkeit bringen. b) Christi Tod macht aber auch deutlich: Christus trägt unsere Strafe, um unserer Sünde willen, die er als das Lamm Gottes für uns auf sich genommen und sich dann für uns geopfert hat.[46] So hat er, gehorchend und liebend, Gottes Zorn für uns überwunden und damit für uns Frieden gemacht durch sein Blut (Jes. 53). Das ist das alles Entscheidende: CHRISTUS FÜR UNS (SOLUS CHRISTUS).
Daher ist Christi Tod für uns a) Gottes Versöhnung. Der heilige und gerechte Gott ist versöhnt, weil Christus die Strafe getragen hat, die uns gilt. b) So hat Christus für uns genug getan gegenüber Gott und seinem Gesetz, das er gehorchend und leidend erfüllt hat, denn er trug Gottes Zorn an unserer Statt. Aber nur der, der das auch für sich im Glauben ergreift, steht nicht mehr unter Gottes Zorn. Wer aber im Unglauben verharrt, über dem bleibt der Zorn Gottes (Joh. 3,36). c) Damit hat er uns erlöst von Schuld und Sünde.
Mit Christi Auferweckung hat der Vater öffentlich verkündigt, proklamiert, dass er versöhnt ist, dass Gottes Liebe, nicht Gottes Zorn das letzte Wort hat. a) Damit ist dem Tod seine Macht genommen (2. Tim. 1,10). b) Nun lebt er aber auch in denen, die ihn im Glauben empfangen, ergriffen haben, und kämpft in ihnen und mit ihnen gegen die Sünde. c) So hat der Teufel seine Herrschaft in den Gläubigen verloren, denn Christus ist ihr HERR.[47]
All dieses Rettungswerk Gottes ist als solches aber auch wieder für das menschliche Auge, den menschlichen Verstand an sich nicht begreifbar, ist kein Herrlichkeits-, sondern ein Kreuzesweg, ist Gottes Rettungswirken verborgen in Schwachheit, in menschlicher Kreatur, unter scheinbarem Unterliegen, weshalb es dem natürlichen Menschen ärgerlich ist. „Denn an diesem König und seiner Predigt, der jedermann sich billig freuen sollte, ärgert sich die ganze Welt. Und ist eben das der Ärgernisse eins, dass die Welt sich an der Lehre Christi ärgert, dass sie sich nicht will auf Gottes Gnade, sondern auf ihr eigenes Werk und Verdienst verlassen. Zum andern ärgert sich die Welt auch in dem an Christus, dass er so gar arm und elend ist. Ebenso, dass gleich wie er das Kreuz trägt und sich daran hängen lässt, so ermahnt er auch seine Christen, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und ihm so durch allerlei Anfechtung und Trübsal nachzufolgen. Solchem ist die Welt zumal feind.
Also ist der liebe Herr Christus allenthalben in der Welt ein ärgerlicher Prediger. Dem Evangelium geht’s nimmermehr anders. Es ist und bleibt eine Predigt, daran sich stoßen nicht geringe Leute, sondern die heiligsten, frömmsten, weisesten, gewaltigsten auf Erden, wie die Erfahrung mitbringt. Wohl aber denen, die wissen und glauben, dass es Gottes Wort ist, die sind genesen, getröstet und gestärkt wider alle solche Ärgernisse.“[48]
So lässt sich zusammenfassend sagen: Christi Werk ist unsere Erlösung von Sünde, Tod und Teufel. Damit ist Christus auch der HERR geworden im Leben der Gläubigen.[49] Wie Luther auch im Großen Katechismus erklärt: „Ich glaube, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gottessohn, sei mein HERR geworden. Was ist nun das: ein HERR werden? Das ist’s, dass er mich erlöst hat von Sünde, vom Teufel, vom Tod und allem Unglück. Denn zuvor habe ich keinen Herrn noch König gehabt, sondern bin unter des Teufels Gewalt gefangen, zum Tod verdammt, in der Sünde und Blindheit verstrickt gewesen.“ (GK, Teil II, 2. Art., 27.) „Das sei nun die Zusammenfassung dieses Artikels, dass das Wörtlein ‚HERR‘ aufs einfältigste so viel heiße wie ein Erlöser, das ist, der uns vom Teufel zu Gott, vom Tod zum Leben, von Sünde zur Gerechtigkeit gebracht hat und dabei erhält.“ (GK, Teil II, 2. Art. 31.)
Es gibt daher keinen anderen Rettungsweg, keine andere Möglichkeit der ewigen Erlösung als allein Jesus Christus, den der Glaube empfängt, ergreift. „Baue, mache und suche, was du willst: Wenn es dahin kommt, dass man in ein anderes Leben treten und aus diesem scheiden soll, so musst du diesen Weg allein ergreifen oder ewig verloren sein. Denn ‚Ich (spricht er) bin der Weg‘, darauf man zum Vater kommt, und sonst keiner. Ich, und kein anderer, bin die Wahrheit und das Leben. Da musst du hin, dass du dich an diesen Mann haltest und fest bei dem Glauben und Bekenntnis bleibst; und immer denselben geübt im Leiden und Sterben und gesagt: Ich weiß keine andere Hilfe und Rat, kein Heil noch Trost, keinen Weg noch Steg, als allein meinen Herrn Christus, für mich gelitten, gestorben, auferstanden und gen Himmel gefahren. Da bleib ich bei und gehe hindurch, ob auch eitel Teufel, Tod und Hölle unter und vor mir wären. Denn das ist ja der rechte Weg und Brücke, fester und gewisser als irgendein steinernes oder eisernes Gebäude, und müssten eher Himmel und Erde brechen, als dieses sollte fehlen oder trügen.“[50]
Warum benötigen wir überhaupt das Wirken des Heiligen Geistes? Nun, Christi Erlösungswerk fand vor bald 2.000 Jahren statt. Der Heilige Geist nun überbrückt durch sein Werk den zeitlichen Abstand zwischen dem Werk des fleischgewordenen Christus und uns und macht uns so das Heil gegenwärtig. Das heißt: Ohne den Heiligen Geist wäre es für uns unmöglich, zu Gott, zu Christus zu kommen. Das hat Luther ja sehr klar auch in der Auslegung des dritten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus ausgeführt: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen HERRN, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten.“ Und im Großen Katechismus: „Denn weder du noch ich könnten jemals etwas von Christus wissen noch an ihn glauben und ihn zum HERRN kriegen, wo es nicht durch die Predigt des Evangeliums von dem Heiligen Geist würde vorgetragen und uns in den Busen geschenkt. Das Werk ist geschehen und ausgerichtet; denn Christus hat uns den Schatz erworben und gewonnen durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen usw. Aber wenn das Werk verborgen bliebe, dass niemand wüsste, so wäre es umsonst und verloren. Dass nun solcher Schatz nicht begraben bliebe, sondern angelegt und genossen würde, hat Gott das Wort ausgehen und verkündigen lassen, darin den Heiligen Geist gegeben, uns solchen Schatz und Erlösung heimzubringen und zueignen. Darum ist das Heiligen nichts anderes, als zu dem HERRN Christus bringen, solches Gut zu empfangen, dazu wir von uns selbst nicht kommen könnten.“ (GK, Teil II, 3. Art. 38-39.) Das drückt gleichzeitig auch deutlich aus, dass unser Heil in keiner Weise von menschlicher Vorleistung abhängt.
Wie aber geschieht nun das Wirken des Heiligen Geistes? Nun, er wirkt nicht unmittelbar auf die Menschen, sondern durch das Wort (und Sakrament, bei dem aber auch das Wort das Entscheidende ist).[51] In den Schmalkaldischen Artikeln hat der Reformator es unmissverständlich dargelegt: „Darum sollen und müssen wir darauf beharren, dass Gott nicht will mit uns Menschen handeln als durch sein äußerliches Wort und Sakrament. Alles aber, was ohne solches Wort und Sakrament vom Geist gerühmt wird, das ist der Teufel.“ (Teil III, Art. 8, 10.) Das ist umso wichtiger, weil wir Christus ja nur im Wort haben. Das alles heißt: Der Heilige Geist ist im Wort Gottes wirkend gegenwärtig, wie es auch Joh. 6,63 und Jes. 55,10-11 dargelegt ist. Es muss, damit das Wort kräftig, wirkmächtig ist, nicht erst noch etwas von außen hinzugetan werden. So wirkt der Heilige Geist durch das Wort auf das Herz des Menschen, dass er das Wort nicht nur äußerlich, mit den Ohren, hört, sondern auch innerlich, also mit dem Herzen, mit dem Gewissen und dann dem Verstand und Willen, vernimmt und ergreift, es also geistlich versteht („inneres Wort“. Denn der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes, es ist ihm eine Torheit, und kann es nicht erkennen, denn es muss geistlich gerichtet sein. 1. Kor. 2,14.) Das heißt: Der Heilige Geist begründet den Glauben durch die Schrift. Er ist es, der es macht, dass die Schrift als Gottes Wort eine Leben schaffende und erhaltende Macht, Kraft ist und uns so zu Christus führt und bei ihm erhält (s.a. Röm. 1,16-17; 10,14-17; 1. Petr. 1,23; Jak. 1,18). Auch das drückt Luther ja in dem schon angeführten Auszug aus der Erklärung zum dritten Glaubensartikel aus. In den Schmalkaldischen Artikeln führt er weiter dazu aus: „Und in diesen Stücken, so das mündliche, äußerliche Wort betreffen, ist fest darauf zu bleiben, dass Gott niemand seinen Geist oder Gnade gibt außer durch oder mit dem vorhergehenden äußerlichen Wort.“ (Teil III, Art. 8, 3.) In all dem erweist sich der Heilige Geist als der, der er ist: wahrer Gott.[52] Und wie macht er das, der Heilige Geist? „Gleichwie der Sohn die Herrschaft überkommt, dadurch er uns gewinnt, durch seine Geburt, Sterben und Auferstehen usw., so richtet der Heilige Geist die Heiligung aus durch die folgenden Stücke, das ist durch die Gemeinde der Heiligen oder christliche Kirche, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben, das ist, dass er uns erstlich führt in seine heilige Gemeinde und in der Kirchen Schoß legt, dadurch er uns predigt und zu Christus bringt.“ (GK, Teil. II, 3. Art., 37.)
Luther hat sich, das machen die voraufgehenden Abschnitte deutlich, klar zur Trinität, zu heiligen Dreieinigkeit, zur Dreieinheit Gottes bekannt, dazu, dass jede Person die ganze Gottheit ist und Gottes Wirken ein trinitarisches Wirken: Das Wort Gottes ist Christus, der wirkt durch den Heiligen Geist. Die Kirche ist das Volk Gottes, gleichzeitig der Leib Christi und Bau und Tempel des Heiligen Geistes.[53] Auch das hat er kurz in den Schmalkaldischen Artikeln dargelegt, worüber auch im Grundsatz damals kein Streit war: „Dass Vater, Sohn und Heiliger Geist, in Einem göttlichen Wesen und Natur, drei unterschiedliche Personen, ein einiger Gott ist, der Himmel und Erden geschaffen hat.“ (Teil I, 1.)
Die Scholastik ging, im Rückgriff auf die heidnische griechische Philosophie, von einem Dualismus zwischen Leib und Seele aus. Luther aber hatte den ganzen Menschen im Blick.
Grundlegend für das Verständnis des Menschen ist das rechte Verständnis von der Erbsünde. Sie ist nicht nur, wie Rom und auch die Ostkirche behaupten, ein Fehlen der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit, sondern vielmehr eine abgrundtiefe Verdorbenheit der gesamten Menschen Natur. Die Grundsünde ist dabei der Unglaube, der aus dem Zweifel an Gottes Wort kommt. (Der Zweifel, das muss der moderne Mensch sich sagen lassen, ist also nicht etwas Gutes, Wichtiges, sondern ist Sünde, denn wir haben Gottes festes prophetisches Wort. Aber auch mit dieser Sünde dürfen wir zu ihm kommen, auch für sie hat Christus sein Blut vergossen.) Das führt dann zum Abweichen von Gottes Geboten und zeigt sich unter anderem in bösen Begierden, in falscher Selbstgenugsamkeit (nämlich Ichzentriertheit), in Hochmut, Habgier und Geiz. Dabei ist auch der Fromme selbst bei seinen besten Werken nicht frei von Sünde. Es geht bei der Erbsünde um unsere Stellung vor Gott. Die Erbsünde ist dabei gemäß Psalm 51 die angeborene Verdorbenheit des Menschen, die sich dann zeigt in allen bewussten und unbewussten Willensäußerungen. „Solche Erbsünde ist so gar eine tiefe böse Verderbung der Natur, dass sie keine Vernunft kennt, sondern muss aus der Schrift Offenbarung geglaubt werden, Ps. 51; röm. 5; 2. Mose 33; 1. Mose 3. Darum sind das eitel Irrtum und Blindheit gegen diesen Artikel, dass die Schultheologen gelehrt haben, nämlich: ‚Dass nach dem Erbfall Adams des Menschen natürliche Kräfte sind ganz und unverderbt geblieben und der Mensch habe von Natur eine rechte Vernunft und guten Willen, wie die Philosophen solches lehren. Ebenso, dass der Mensch habe einen freien Willen, Gut es zu tun und Böses zu lassen, und wiederum Gutes zu lassen und Böses zu tun. … Ebenso, wenn ein Mensch tut, so viel an ihm ist, so gibt ihm Gott gewiss seine Gnade.“ (Schmalk. Art., Teil. III, Art. 1,3-8.) Der Mensch wird also als Sünder geboren – und weil er Sünder ist, darum sündigt er; er wird nicht erst durch (bewusste) sündhafte Handlungen zum Sünder. Dieses abgrundtiefe Verderben aber erkennt die Vernunft von sich aus nicht; das kann uns nur Gottes Wort deutlich machen.[54] Luther stellte sich damit klar gegen Rom, das behauptete, es gäbe noch natürliche Kräfte im Menschen, die unverdorben geblieben seien, der Wille könne recht nach dem tun, was die Vernunft erkenne. „Unmöglich ist’s gewesen, dass sie sollten recht von der Buße lehren, weil sie die rechten Sünden nicht erkannten. Denn (wie droben gesagt), sie halten von der Erbsünde nicht recht, sondern sagen, die natürlichen Kräfte des Menschen seien ganz und unverderbt geblieben, die Vernunft könne recht lehren und der Wille könne recht darnach tun, dass Gott gewiss seine Gnade gibt, wenn ein Mensch tut, so viel an ihm ist, nach seinem freien Willen. Hieraus musste nun folgen, dass sie allein die wirklichen Sünden [Tatsünden] büßten, wie böswillige Gedanken, (denn die böse Bewegung, Lust, Reizung war nicht Sünde), böse Worte, böse Werke, die der freie Wille wohl hätte können lassen.“ (Schmalk. Artikel, Teil III, 3. Art. 10-11.)
Die Erbsünde ist also ein reales Verderben von Leib und Seele und endet erst mit dem Tod. Ursprünglich war der Mensch in Gottebenbildlichkeit erschaffen, also vollkommen und heilig. Die Erbsünde betrifft also nicht nur bestimmte Teile des Menschen, nicht nur niedere Seelenkräfte, wie die Scholastik behauptete, sondern wahrhaft den ganzen Menschen durch und durch und wird auch nicht, wie die Scholastik meinte, mit der Taufe getilgt. Die Taufe nimmt die Erbschuld, aber das Erbverderben haftet am Menschen bis zu seinem Tod. Die verbleibende böse Lust ist, wie Röm. 7,7 deutlich macht, wahrhaft Sünde. Darum ist der Wiedergeborene Mensch Gerechter und Sünder zugleich (simul iustus et peccator). Durch den täglichen konsequenten Kampf gegen die Sünde und entschiedenes Leben mit Gott wird aber die Macht der Erbsünde im Menschen abnehmen. So ist also der Wiedergeborene im Glauben an Christus ganz und gar gerecht, der menschlichen Natur nach aber weiterhin auch ganz und gar Sünder, also geistlich zwei Menschen in einer Person – und ist doch nur ein ganzer Mensch.[55]
Die Frage nach der Freiheit bzw. Unfreiheit des Willens ist von entscheidender Bedeutung zum rechten Verständnis der biblischen Sicht vom Menschen und damit auch von der Rechtfertigung des Sünders. In Bezug auf die Erlösung fehlt dem natürlichen Menschen jeglicher freier Wille. Freiheit in diesem Sinn ist eine göttliche Eigenschaft, die nur Gott selbst zukommt. Luther hat dies sehr deutlich gegen Erasmus artikuliert, der in Übereinstimmung mit Rom behauptete, der Mensch habe die Fähigkeit sich für oder gegen die Gnade zu entscheiden. Luther dagegen hat mit der Bibel unterstrichen, dass in geistlicher Hinsicht der „freie Wille“ eine Illusion ist. Die Errettung eines Menschen hängt zu keinem noch so geringen Teil an ihm, sondern ist allein in Gottes Gnadenwillen gegründet, der alles wirkt. Die Forderungen der Schrift an den Sünder, auf denen Erasmus seine Argumentation unter anderem aufbaute, dienen nicht dazu, dass der Mensch sich vorbereite auf die Gnade oder sie sich verdiene oder mit ihrer Hilfe sich den Himmel erwerbe, sondern vielmehr dazu, dass der Mensch, eben durch das Gesetz, zu einer klaren Erkenntnis seines geistlichen Unvermögens, seiner gänzlichen Verderbtheit kommt. Es ist daher wichtig, dass wir auch deutlich unterscheiden, was Gesetz und was Evangelium ist. Genau das hat Erasmus in seinen Ausführungen versäumt und daher das Evangelium vergesetzlicht.[57] „Aber unsere Diatribe unterscheidet wiederum gar nicht zwischen den Worten des Gesetzes und der Verheißung, macht diesen Spruch Hesekiels zu einem Wort des Gesetzes und legt ihn so aus: ‚Ich will nicht den Tod des Sünders’, d.i. ich will nicht, dass er tödlich sündigt oder ein des Todes schuldiger Sünder werde, sondern vielmehr, dass er sich von der Sünde bekehre, wenn er eine getan hat, und also lebe. Denn wenn sie nicht also auslegte, würde sie nichts zur Sache vorbringen. Dies aber heißt ganz und gar jenes süße Wort Hesekiels: ‚Ich will nicht den Tod’ umkehren und beseitigen.“ [58]
Damit wies Luther eindeutig Roms Behauptung zurück, es gäbe ein „Verdienst nach Billigkeit“ als Vorbereitung auf die Gnade. Diese Irrlehre ist verbunden mit der Behauptung, die Freiheit sei eine Fähigkeit zu tun, was in geistlicher Hinsicht gut ist, zwischen Gut und Böse zu wählen. In geistlichen Dingen aber ist das völlig unmöglich, da der natürliche Mensch vor der Wiedergeburt geistlich tot ist. Nur in weltlichen Dingen hat die Vernunft eine gewisse Freiheit der Entscheidung, in geistlichen Dinge nicht. Der natürliche Mensch ist also in Knechtschaft unter der Sünde, weshalb seine Erlösung ganz und gar Gottes Werk sein muss.[59] Das heißt doch: Der Mensch kann ohne die Gnade nur Böses tun. „Ebenso, wenn wir glauben, dass die Erbsünde uns also verderbt hat, dass sie auch denjenigen, die vom Geiste getrieben werden, durch den Kampf gegen das Gute außerordentlich viel zu schaffen macht, so ist es klar, dass in dem Menschen, der den Geist nicht besitzt, nichts übrig ist, das sich zum Guten wenden könne, sondern nur zum Bösen. Ebenso, wenn die Juden, die unter Anstrengung aller Kräfte der Gerechtigkeit nachtrachteten, vielmehr der Ungerechtigkeit anheim fielen, und die Heiden, die nach der Gottlosigkeit trachteten, umsonst und unverhofft zur Gerechtigkeit gelangten, so ist es abermals durch das greifliche Werk und die Erfahrung offenbar, dass der Mensch ohne die Gnade nur Böses wollen kann. Aber in Summa, wenn wir glauben, dass Christus die Menschen durch sei Blut erlöst hat, so müssen wir bekennen, dass der ganze Mensch verloren gewesen ist; wir werden sonst Christus überflüssig oder zum Erlöser des wertlosesten Teiles machen.“[60] Damit macht Luther deutlich klar, dass der natürliche, nichtwiedergeborene Mensch geistlich tot ist, nichts, gar nichts tun kann, was zu seiner Errettung beitragen könnte, Gott auch gar nicht lieben, nicht an ihn glauben, ihm nicht dienen kann, sondern dass er vielmehr einer geistlichen Auferweckung, Lebendigmachung bedarf, die nur von außen, eben durch Gott, kommen kann. Das heißt: Aus sich selbst kann niemand sein Leben bessern oder gute Werke tun. Aber die Auserwählten werden anfangen, genau dies durch den Heiligen Geist zu tun. „Wer, sagst du, wird sich befleißigen, seien Leben zu bessern? Ich antworte: Kein Mensch, und keiner wird es auch können; denn um deine ‚Verbesserer’, die den Geist nicht haben, kümmert sich Gott gar nichts, da sie Heuchler sind. Es werden aber die Auserwählten und Frommen durch den heiligen Geist gebessert, die übrigen gehen ungebessert zu Grunde. ... Du sagst, wer wird glauben, dass er von Gott geliebt werde? Ich antworte: Kein Mensch wird es glauben; er wird es auch nicht glauben können; die Auserwählten aber werden glauben, die übrigen werden ohne zu glauben untergehen, wider Gott zürnend und ihn lästernd, so, wie du hier es tust.“[61]
Die Lehre aber vom unfreien Willen wird auch zu einer rechten Haltung des durch die Schrift erleuchteten Menschen führen, nämlich dass er sich recht vor Gott demütigt als einer, der auch weiß, dass er Gott nichts, wirklich gar nichts, bringen kann. Denn wer weiß, dass alles an Gottes Willen hängt, der verzweifelt an sich selbst und seinen eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten und erwartet richtig alles von Gott. „Wer aber gar nicht daran zweifelt, dass alles am Willen Gottes hänge, der verzweifelt völlig an sich selbst, wählt nichts aus, sondern erwartet den Gott, der da wirkt; der ist am nächsten der Gnade, dass er gerettet wird. Darum wird um der Auserwählten willen dies gepredigt, damit sie also gedemütigt und vernichtet gerettet werden; die übrigen widerstreben dieser Demütigung, ja, sie verurteilen es sogar, dass diese Verzweiflung an sich selbst gelehrt wird, und sie wollen, dass etwas noch so Geringes ihnen belassen werde, das sie selbst ausrichten können. Diese bleiben heimlich stolz und Gegner der Gnade Gottes. Das ist, sage ich, der eine Grund: dass die Frommen die Verheißung der Gnade gedemütigt erkennen, anrufen und annehmen.“[62] Genau das ist übrigens der Punkt, um den es bis heute in der Auseinandersetzung mit den Synergisten aller Schattierungen geht, gerade auch im evangelikalen Raum (Entscheidungstheologie!), die ja entweder ganz und gar von einem freien Willen reden (z.B. Werner Gitt) oder doch zumindest einen kleinen Raum dem menschlichen Zutun lassen wollen und nicht das pure passive des Menschen in der Bekehrung bekennen wollen (z.B. Siegfried Kettling).
Der Weg, der hier von der Bibel uns vorgezeichnet ist, ist der Weg des Kreuzes, der im Glauben zu gehen ist, denn Gott verbirgt seine Güte unter Zorn, seine Gerechtigkeit unter Ungerechtigkeit; er macht lebendig, indem er uns tötet; der Gott ist gerecht, der uns eigentlich verdammen muss.
Daher: Das, was mit uns geschieht, das geschieht nicht aus freiem Willen heraus, sondern aus Notwendigkeit. Wer nicht von Gott wiedergeboren ist durch das Evangelium, der ist notwendig böse und handelt notwendig böse, er kann gar nicht anders, denn nicht wir, nur Gott in uns wirkt in und durch uns Gutes. Darum: Ohne Gott kann ein Mensch notwendig – nicht gezwungenermaßen – nur Böses tun, und tut es dabei aus freien Stücken, mit willfährigem Willen. Und aus eigener Kraft kann ein Mensch das Böse nicht lassen, es bleibt der böse Wille, die böse Lust.
Es geht dabei auch um Gottes Gottheit und das rechte Verständnis von Gott, wie es Luther in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus hervorgehoben hat. Gott wirkt allerdings alles in allen, 1. Kor. 12,6, und ohne ihn geschieht nichts, denn er ist allmächtig. Deshalb wirkt er notwendig auch im Satan und im Gottlosen. Aber das, was sie tun können, das ist nur Böses. „Er wirkt aber in ihnen so, wie sie sind und wie er sie findet, d.h. da sie sich abgewandt haben und böse sind und von jener Wirkung der göttlichen Allmacht fortgerissen werden, so tun sie nur, was von Gott abgewandt ist.“[63] Gott reicht ihnen also Kraft, Vermögen, Energie bei – aber sie gebrauchen diese Gaben zum Bösen, weil sie böse sind. Es geschieht also Böses, aber Gott ist es nicht, der böse handelt. Die Bösen aber, die da Böses tun, müssen mit diesem ihrem Tun ihm dennoch als Werkzeuge, zum Guten, dienen, denke nur an die Brüder Josephs. Es verschulden also die Werkzeuge, die Gott nicht müßig sein lässt, dass Böses geschieht, indem Gott selbst in Bewegung setzt, nicht anders, wie wenn ein Zimmermann mit einem schartigen und stumpfen Beil schlechte Hiebe macht. Daher kommt es, dass der Gottlose immer irrer und sündiger werden muss, weil er, von der göttlichen Macht fortgerissen, nicht müßig belassen wird; er muss demnach so wollen, wünschen und handeln, wie er ist.“[64]
Natürlich taucht dann die Frage auf: Warum ändert Gott in seiner Allmacht nicht den bösen Willen von uns Menschen, etwa den des Pharaos, der die Israeliten ausrotten wollte? Er hebt hervor, dass wir hier auf das Geheimnis Gottes treffen, das wir nicht erforschen können, sondern uns nur darunter beugen und Gott anbeten, denn Gott ist in seinem Wirken letztlich für uns unbegreiflich. „Doch warum ändert er nicht zugleich die bösen Willen, die er bewegt? Das gehört zu den Geheimnissen der Majestät, da seine Gerichte unbegreiflich sind. Und es ist nicht unsere Aufgabe, dies zu erforschen, sondern vielmehr, diese Geheimnisse anzubeten.“ Hier bleibt Gott einfach für uns unbegreiflich und verborgen. Wir sollen uns dagegen an den geoffenbarten Gott halten, wie er uns in der Schrift begegnet, insbesondere in Jesus Christus. Darum, als Gott auf Pharao einwirkte, hatte dies eben nicht die Wirkung, dass Pharao, der im Bösen sich verhärtet hatte, besser wurde, sondern vielmehr wurde er nur noch böser: „… durch die natürliche Wirkung Gottes wird er getrieben, natürlich zu wollen, wie er eben beschaffen ist – er ist aber böse –; und deswegen muss er gegen das Wort anlaufen und verhärtet werden.“[65]
Das Wort Gottes ist in allem entscheidend, auch in den Sakramenten, wie Luther bei jedem der Sakramente im Kleinen Katechismus hervorhebt, etwa beim Abendmahl, dass das Wort neben dem Essen und Trinken das Hauptstück im Sakrament ist. Er bezeichnet die Sakramente auch als „verba visibilis“ oder „sichtbare Worte“. Welchen Sinn aber haben die Sakramente neben dem Wort? Während das Wort allgemein ausgestreut wird, über die Menge geht, dienen die Sakramente dem persönlichen Gnadenzuspruch. Bei ihnen geht es um die persönliche Heilsgewissheit.[66] Sie sind wohl gültig, unabhängig vom Glauben oder Unglauben des Spendenden wie des Empfangenden, aber die geistliche Gabe des Sakraments wird allein durch den Glauben empfangen. Deshalb hat Luther das opus operatum Roms konsequent abgelehnt, weil es da nicht nur um die objektive Gültigkeit des Sakraments geht, sondern der Vollzug des Sakraments als eine an sich verdienstliche Handlung, Leistung betrachtet wird, während der Glaube außen vor gelassen wird.[67]
In der Auseinandersetzung mit Rom hat Luther in klarem Rückgriff auf die Bibel von den angeblich sieben Sakramenten nur zwei beibehalten, nämlich Taufe und Abendmahl, weil nur sie zu unserem Heil von Christus eingesetzt wurden, nur sie ein äußeres Zeichen haben und eine damit verbundene, von Christus befohlene Handlung, alles verbunden mit einer Verheißung zu unserer Erlösung. „Zunächst muss ich die Siebenzahl der Sakramente leugnen und weiß zur Zeit nur ihrer drei zu behaupten, die Taufe, die Buße und das Brot. Ich behaupte, dass uns diese alle durch die römische Kurie in jämmerliche Gefangenschaft geführt und die Kirche all ihrer Freiheit beraubt sei.“[68] Nach seiner gründlichen Arbeit über die Sakramente anhand der Schrift ist er dann bei zwei Sakramenten geblieben, Taufe und Abendmahl. Er sagt auch klar aus, was ein Sakrament ist: „Wir haben gesagt, in jedem Sakrament habe man ein Wort göttlicher Verheißung, welchem der glauben müsse, der das Zeichen empfängt; aber das Zeichen allein könne kein Sakrament sein.“[69] Nicht jegliche Verheißung ist also ein Sakrament, sondern nur diejenige, die Christus mit einem Zeichen verbunden hat: „Doch hat es beliebt, im eigentlichen Sinn nur diejenigen Verheißungen Sakramente zu nennen, mit denen Zeichen verknüpft sind. … Daraus folgt, dass es, wenn wir es mit dem Sprachgebrauch ernst nehmen, nur zwei Sakramente in Gottes Kraft gibt, die Taufe und das Brot, da wir nur bei diesen beiden das von Gott gestiftete Zeichen wie die Verheißung der Sündenvergebung finden. Denn das Sakrament der Buße, das ich diesen beiden zugezählt habe, entbehrt des sichtbaren und von Gott gestifteten Zeichens und ist, wie gesagt, nichts anderes als der Weg und die Rückkehr zur Taufe.“[70]
Auch für die Sakramente gilt, wie für die gesamte Kirchengewalt: Sie sind allen an Christus Gläubigen durch die Wiedergeburt zur Verwaltung anvertraut. Ordentlicherweise aber übt die öffentliche Verwaltung derjenige aus, der von der Christenschar, gewöhnlich der Ortsgemeinde als der direkten, unmittelbaren Christenversammlung um Wort und Sakrament, dazu berufen wurde. In Notfällen kann dies aber auch durch jeden Nichtordinierten geschehen. „Das erste aber und das allerhöchste, daran alle anderen haften und hangen, ist lehren das Wort Gottes. Denn mit dem Wort lehren wir, segnen, binden und entbinden, taufen, opfern, richten und urteilen alles; so dass wir, wem wir das Wort befehlen, demselben mögen mitnichten versagen alles, was einem Priester zugebührt. Nun aber dasselbe Wort ein gemein Ding aller Christen ist, wie Jesaja sagt Kap. 53,13: ‚Ich werde allen deinen Söhnen geben, dass sie von Gott gelehrt sollen sein.’ Dies sind aber, die von Gott gelehrt sind, die es hören und lernen vom Vater, wie Christus Joh. 6, V. 45 auslegt. ‚Das Hören geschieht aber durch das Wort’ Christi, zu den Römern 10, V. 17, damit dieses Lob bestehe im 149. Psalm, V. 5: ‚Dies ist der Preis aller seiner Heiligen.’ Welcher? ‚Die Freude an Gott in ihren Kehlen, zweischneidige Schwerter in ihren Händen, sich zu rächen an den Geschlechten, zu strafen die Völker und zu binden ihre Könige mit Fesseln und ihre Edelsten mit eisernen Handbanden, dass sie in ihnen vollbringen das beschriebene Gericht’ etc. (nach der Vulgata).
Zum ersten, dass nun das erste Amt, nämlich das Amt in Gottes Wort, allen Christen gemeinsam sei, beweist auch überdies, wie gesagt ist, dieser Spruch 1. Petr. 2,9: ‚Ihr seid das königliche Priestertum, dass ihr verkündigen sollt die Tugenden des, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.’ Ich bitte euch, welche sind doch die Berufenen von der Finsternis in das wunderbare Licht? Sind es allein die beschorenen und gesalbten Larven? Oder sind es nicht alle Christen? Petrus aber gibt ihnen nicht allein das Recht, sondern auch ein Gebot, ‚dass sie verkündigen sollen die Tugenden Gottes’; welches fürwahr nichts anderes ist, als predigen das Wort Gottes. … Und sagen das nicht darum, dass man u n s glauben müsse; sondern bezeugen das durch die Worte und Zeugnisse Christi, der also an dem Abendessen gesprochen hat: ‚Das tut zu meinem Gedächtnis.’ Denn es wollen auch die beschornen Papisten selbst, dass durch diese Worte Christi alle Priester gemacht und die Gewalt zu segnen verliehen. Nun hat er diesen Spruch zu allen den Seinen gesagt, die dazumal gegenwärtig waren, von diesem Brot und Wein aßen und tranken, auch zu allen denen, die hernach künftig von diesem Brot und Wein essen und trinken würden. Aus dem folgt: Was daselbst ist verliehen worden, das ist allen verliehen worden.“[71]
Die Taufe geschieht in Gottes Namen, das heißt, Gott selbst handelt in der Taufe mit dem Täufling und nimmt ihn in Gottes Gemeinschaft auf. „Denn in Gottes Namen getauft werden ist nicht von Menschen, sondern von Gott selbst getauft werden. Darum, ob es gleich durch des Menschen Hand geschieht, so ist es doch wahrhaftig Gottes eigenes Werk; daraus ein jeglicher wohl schließen kann, dass es viel höher ist als irgendein Werk, von einem Menschen oder Heiligen getan. Denn was kann man für ein Werk größer machen als Gottes Werk?“ (GK, Teil 4, 10.) Die Taufe, gerade als Säuglingstaufe, steht am Anfang des Lebens und markiert damit sehr deutlich, dass der Mensch nichts zu Gottes Gnaden hinzutun kann. Die Taufe gehört also zum schenkenden Tun Gottes. Was aber wirkt Gott in der Taufe? In Röm. 6 wird es deutlich gemacht: Der alte Mensch wird in der Taufe mit Christus gekreuzigt, ein neuer Mensch kommt aus der Taufe hervor. In der Taufe werden, Apg. 22, die Sünden abgewaschen, sie ist daher das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes (Tit. 3,4 ff.), gibt, wie Luther im Kleinen Katechismus sagt, Vergebung der Sünden. „Darum fasse es aufs Allereinfältigste so, dass dies der Taufe Kraft, Werk, Nutzen, Frucht und Ziel ist, dass sie selig mache. Denn man tauft niemand darum, dass er ein Fürst werde, sondern, wie die Worte lauten, dass er selig werde. Selig werden aber weiß man wohl, dass es nichts anders heiße als von Sünden, Tod, Teufel erlöst, in Christi Reich kommen und mit ihm ewig leben.“ (GK, Teil 4, 24-25.) Aber all diese geistlichen Gabe, Tod des alten Menschen, Auferstehen des neuen Menschen, Vergebung der Sünden und damit ewiges Leben, all das hat durch die Taufe nur derjenige, der diese Dinge durch den rechtfertigenden Glauben an Christus empfängt. Die Taufe ist also das Unterpfand der Gnade. Aber: Ohne den Glauben kann jemand 20mal getauft sein und hat dennoch nichts erlangt.[72] „Der Glaube macht die Person allein würdig, das heilsame göttliche Wasser nützlich zu empfangen. Denn weil solches allhier in den Worten bei und mit dem Wasser vorgetragen und verheißen wird, kann es nicht anders empfangen werden, als dass wir solchs von Herzen glauben. Ohne Glauben ist es nichts nütze, ob es gleich an sich selbst ein göttlicher überschwänglicher Schatz ist.“ (GK, Teil 4,32-34.) Aber der Glaube macht die Taufe nicht, er empfängt sie nur (GK, 4.Teil, 53). Sie wird daher nicht unrecht, wenn sie nicht sogleich im Glauben empfangen wird; die Person soll sie dann später im Glauben ergreifen. Geschieht das aber nicht, wird sie ihm zum Gericht dienen; dass der Täufling einen „unverlierbaren Charakter“ bekäme, wie Rom lehrt, hat Luther mit der Bibel klar abgelehnt. Die Taufe geschieht also nicht auf der Grundlage des Glaubens, sondern des Wortes Gottes. „Ich komme her in meinem Glauben und auch der andern, dennoch kann ich nicht darauf bauen, dass ich glaube und viele Leute für mich bitten, sondern darauf baue ich, dass es dein Wort und Befehl ist; gleichwie ich zum Sakrament gehe, nicht auf meinen Glauben, sondern auf Christi Wort, ich sei stark oder schwach, das lass ich Gott walten.“ (GK, Teil 4, 56.)
Auch hier in der Taufe ist das Wort wieder das entscheidende Ding: „Denn das ist der Kern in dem Wasser, Gottes Wort oder Gebot und Gottes Namen, welcher Schatz größer und edler ist als Himmel und Erde.“ (GK, Teil 4, 16.) Luther hat sich dabei sowohl gegen Thomas von Aquin und die römische Behauptung gewandt, dass dem Taufwasser eine besondere Kraft innewohne, wie auch den Schwärmern, die der Taufe keine weitere Bedeutung zuwiesen, besonders sie als Gnadenmittel leugneten (wie das bis heute fast durchweg alle Refomierten und Evangelikalen machen). Nicht das Wasser an sich wirkt, sondern das Wort im Wasser.
Luther hat entschieden an der Säuglingstaufe festgehalten. „Von der Kindertaufe halten wir, dass man die Kinder taufen solle. Denn sie gehören auch zu der verheißenen Erlösung, durch Christus geschehen, und die Kirche soll sie ihnen reichen.“ (Schmalk. Art., Teil III, 5. Art., 4.) Warum? In Luk. 1,44 erkannte er, dass Gott es ist, der den Glauben schenkt. Der Glaube ist also kein Produkt der menschlichen Vernunft, des menschlichen Verstandes, sondern Gottes Geschenk. Dann hat Christus Mark. 10,13 ff. klar gemacht, dass er will, dass die Kinder zu ihm gebracht werden. Er hat aber nicht eine (Kinder-)Segnung eingesetzt, um den Kindern reichen geistlichen Segen zukommen zu lassen, sondern die heilige Taufe (Matth. 28,18-20). Wir haben Hinweise in Apg. 16 (Taufe ganzer Häuser), dass sie schon in der Zeit der Apostel geübt wurde und über die Jahrhunderte weiter gegangen ist, sonst wäre ja schier die Kirche nicht vorhanden gewesen. Es gilt auch zu bedenken, dass jeder, der aus dem Fleisch geboren ist, Fleisch ist (Joh. 3,6), und das betrifft zunächst einmal jeden Menschen. Jeder muss also geistlich neu geboren werden, wozu die Taufe ein Mittel ist, bei den Säuglingen das einzige Mittel.[73]
Die Taufe, und das hat Luther schon früh in seinem „Sermon von der Taufe“ ausgeführt, ist nicht nur so ein einmaliger Akt, der danach keine Bedeutung mehr hat. Vielmehr gilt es gerade, aus der Taufe zu leben, also das, was in der Taufe grundsätzlich geschehen ist und gegeben wurde, nun auch im alltäglichen Leben umzusetzen. Daher heißt es im vierten Unterabschnitt im Kleinen Katechismus: „Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Antwort: Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten, und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott lebe.“ (KK, IV,11-12.) Buße tun heißt also: in die Taufe zurückkehren. „Denn was heißt Buße anders, als den alten Menschen mit Ernst angreifen und in ein neues Leben treten? Darum, wenn du in der Buße lebst, so gehst du in der Taufe, welche solches neue Leben nicht allein deutet, sondern auch wirkt, anhebt und treibt; denn darin wird gegeben Gnade, Geist und Kraft, den alten Menschen zu unterdrücken, dass der neue hervor komme und stark werde.“ (GK, Teil 4, 75-76.)
Auch beim Abendmahl geht es darum, den Empfänger der Vergebung persönlich gewiss zu machen. Dazu empfängt er unter dem Brot den Leib, den Christus für ihn dahingegeben, unter dem Wein das Blut, das Christus für ihn auf Golgatha vergossen hat. Luther hat gerade die Realpräsenz von Leib und Blut Christi in, mit und unter Brot und Wein sehr betont, und zwar, wie er schon in der „Babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ darlegte, aufgrund der Einsetzungsworte. „Das Wort (sage ich) ist das, das dies Sakrament macht und unterscheidet, dass es nicht laut er Brot und Wein, sondern Christi Leib und Blut ist und heißt.“ (GK, Teil 5, 10.) „Denn auf den Worten steht alle unser Grund, Schutz und Wehre wider allen Irrtum und Verführung, so je gekommen sind oder noch kommen mögen.“ (GK, Teil 5, 19.) Denn „ist“ kann nicht „bedeutet“ meinen, sondern nur „ist“. Und selbst wenn da im Hebräischen und Griechischen das Wort selbst nicht steht, dann eben nur deshalb, weil das die Art und Weise ist, wie in diesen Sprachen im Präsens „ist“ ausgedrückt wird. Ein anderes Wort (etwa „bedeutet“) hätte ausgesprochen werden müssen. Realpräsenz meint dabei tatsächlich „praesentia in rebus“, also substantielle Gegenwart von Leib und Blut unter Brot und Wein, also in den Elementen, nicht weit weg im Himmel (der auch gar nicht „örtlich“ im reformierten Sinn verstanden werden kann), (auch nicht „Gegenwart des ekklesiologischen Leibes Christi“[74]). In den Schmalkaldischen Artikeln heißt es: „Vom Sakrament des Altars halten wir, dass Brot und Wein im Abendmahl sei der wahrhaftige Leib und Blut Christi, und werde nicht allein gereicht und empfangen von frommen, sondern auch von bösen Christen.“ (Teil III, 6. Art., 1.) Und in der Wittenberger Konkordie 1536 bezeugte er mit den Oberdeutschen: „Sie bekennen laut der Worte des Irenäus, das in diesem Sakrament zwei Dinge sind, ein himmlisches und ein irdisches. Demnach halten und lehren sie, dass mit dem Brot und Wein wahrhaftig und wesentlich zugegen sei, gereicht und empfangen werde der Leib und das Blut Christi. Und wiewohl sie keine Transsubstantiation, das ist, eine wesentliche Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und Blut Christi glauben, auch nicht halten, dass der Leib und Blut Christi localiter, das ist räumlich, ins Brot eingeschlossen oder sonst beharrlich damit vereinigt werde außerhalb der Nießung des Sakraments: Doch so lass sie zu, dass durch sakramentliche Einigkeit das Brot sei der Leib Christi usw. Denn außerhalb der Nießung, so man das Brot beiseite legt und behält im Sakramenthäuslein oder in der Prozession umherträgt und zeigt, wie im Papsttum geschieht, halten sie nicht, dass Christi Leib zugegen sei.“ (Konk.Formel, Ausf. Darl., VII, 14-15.)
Diese Auseinandersetzung mit Zwingli (sie betrifft letztlich aber auch Calvin und seine Nachfolger, auch wenn Calvin die reformierte Abendmahlslehre differenzierter dargelegt hat) hat ihren letzten Grund in der Christologie und überhaupt in der Stellung zu Gott im Fleisch. Bei Zwingli, der stark im Humanismus und damit auch der griechischen Philosophie wurzelte, ist ein grundsätzlicher Dualismus zwischen geistlich und leiblich zu finden, wie ihn Calvin auch weitergeführt hat (das sogenannte „Extracalvinisticum“: Das Irdische, Leibliche sei nicht fähig, das Himmlische, Unendliche zu fassen – was allein schon Kol. 2,9 widerspricht). Die menschliche Natur Christi tritt völlig hinter der göttlichen zurück. Der Glaube richtet sich nach Zwingli nicht eigentlich auf die eine Person aus zwei Naturen, sondern auf die göttliche Natur Christi, darum könne er nichts mit den äußeren Elementen oder Christi Leib und Blut (als der menschlichen Natur zugehörig) zu tun haben. Er zieht dann, wie die späteren Reformierten ebenso, Joh. 6, vor allem V. 63, herzu, ohne zu bedenken, dass das gesamte Kapitel überhaupt nichts mit dem Abendmahl zu tun hat. Deshalb kommt Zwingli zu seiner symbolischen Deutung, bzw. Calvin dann zu der Behauptung, nur der Glaube könne Teil haben an Christi Leib und Blut, aber eben nur geistlich, denn sie befänden sich im Himmel, daher nur geistlich zugänglich. Luther hat dagegen gemäß der Bibel entschieden an der Einheit der Person Christi, der Gemeinschaft der beiden Naturen in der einen Person, festgehalten, weil die Schrift, nicht die Vernunft Meister ist, und damit auch an den äußeren Elementen. Die Gegenwart von Christi Leib und Blut ist keine Sache des Glaubens, sondern unabhängig von Christus durch die Einsetzungsworte gegeben, weshalb auch die Ungläubigen sie empfangen, wie der Reformator es dann in den Schmalkaldischen Artikeln betont hat (siehe oben). Ein geistliches Essen findet auch für Luther statt, nämlich durch den Glauben, der das, was Christus durch seinen für uns hingegebenen Leib, sein für uns vergossenes Blut erworben hat: Vergebung der Sünden.[75] Diesen Segen hat allein der Gläubige. Der Ungläubige dagegen nimmt sich Christi Abendmahl zum Gericht. (Daher praktiziert die evangelisch-lutherische Kirche seit Luther die Anmeldung zum Abendmahl, um als Haushalter der Gaben Christi dafür Sorge zu tragen, dass möglichst niemand es sich zum Gericht nimmt, auch durch falschen Glauben oder offenbares böses Leben Unwürdige es nicht empfangen.)
Luther hat dabei festgehalten, dass es Christi Ordnung und Befehl, sein Wort, ist, wodurch die sakramentliche Vereinigung irdischer und himmlischer Elemente geschieht. „Solches sein Befehl und Einsetzung vermag und schafft, dass wir nicht schlicht Brot und Wein, sondern seinen Leib und Blut darreichen und empfangen, wie seine Worte lauten: Das ist mein Leib usw. Das ist mein Blut usw. Dass nicht unser Werk oder Sprechen, sondern der Befehl und Ordnung Christi das Brot zum Leib und den Wein zum Blut macht vom Anfang des ersten Abendmahls bis an der Welt Ende, und durch unsern Dienst und Amt täglich gereicht wird.
Also hier auch, wenn ich gleich über alle Brote spreche, dass ist Christi Leib, würde freilich nichts daraus folgen, aber wenn wir seiner Einsetzung und Heißung nach im Abendmahl sagen: Da ist mein Leib, so ist’s sein Leib, nicht unsers Sprechens und Tätelworts halben, sondern seines Heißens halben, dass er uns so zu spreche und zu tun geheißen hat, und sein Heißen und Tun an unser Sprechen gebunden hat.“ (Bd. 6, Jenaer Fol. 99; Bd. 3, Jenaer Fol. 446; in: Konk.Formel, VII, 77-78.) Damit unterstreicht er auch, dass mit der Konsekration dann auch die sakramentale Vereinigung gegeben ist, worauf sogleich die Austeilung und der mündliche Genuss folgen müssen. (Wie lange sie anhält, hat Luther dogmatisch nicht festgelegt (aber seelsorgerlich), da hierzu die Schrift nichts aussagt. Er hat aber dringend empfohlen, dass alle konsekrierten Elemente zu verzehren, um allen sonst auftretenden und doch nicht befriedigend zu klärenden Fragen aus dem Weg zu gehen. S. Wolferinusbriefe.)
Luther griff auch die altkirchliche Aussage wieder auf vom Abendmahl als dem Mittel zur Unsterblichkeit, aber nicht in dem Sinn, dass es leiblich-magisch wirke, sondern nur in dem Sinn, dass derjenige, der es das heilige Abendmahl im Glauben an Jesus Christus empfängt, dadurch auch das ewige Leben hat. Auch hier gilt also: Den geistlichen Segen hat nur derjenige, der glaubt. Wer nicht glaubt, nimmt es sich, siehe 1. Kor. 11, zum Gericht. Darum ist auch im heiligen Abendmahl das Wort entscheidend. Daher heißt es auch im Kleinen Katechismus: „Was nützt denn solches Essen und Trinken? Antwort: Das zeigen uns die Worte: Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden: Nämlich dass uns im Sakrament Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit durch solche Worte gegeben wird. Denn wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit. Wie kann leibliches Essen und Trinken solche großen Dinge tun? Antwort: Essen und Trinken tut’s freilich nicht, sondern die Worte, so da stehen: Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden. Welche Worte sind neben dem leiblichen Essen und Trinken als das Hauptstück im Sakrament; und wer denselben Worten glaubt, der hat, was sie sagen und wie sie lauten, nämlich Vergebung der Sünden.“ (KK, VI, 5-8.)
Das gemeinsame Abendmahl schafft eine Bruderschaft des Glaubens, die gegründet ist in der Einheit im rechten, wahren Glauben. Abendmahlsgemeinschaft ist daher Kirchengemeinschaft. Ohne Einheit in der Lehre kann es deshalb auch keine Gemeinschaft im Abendmahl geben. Gerade im Brief an die Gemeinde in Frankfurt am Main hat der Reformator das stark herausgehoben.
Obwohl Luther aufgrund der Bibel an der Realpräsenz von Christi Leib und Blut in den Elemente festhielt, hat er die römische Transsubstantiationslehre als eine philosophische Spekulation, die in der Bibel keine Grund hat, zurückgewiesen. „Warum weisen wir solchen Vorwitz nicht ab und bleiben schlicht bei Christi Worten und verzichten darauf, zu wissen, was da vor sich geht, zufrieden damit, dass der wahrhaftige Leib Christi kraft der Einsetzungsworte dort vorhanden ist? Ist’s denn nötig, dass wir die Art und Weise, wie Gott wirkt, begreifen?“[76] Im Abendmahl werden also Brot und Wein sowie Leib und Blut Christi ausgeteilt, und zwar der Leib Christi mit dem Brot, das Blut Christi mit dem Wein. Beide, irdische und himmlische Elemente sind tatsächlich vorhanden und werden dargereicht und empfangen, die einen auf natürliche, die anderen auf übernatürliche Weise.
Ebenso hat Luther die römische Messe entschieden abgelehnt als eine Verkehrung des biblischen Abendmahls. Zum einen, weil Christi Opfer und das Tragen unserer Strafe einmal für immer geschehen ist; zum anderen, weil ein menschliches Opfer zu unserer Rettung gar nichts bewirkt, da Gott allein es ist, der unsere Rettung wirkt; zum dritten, weil Gott es ist, der im Sakrament, auch im heiligen Abendmahl, handelt. Er schenkt uns darin seine Gnade, die Vergebung der Sünden. Dagegen hat die römische Messe das Abendmahl auf den Kopf gestellt und aus Gottes Gabe an uns ein menschliches Opfer an Gott gemacht – tatsächlich also eine Gotteslästerung. Daher bezeugt Luther auch in den Schmalkaldischen Artikeln: „Dass die Messe im Papsttum muss der größte und schrecklichste Greuel sein, als die stracks und gewaltig gegen diesen Hauptartikel [von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden, allein um Christi Verdienst willen, allein durch den Glauben; Anm. d. Verf.] strebt, und doch über und vor allen andern päpstlichen Abgöttereien die höchste und schönste gewesen ist. Denn es ist gehalten, dass solches Opfer oder Werk der Messe (auch durch einen bösen Buben getan) helfe dem Menschen von Sünden, beide, hier im Leben und dort im Fegfeuer, welches doch allein soll und muss tun das Lamm Gottes, wie droben gesagt.“ (Teil II, 2. Art., 1.) „Nun aber die Messe nichts anders ist noch sein kann (wie der Canon und alle Bücher sagen), als ein Werk der Menschen (auch böser Buben), damit einer sich selbst und andere mit sich gegen Gott versöhnen, Vergebung der Sünden und Gnade erwerben und verdienen will (denn so wird sie gehalten, wenn sie aufs allerbeste wird gehalten; was sollte sie sonst?): so soll und muss man sie verdammen und verwerfen. Denn das ist stracks gegen den Hauptartikel, der da sagt, dass nicht ein böser oder frommer Messknecht mit seinem Werk, sondern das Lamm Gottes und Sohn Gottes unsere Sünde trägt.“ (Teil II, 2. Art., 7.)
Gemäß den Einsetzungsworten, die allein für Lehre und Praxis des heiligen Abendmahls maßgeblich sind, hat Luther auch das Verbot des Laienkelchs scharf zurückgewiesen. „Sonst, wenn wir eine Einsetzung Christi abändern lassen, haben wir alsbald alle seine Gesetze zunichte gemacht, und ein jeglicher wird sagen dürfen, er sei nicht gebunden durch eins seiner Gesetze oder Stiftungen. … Ist’s aber den Laien zugleich gegeben, so folgt unweigerlich daraus, dass wir den Laien beiderlei Gestalt nicht verwehren dürfen. Wird sie denen doch verwehrt, die darum bitten, so handelt man gottlos und wider Christi Tat, Beispiel und Einsetzung.“[77] Diese Handlungsweise, es menschlicher Willkür zu unterwerfen, ob beide Gestalten gegeben werden oder nicht, ist gottlos, tyrannisch, ja eben antichristlich. Denn das Blut ist all denen zu geben, für die es vergossen wurde.[78]
Luther hatte das römische Bußverständnis in seiner ganzen Tiefe kennen gelernt und war nicht zuletzt daran verzweifelt. Rom hatte die Buße institutionalisiert, vor allem in der Beichte vor dem Priester im Rahmen des sogenannten „Bußsakraments“ mit den menschlichen Leistungen von Reue, Bekenntnis und Genugtuung. Der Glaube hatte darin keinen Platz. Luther setzt dem entgegen, dass die Buße nicht nur eine sporadische Momenthandlung ist, sondern vielmehr eine Lebenshaltung, wie er es bereits in der ersten seiner 95 Thesen ausgedrückt hat: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße usw., will er, dass das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine (stete) Buße sei.“[79] Im Kleinen Katechismus hat er es im Hauptstück von der Taufe wieder aufgegriffen: „Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten, und wiederum täglich heerauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe.“[80] Es geht bei der Buße also einerseits um das Absterben des alten Menschen und andererseits um Teilhabe an der Genugtuung, die Christus erworben hat, als Frucht des Glaubens.[81] „Und diese Buße währt bei den Christen bis in den Tod; denn sie beißt sich mit der übrigen Sünde im Fleisch durchs ganze Leben, wie S. Paulus Röm. 7. Zeugt, dass er kämpfe mit dem Gesetz seiner Glieder usw., und dass nicht durch eigene Kräfte, sondern durch die Gabe des Heiligen Geistes, welche folgt auf die Vergebung der Sünden. Dieselbe Gabe reinigt und fegt täglich die übrigen Sünden aus und arbeitet, den Menschen rein und heilig zu machen.“ (Schmalk. Art., Teil III, 3. Art., 40.)
Damit aber ein Mensch zu diesem rettenden Glauben kommt, muss er zunächst die tiefe Kluft erkennen, die zwischen ihm und Gott besteht, eben klare Sündenerkenntnis haben, damit er deutlich lernt, dass ohne diesen Zusatz er in der Werkgerechtigkeit verharrt. Darum ist es so wichtig, dass die Ichhaftigkeit, der Egoismus zerbrochen wird, was geschieht in dem, was wir auch als Buße oder Sinnesänderung bezeichnen. Dazu verwendet der HERR das Gesetz.[82] „Es ist also das eigentliche Amt des Gesetzes, dass es uns aus unserem Lager führe, das heißt, aus dem Frieden und Vertrauen auf uns selbst, und uns vor das Angesicht Gottes stelle und uns seinen Zorn offenbare. Da wird dann das Gewissen inne, dass es dem Gesetz nicht genuggetan habe noch genugtun könne, auch den Zorn Gottes nicht zu ertragen vermöge, den das Gesetz offenbart; wenn es uns so vor Gottes Angesicht stellt, das heißt, wenn es schreckt, anklagt und die Sünde aufdeckt, da ist es unmöglich, dass wir dann bestehen können. Darum fliehen wir erschrocken und schreien mit Israel: Wir müssen sterben, wir müssen sterben! Der Herr rede nicht mit uns, rede du mit uns usw.“[83] „Solches Amt [des Gesetzes] behält das neue Testament und treibt‘s auch, wie S. Paulus Röm. 1 tut und spricht: ‚Gottes Zorn wird vom Himmel offenbart über alle Menschen.‘ Ebenso 3: ‚Alle Welt ist vor Gott schuldig.‘ Und: ‚Kein Mensch ist vor ihm gerecht.‘ Und Christus Joh. 16: ‚Der Heilige Geist wird die Welt strafen um die Sünde.‘ Das ist nun die Donneraxt Gottes, damit er beide, die offenbaren Sünder und falsche Heilige in einen Haufen schlägt und lässt keinen Recht haben, treibt sie allesamt in das Schrecken und Verzagen. Das ist der Hammer, (wie Jeremia spricht): ‚Mein Wort ist ein Hammer, der die Felsen zerschmettert.‘ Das ist nicht activa contritio, eine gemachte Reue, sondern passiva contritio, das rechte Herzeleid, Leiden und Fühlen des Todes. Und das heißt denn die rechte Buße anfangen, und muss der Mensch hier hören solch Urteil: Es ist nichts mit euch allen, ihr seid öffentliche Sünder oder Heliige, ihr musst alle anders werden und anders tun als ihr jetzt seid und tut, ihr seid, wer und wie groß, weise, mächtig und heilig ihr wollt, hier ist niemand fromm. Aber zu solchem Amt tut das Neue Testament flugs die tröstliche Verheißung der Gnade durchs Evangelium, der man glauben solle, wie Christus spricht Markus 1: ‚Tut Buße und glaubt dem Evangelium‘, das ist, werdet und macht‘s anders und glaubt meiner Verheißung.“ (Schmalk. Art., Teil III, Art. 3, 1-4.)
Die Reue bezieht sich dabei nicht nur auf einzelne Sünden, sondern beschreibt auch die Zerknirschung des Sünders über seine abgrundtiefe Verdorbenheit überhaupt, dass er Gott gar nichts bringen kann. Die Reue ist also kein verdienstlicher menschlicher Akt, sondern nichts weiter als die durch den Heiligen Geist mittels des Worts gewirkte Akzeptanz der göttlichen Anklage und Strafe. Ein Bekenntnis aller Sünde, wie Rom es für die Absolution forderte, wies Luther ganz schriftgemäß (s. Ps. 19) als unmöglich zurück. Das Bekenntnis betrifft vielmehr einzelne Sünden, die in der Privatbeichte vor Gott gebracht werden, wie auch die abgrundtiefe Verdorbenheit der Natur überhaupt. Die Absolution beschränkt Luther keineswegs auf einen besonderen „Priesterstand“, sondern jeder Christ ist ja Priester, daher kann jeder Christ dem anderen die Absolution oder den Zuspruch der Sündenvergebung reichen. Die Sündenvergebung basiert dabei nicht auf verdienstlicher Reue, auch nicht auf menschlicher Genugtuung, sondern ist gegründet allein auf Gottes Erbarmen, Gnade und Christi Verdienst für uns, das, was er durch sein Leiden und Sterben für uns getan hat.[84]
Durch das Gesetz kommen also Sünden- und Verdorbenheitserkenntnis; durch das Evangelium dagegen der Glaube an Christi Vergebung. Und die Frucht, die dieser rettende Glaube dann mit sich bringt, ist die Wesensänderung, nämlich weg vom Ich, hin zu Christus als Kernhaltung.[85]
B) Die Rechtfertigungslehre[86]
Luther unterscheidet zwischen der „äußeren“ oder bürgerlichen Gerechtigkeit, die ein Mensch durch äußerliche Werke, durch ein bürgerlich ordentliches Leben und Handeln in der Gesellschaft erwirbt, die aber keine Gerechtigkeit vor Gott ist, und der „inneren“ Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit des Herzens, bei der es um die Reinheit, die Vollkommenheit des menschlichen Herzens geht. Das ist die Gerechtigkeit, die vor Gott im Gericht gilt, die sich aber kein Mensch, auch nicht durch äußere Anstrengungen, Werke, verdienen kann, sondern die reines Geschenk ist, empfangen im Glauben an Jesus Christus.[87]
Die Rechtfertigung des Sünders ist somit ein purer alleiniger Akt Gottes (SOLA GRATIA), ohne irgendeine menschliche Mitwirkung. Die Rechtfertigung ist also etwas, das dem Menschen widerfährt, etwas, darin der ganz passiv ist, weil Gott allein am Wirken ist, und zwar aus lauter Liebe.[88] „Denn in meinem Herzen herrscht allein dieser Artikel, nämlich der Glaube an Christus, aus welchem, durch welchen und zu welchem bei Tag und bei Nacht alle meine theologischen Gedanken fließen und zurückfließen. … Doch es zwingt mich, diese Scham abzulegen und ohne Scham kühn zu sein, die endlose und schreckliche Entheiligung und den Greuel, welcher in der Kirche Gottes allezeit gewütet hat und auch heutzutage nicht aufhört zu wüten wider diesen einigen und festen Fels, den wir die Lehre (locum) von der Rechtfertigung nennen, das heißt, wie wir nicht durch uns selbst (ohne Zweifel auch nicht durch unsere Werke, welche geringer sind als wir selbst), sondern durch fremde Hilfe, durch den eingebornen Sohn Gottes, Jesus Christus, von Sünde, Tod und Teufel erlöst und mit dem ewigen Leben beschenkt sind.“[89] „Diese aber, nämlich des Glaubens Gerechtigkeit, ist die allerköstlichste, welche Gott uns um Christi willen ohne unsere Werke zurechnet, ist auch nicht eine weltliche, noch eine zeremoniale, noch eine Gerechtigkeit aus dem göttlichen Gesetze, hat auch nicht mit unseren Werken zu schaffen, sondern ist völlig verschieden, das heißt, nur eine leidende Gerechtigkeit (gleichwie jene zuvor genannten tätige Gerechtigkeiten sind). Denn dabei wirken wir nichts, haben auch nichts, das wir Gott gäben, sondern empfangen nur, und leiden, dass ein anderer, nämlich Gott, in uns wirke. Deshalb kann man diese Gerechtigkeit des Glaubens oder die christliche Gerechtigkeit wohl eine leidende Gerechtigkeit nennen.“[90] „Mit diesen Worten nun: ‚Dass er uns errettete‘ usw. zeigt Paulus, wovon dieser ganze Brief handele, dass nämlich die Gnade und Christus vonnöten sei, und dass keine Kreatur, weder Mensch noch Engel, den Menschen aus dieser argen Welt erretten könne. Denn das sind Werke allein der göttlichen Majestät, die nicht in der Gewalt eines Menschen oder eines Engels stehen, dass Christus die Sünde getilgt und uns aus der Tyrannei und Herrschaft des Teufels errettet hat, das heißt, aus der argen Welt, welche ein gehorsamer Sklave und williger Nachahmer ihres Gottes, des Teufels, ist.“[91] Darum können wir mit unseren Werken nichts ausrichten. „Und zugleich wollen wir mit Paulus bekennen, dass alle unsere Werke und Gerechtigkeit nur Schade und Dreck seien, mit denen allen wir dem Teufel auch nicht ein Haar krümmen konnten.
Auch alle Kraft des freien Willens, alle pharisäische Weisheit und Gerechtigkeit, alle Orden, Messen, geistliche Stände, Heiligendienst, Gelübde, Fasten, härene Hemden usw. treten wir mit Füßen und speien sie an als das abscheulichste unflätige Kleid und das verderblichste Gift des Teufels. Dagegen wollen wir die Ehre Christi klar ans Licht stellen und verherrlichen, der uns durch seinen Tod nicht bloß von der Welt, sondern von der argen Weg errettet hat.“[92]
Das Ziel ist dabei, den Menschen zurückzuholen in die Gemeinschaft Gottes und steht zugleich verheißend für die ewige Herrlichkeit, zu der Gott uns holen will.[93] Der Mensch ist vor der Wiedergeburt, Bekehrung ja geistlich tot, tot in Übertretungen und Sünden (Eph. 2,1-3) und kann daher Gott nicht bringen, kann sich auch in keiner Weise auf die Gnade vorbereiten, sondern kann sie nur als reines Geschenk empfangen. Die Behauptung übrigens, die Rom gegenüber Luther aufgestellt hat, dass seine Entdeckung nichts Neues gewesen sei, sondern auch schon bei römischen Theologen zu finden, stimmt nur insofern, als die Occamisten die freie Gnade in Christus ohne eigenes Verdienst nur als seltene Ausnahme von der Regel kannten, aber eben nicht als die Heilsordnung selbst. Da liegt also tatsächlich ein tiefgreifender, grundlegender Unterschied vor.[94] Auch ist der Begriff der Gnade ein völlig anderer. Luther fasst den Begriff der Gnade nämlich gemäß der Bibel in seiner eigentlichen Bedeutung, als Gottes Gunst, Gottes Liebe zum Heil des Menschen, nicht als eine eingegossene Qualität oder Kraft, die es dem Menschen Stärke und Tugend gebe, damit er an seinem ewigen Errettung mitarbeiten könne (so die Lehre Roms bis heute). Im Menschen ist ja nichts als Sünde und Feindschaft gegen Gott, darum muss die Erlösung ja ganz das Werk der Gnade sein, die mit Gottes Allmacht zusammenwirkt, wodurch die Gnade Gottes die Ursache des Glaubens und alles Guten ist.[95]
Nun kann man sich allerdings fragen: Wie ist es möglich, dass der heilige und gerechte Gott Sünde vergibt, Sünder gerecht spricht? Darum hat der Vater im Rat der heiligen Dreieinigkeit von Alters her beschlossen, dass Jesus Christus um uns Sünder willen Mensch wird, damit er die Strafe tragen und so Gott mit der Welt, jedem Menschen, versöhnen kann. In Christus hat Gott jedem Menschen die Sünden vergeben. „Hier erhebt sich die Frage, wie wir die Vergebung der Sünden erlangen können, sowohl der Sünden, welche andere Leute, als auch derer, die wir selbst auf uns haben? Paulus antwortet[1,4], der Mann, welcher Jesus Christus heißt, Gottes Sohn, habe sich selbst für dieselben gegeben. Dies sind herrliche und tröstliche Worte, die auch im alten Bunde verheißen sind, dass unsere Sünden auf keine andere Weise weggenommen werden als durch den Sohn Gottes, der in den Tod dahingegeben ist.“[96] Daran hängt ja alles, darum ist das auch das höchste Wissen: Christus hat sich für uns dahingegeben. „Dies ist daher das höchste Wissen (scientia) und die rechte christliche Weisheit, dass man diese Worte Pauli für ernstliche und ganz wahre halte, nämlich dass Christus in den Tod gegeben sei, nicht um unserer Gerechtigkeit und Heiligkeit willen, sondern um unserer Sünden willen, welche rechte, große, viele, ja, unendliche und unüberwindliche Sünden sind.“[97] Gerade in Anfechtungen um der Sünde willen gilt es diese Tatsache festzuhalten und sich daran zu klammern im herzlichen Vertrauen auf unseren Retter Jesus Christus. „Christus, Gottes Sohn, ist nicht für die Heiligen und Gerechten gegeben, sondern für die Ungerechten und Sünder. Wenn ich gerecht wäre und keine Sünde hätte, so bedürfte ich des Versöhners, Christi, nicht. … Da nun meine Sünden so ernstlich, wahrhaftig, groß, unendlich, schrecklich und unüberwindlich sind, und meine Gerechtigkeit mir vor Gott nicht nützt, sondern vielmehr schadet, so ist deshalb Christus, Gottes Sohn, für dieselben in den Tod dahingegeben, damit er sie austilgte und mich und alle, die dies glauben, selig machte. … Deshalb, wenn du ein Sünder bist, wie wir sicherlich alle immer sind, so bilde dir Christus nicht vor als einen Richter, der auf dem Regenbogen sitzt, sonst wirst du erschrecken und verzweifeln; sondern ergreife seine rechte Beschreibung, nämlich diese: dass Christus, Gottes und der Jungfrau Sohn, eine solche Person sei, welche nicht schreckt, nicht plagt, uns Sünder nicht verdammt, nicht Rechenschaft von uns fordert wegen unseres schändlich verbrachten Lebens, sondern die sich selbst für unsere Sünden gegeben und durch ein einziges Opfer die Sünden der ganzen Welt abgetan, gekreuzigt und in sich selbst vertilgt hat.
Diese Beschreibung lerne mit Fleiß und besonders dies Fürwort ‚unsere‘ mache dir so zu eigen[, dass du wissest], dass diese drei Silben ‚unsere‘, im Glauben ergriffen, auch deine Sünde ganz und gar wegnehmen und austilgen, das heißt, dass du aufs allergewisseste wissest, dass Christus nicht allein die Sünden einiger Menschen, sondern auch deine und die Sünden der ganzen Welt hinweggenommen habe.“[98]
Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, ist also Christi Gerechtigkeit, uns Sündern erworben durch seinen aktiven Gehorsam und sein (passives) Leiden und Sterben für uns, empfangen ohne irgendeine menschliche Voraussetzung, Würdigkeit, Verdienst allein durch den Glauben. Sie ist keine Qualität im Menschen, sondern ein Richterspruch Gottes um Christi willen, den nur der empfängt, der sich zuvor durch das Gesetz als Sünder in seiner abgrundtiefen Verdorbenheit erkannt hat. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, durch die wir gerettet werden, ist also eine fremde, eben Christi, Gerechtigkeit.[99]
Der Glaube, den Gott der HERR durch das Wort des Evangeliums wirkt, ist zuerst lebendige Erkenntnis Gottes aufgrund der Schrift. Das ist ganz wichtig. Objekt des Glaubens ist also nicht die Kirchenlehre, sondern Gott selbst. Glauben ist weiter und vor allem Vertrauen zu Gott, gegründet in der Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus am Kreuz zeigt. Der Glaube ist ein Wagen auf Gottes Wort hin und führt in die Sohnschaft, macht zu Gottes Kindern. Allen Trost und alle Zuversicht setzt der Glaube allein auf den lebendigen, dreieinigen Gott. Das Herz ist umgewandelt und auf Gott ausgerichtet, um mit ihm zu leben. Zuvor aber muss der HERR rechte Sünden- und Verdorbenheitserkenntnis wirken, wodurch er den Sünder zerbricht, damit der seine ganze Untauglichkeit, Verdorbenheit, die Verdammnis, die er eigentlich verdient hat, erkennt und dass Gott allein ihn retten kann und ihm alles geben muss.[100] „Darum schärfen wir beständig ein, dass die Erkenntnis Christi und der Glaube nicht ein menschlich Ding oder Werk sei, sondern schlechthin eine Gabe Gottes, der den Glauben in uns sowohl schafft als auch erhält.
Gleichwie aber Gott den Glauben zuerst durch das Wort schenkt, so übt, mehrt, befestigt und vollendet er ihn darnach auch durch das Wort. Deshalb ist das der höchste Gottesdienst und der allerheiligste Sabbath, dass man sich in der Gerechtigkeit übe, mit dem Worte umgehe und es höre. Dagegen ist nichts Gefährlicheres als Überdruss am Worte Gottes.“[101] Glaube und Werke sind, wenn es um unsere Rechtfertigung, um die ewige Errettung geht, strikt zu trennen. Es ist eine falsche Lehre, wenn behauptet wird, die Rechtfertigung erhalte der, der den Glauben und die Werke aufweisen könne. „Eben dasselbe [nämlich die Einmengung des Gesetzes ins Evangelium, Anm. d. Hrsg.] haben auch die Schultheologen (sophistae = Scholastiker) und unsere Papisten getan, nämlich, man müsse an Christus glauben, und der Glaube sei der Grund der Seligkeit, aber er rechtfertige nicht, wenn er nicht durch die Liebe eine Gestalt gewonnen habe (fides formata caritate). Dies ist nicht die Wahrheit, sondern ein Schein und erdichtetes Vorgeben des Evangeliums. Das wahre Evangelium aber ist, dass die Werke oder die Liebe nicht der Schmuck oder die Vollendung des Glaubens seien, sondern dass der Glaube, an sich, die Gabe Gottes und das Werk Gottes im Herzen sei, welches darum gerecht macht, weil es den Heiland Christus selbst ergreift.“[102] Der Glaube ist also nicht, auch als lebendige Erkenntnis, ein Vernunftprodukt wie in der Scholastik, die zwischen einem Vernunftglauben und einem eingegossenen Glauben unterschied. Nur letzterer galt als Gnadengeschenk, bedeutete aber nichts anderes als volle Annahme der gesamten Offenbarung Gottes. Luther hat diese Unterscheidung abgelehnt und hervorgehoben, dass der rechtfertigende Glaube Gottes Geschenk, gewirkt durch das Wort (Evangelium) ist, nicht nur ein bloßes Ja zur Wahrheit, sondern lebendige Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott.
Gerade angesichts der Last der Sünden, der damit verbundenen Anfechtungen und Anklagen des Gesetzes gilt es, sich ganz und völlig an das Evangelium zu halten. „Hier soll ich das Evangelium zu Rate ziehen und hören, welches lehrt, nicht, was ich tun solle, denn das ist das eigentliche Amt des Gesetzes, sondern, was Jesus Christus, der Sohn Gottes, für mich getan habe, nämlich, dass er für mich gelitten hat und gestorben ist, um mich von Sünde und Tod frei zu machen. Dies anzunehmen und zu glauben befiehlt mir das Evangelium, und dies ist und heißt die Wahrheit des Evangeliums. Und dies ist der Hauptartikel der ganzen christlichen Lehre, in welchem die Erkenntnis der ganzen Gottseligkeit besteht.“[103] Wie also kann der rechtfertigende Glaube beschrieben werden? „Darum ist der christliche Glaube nicht eine müßige Eigenschaft (qualitas) oder eine leere Hülse im Herzen, welche auch bei einer Todsünde vorhanden sein könnte, bis dass die Liebe hinzukomme und ihn lebendig mache, sondern wenn es der rechte Glaube ist, so ist er eine gewisse Zuversicht des Herzens und ein festes Vertrauen, durch welches Christus ergriffen wird, so dass Christus der Gegenstand ist, auf welchen sich der Glaube richtet, ja, nicht der Gegenstand, sondern, dass ich so sage, Christus ist im Glauben selbst gegenwärtig. … Es rechtfertigt also der Glaube, weil er diesen Schatz ergreift und besitzt, nämlich den gegenwärtigen Christus.“[104] Der rettende Glaube erfasst also Christi Verdienst als für ihn, den Sünder, vollbracht. „Der erworbene Glaube wie auch der eingegossene Glaube der Sophisten sagt über Christus: ‚Ich glaube an Gottes Sohn, der gelitten hat und auferweckt worden ist‘, und damit hört er auf. Der wahre Glaube aber sagt: ‚Ich glaube wahrhaftig an Gottes Sohn, der gelitten hat und auferstanden ist, ich bin gewiss, dass er all dies für mich getan hat, für meine Sünden …‘ Dieses ‚für mich‘ oder ‚für uns‘ macht darum – wo es im Glauben erfasst wird – einen solchen rechten Glauben und unterscheidet ihn von allem anderen Glauben, der bloß von Dingen hört, die geschehen sind.“[105]
Was aber hat dies für eine Wirkung? Da die Rechtfertigung ganz Gottes Werk ist, gegründet allein auf Gottes Gnade und Christi Verdienst, und der Glaube, der sie empfängt, ergreift, ebenfalls Gottes Werk ist, gewirkt durch das Evangelium von Christus, so ist der gerechtfertigte Sünder seines Heils gewiss. Nur deshalb, weil das Heil ganz Gottes Werk ist, allein auf ihm beruht, ist Heilsgewissheit möglich. Denn wenn der Mensch auch nur zu einem geringen Teil beteiligt wäre, so wäre das Heil immer ungewiss.[106]
Gott selbst ist es, der das Herz des Menschen neu macht und die Gemeinschaft zwischen ihm und den Menschen bewirkt. Daraus folgt dann als Frucht die Heiligung, die Tat des Gehorsams. Der Glaube, wo er recht ist, kann gar nicht anders, er bringt gute Früchte. Dennoch bleibt auch der wiedergeborene Mensch Gerechter und Sünder zugleich. Denn die Rechtfertigung ist eine Gerechterklärung, nicht eine Gerechtmachung. Die Gerechterklärung ist ein punktuelles Ereignis, kommt allein von Gottes Seite und ist vollkommen. Die Gerechtmachung ist auch ein Werk Gottes, des Christus in uns, aber es wird in diesem Leben nie vollendet, sondern erst in der Herrlichkeit.[107]
Glauben und Werke, Glauben und Liebe sind also, was die Rechtfertigung des Sünders angeht, klar zu unterscheiden. Der Glaube ist die Ursache, die Liebe, die Werke sind die Frucht daraus. Das neue, veränderte Leben ist also Frucht des Glaubens und daher nicht in die Rechtfertigung zu rechnen, sondern gehört in die Heiligung. Diese Neuwerdung aber dauert unser ganzes Leben an. Der rechtfertigende Glaube wirkt dabei keinen neuen Habitus, keine qualitative Veränderung in dem Sinn, dass der neue Mensch aus eigener (eingegossener) Kraft nun Gott gehorchen könne, sondern er lebt als Frucht, aus dem Glauben, in täglichem Kampf gegen die Sünde, in täglicher Erneuerung. Das gehört zur Heiligung, ist Gottes Werk in uns, beruht nicht auf uns, sondern auf Gottes Verheißung, gehört aber nicht in die Rechtfertigung, sondern ist, das kann nicht genug betont werden, eine Folge derselben.[108] Sie ist nämlich die natürliche Frucht der Wiedergeburt, also des Glaubens: Der wiedergeborene neue Mensch ist wahrhaft ein anderer als der alte, aber nicht unabhängig von Gott, sondern nur aus Gottes Gnade, und lebt nun, als gerecht Erklärter, durch den Christus in uns. Nach seiner Lebensgerechtigkeit ist er daher auch nicht fertig, sondern im Werden, in diesem Leben nie vollkommen. Es geht dabei um die Entfaltung des in der Wiedergeburt, durch den dort gewirkten Glauben, geschenkten neuen Lebens. „Darum muss hier kurzum gar ein anderer Mensch, das ist, die ganze Person anders werden, die gar neuen Verstand, Gedanken, Sinne und Herz habe.“[109] Dieses neue Leben aus dem Glauben aber trägt nichts zu unserer Rechtfertigung, die ja längst geschehen ist, bei, bewirkt auch nichts zu unserer ewigen Seligkeit, sondern ist vielmehr eine Frucht der Rechtfertigung. Auch hier gilt es, Gesetz und Evangelium klar zu unterscheiden. „Mit diesen Worten [Gal. 2,17] klagt er die falschen Apostel und alle Werkheiligen auf das schwerste an, dass sie alles verkehren, weil sie aus dem Gesetz die Gnade, aus der Gnade das Gesetz, aus Mose Christus, aus Christus einen Mose machen. Denn sie lehren, dass nach Christus und nach aller Gerechtigkeit Christi noch die Beobachtung des Gesetzes notwendig sei, wenn man gerecht werden wolle. So wird durch eine unerträgliche Verkehrung das Gesetz zu Christus, weil dem Gesetz das beigelegt wird, was recht eigentlich Christus zukommt. Sie sagen: Wenn du die Werke des Gesetzes tust, so wirst du gerecht. Wenn du sie nicht tust, so wirst du nicht gerechtfertigt, magst du auch noch so sehr an Christus glauben.“[110]
Die guten Werke machen also nicht den Glauben, sondern sie erweisen den Glauben, sind Frucht und Zeichen des rechten Glaubens. „Zum andern, setzt die Werke so, dass sie sind ein gewisses Zeichen und wie ein Siegel an einen Brief gedrückt, damit ich sicher werde, dass der Glaub recht sei. Ursach: Fühle ich in meinem Herzen, dass das Werk daher fließt aus Liebe, so bin ich sicher, dass mein Glaube rechtschaffen ist. So ich vergebe, so macht mich das Vergeben gewiss, dass mein Glaub rechtschaffen sei, und versichert mich und beweist meinen Glauben, dass Gott mir auch vergeben hat und täglich vergebe; vergebe ich aber nicht, so mag ich frisch schließen, dass mir es am Glauben fehlt.“[111] So macht oder formt auch nicht die Liebe den Glauben, wie Augustinus und die Scholastik behaupteten, sondern der Glaube prägt die Liebe. Nur der Glaube macht das Werk vor Gott gut; denn an sich gibt es kein Werk, das vor Gott gut wäre, da alles, was wir denken, machen von Sünde durchzogen ist.[112] „Und auf solchen Glauben, Erneuerung und Vergebung der Sünden folgen dann gute Werke. Und was an denselben auch noch sündlich oder Mangel ist, soll nicht für Sünde oder Mangel angerechnet werden eben um desselben Christus willen, sondern der Mensch soll ganz, beide nach der Person und seinen Werken, gerecht und heilig heißen und sein aus lauter Gnade und Barmherzigkeit, in Christus über uns ausgeschüttet und ausgebreitet. Darum können wir nicht rühmen viel Verdienst und Werk, wo sie ohne Gnade und Barmherzigkeit angesehen werden, sondern wie geschrieben steht, 1. Korinther 1: ‚Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn‘, das ist, dass er eine gnädigen Gott hat. So ist’s alles gut. Sagen auch weiter, dass, wo gute Werke nicht folgen, so ist der Glaube falsch und nicht recht.“ (Schmalk. Art., Teil III, Art. 13,2-4.)
Es kommt also ganz darauf an, das rechte, evangelische Glaubensverständnis zu haben. Denn die Scholastik konnte auch ein „allein aus Glauben“ behaupten, meinte aber, in Anlehnung an ein falsches Verständnis von Gal. 5,6, dass der rettende Glaube der Glaube sei, der durch die Liebe tätig ist (so auch oft im Pietismus). Luther aber stellte klar heraus, dass Paulus an dieser Stelle nicht von der Rechtfertigung redet, sondern vom gesamten Christenleben. Dabei ist der rechte Glaube aber, wie schon dargelegt, ein solcher, der natürlicherweise Frucht bringt, unablässig das Gute tut.[113]
Luther hat, wie es von der Schrift her richtig ist, den Schwerpunkt auf die Kirche im eigentlichen Sinn, also die Schar der wahrhaft an Christus Gläubigen gelegt als das wahre Volk Gottes, die Gemeinschaft derer, die gerechtfertigt sind, denen die Sünden vergeben sind, die mit Christus leben. Da aber der Glaube im Herzen verborgen ist und niemand dem anderen ins Herzen sehen kann, ist diese Gemeinschaft, was ihre konkreten Glieder angeht, verborgen. Sie muss auch verborgen bleiben, weil die Gläubigen Gerechte und Sünder zugleich sind. Die Gemeinschaft der Heiligen ist also keine Gemeinschaft im Sinn des bürgerlichen Lebens, aber sie ist eine tatsächliche Gemeinschaft, nämlich des Glaubens, der Liebe und der Fürbitte.[114] „Ich glaube eine heilige, christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen. Da deutet es der Glaube klar, was die Kirche sei, nämlich die Gemeinschaft der Heiligen, das ist eine Schar oder Versammlung solcher Leute, die Christen und heilig sind; das heißt eine christliche, heilige Schar oder Kirche … , sondern Sancta, Catholica, Christiana, das heißt ein christliches heiliges Volk, das da an Christus glaubt, weshalb es ein christliches Volk heißt, und den heiligen Geist hat, de sie täglich heiligt, nicht allein durch die Vergebung der Sünden, die ihnen Christus erworben hat, sondern auch durch Abtun, Ausfegen und Töten der Sünden, wodurch sie ein heiliges Volk heißen. Und (die) heilige, christliche Kirche ist nun so viel wie ein Volk, das (aus) Christen (besteht) und heilig ist, oder wie man auch zu sagen pflegt, ‚die heilige Christenheit’, oder ‚die ganze Christenheit’. Im Alten Testament heißt es ‚Gottes Volk’.“[115] Was ist es nun, was die Kirche ausmacht? „So dass also immerdar auf Erden ein christliches, heiliges Volk am Leben sei, in welchem Christus lebt, wirkt und regiert durch Gnade und Vergebung der Sünden, und der heilige Geist durch tägliches Ausfegen der Sünden und Erneuerung des Lebens, auf dass wir nicht in Sünden bleiben, sondern ein neues Leben führen können und sollen in allerlei guten Werken und nicht in alten bösen Werken, wie die zehn Gebote oder zwei Tafeln des Mose fordern. Das ist die Lehre des Paulus.“[116] Die eigentliche Wirklichkeit der Einen Kirche ist also im Rechtfertigungsglauben zu finden, den Gott durch sein Wort wirkt und so sein Volk schafft. Darum ist die Kirche Gottes Kirche, und zwar als Kirche des Evangeliums, und er das wahre und einzige Haupt seiner Kirche und will allein in ihr durch sein Wort (und Sakrament) wirken, denn sie ist seine neue Schöpfung.[117] „Gott will allhier, das ist in der Kirche, allein reden und keinen andern leiden, da soll man nichts als allein ihn selbst und sein Wort hören.“[118] Das ist Luthers Grundanliegen im Blick auf die Kirche in all seinen Äußerungen über sie.[119]
Die Eine Kirche ist also nicht in erster Linie eine Institution; sie darf auch nicht mit irgendeiner äußeren Kirchengemeinschaft gleichgesetzt werden, wie es Rom macht. Dennoch aber ist die Eine Kirche auch eine geschichtsmächtige Größe, nämlich im Gebrauch der ihr von Gott anvertrauten Gnadenmittel (Kennzeichen der Kirche, notae ecclesiae) oder, anders ausgedrückt, in der Ausübung ihrer Funktionen, das heißt vor allem: der Verkündigung des rechtfertigenden und kircheschaffenden Evangeliums, und die äußere Versammlung daher nicht unnötig oder unwichtig, wie es die Schwärmer, Spiritualisten behaupten. Daraus entstehen dann auch Lebensformen, die nach Ort und Zeit durchaus verschieden sein können – wenn nur die Oberherrschaft des Evangeliums und damit die ungehinderte Verwaltung der Gnadenmittel, also Gottes Alleinwirksamkeit durch das Evangelium, gewährleistet ist – und, bis auf einige Eckpunkte, nicht von Gott vorgegeben sind, sondern aus menschlicher Übereinkunft in christlicher Freiheit kommen.[120] „Dies ist das rechte Hauptstück und hohe Hauptheiligtum, durch welches das christliche Volk heilig heißt. Denn Gottes Wort ist heilig und heiligt alles, was es anrührt, ja, es ist Gottes Heiligkeit selbst, Röm. 1,16: ‚Es ist Gottes Kraft, die selig macht alle, die daran glauben’; und 1. Tim. 4,5: ‚es wird alles heilig durchs Wort und Gebet’. … Wir reden aber von dem äußerlichen Wort, durch Menschen, wie durch Dich und mich, mündlich gepredigt. Denn solches hat Christus hinterlassen als ein äußerliches Zeichen, daran man seine Kirche oder sein christliches heiliges Volk in der Welt erkennen sollte.“[121] „Denn wie droben vom Wort gesagt: Wo Gottes Wort ist, da muss die Kirche sein, ebenso auch, wo die Taufe und Sakrament (des Abendmahls) sind, da muss Gottes Volk sein, und umgekehrt. Denn solche Heiligungsmittel hat, gibt, übt, braucht, bekennt niemals als allein Gottes Volk, ob auch gleich etliche falsche und ungläubige Christen heimlich darunter sind. Aber diese entheiligen das Volk Gottes nicht, insbesondere solange sie es heimlich sind. Denn die offenbaren leidet die Kirche oder Gottes Volk nicht unter sich, sondern weist sie zurecht und macht sie auch heilig, oder, wo sie nicht wollen, stößt sie sie durch den Bann von dem Heiligtum aus und hält sie für Heiden, Matth. 18,17.“[122] In seiner Schrift „Von den Konzilien und Kirchen“ hat Luther dann noch weitere, sozusagen nachgeordnete, Kennzeichen angeführt, wie: Absolution, Diener am Wort, Gebet, Kreuz und Anfechtung. Aber herausragend, bestimmend sind Wort und Sakrament.
Die Eine heilige christliche Kirche ist gewirkt durch das Wort Gottes, nämlich das Evangelium von Christus, ist creatura verbi. „Dies zwingt und macht uns gewiss, dass ein frommer Christ weiß, dass die Kirche außerhalb des Wortes Gottes nichts ordnet noch setzt; und welche das tut, die ist keine Kirche denn mit dem Namen, wie Christus sagt. Es ist nicht Gottes Wort darum, dass es die Kirche sagt; sondern, dass Gottes Wort gesagt wird, darum wird die Kirche. Die Kirche macht nicht das Wort, sondern sie wird von dem Wort; ein gewisses Zeichen, dabei wir erkennen, wo die Kirche sei, ist das Wort Gottes.“[123] Denn das Wort wirkt den rechtfertigenden Glauben, der in die communio, die verborgene Gemeinschaft der Gläubigen, eingliedert. Das heißt: Dasselbe Evangelium, das den rechtfertigenden Glauben wirkt, schafft auch die Kirche. Gottes Volk und Gottes Wort sind nicht zu trennen. „Denn Gottes Wort geht nicht ohne Frucht ab (Jes. 55,11), sondern muss zum wenigsten ein Viertel oder ein Stück vom Acker haben. Und wenn sonst kein Zeichen wäre, außer diesem allein, so wäre es doch Beweis genug, dass daselbst ein christliches, heiliges Volk wäre. Denn Gottes Wort kann ohne Gottes Volk nicht sein, und umgekehrt kann Gottes Volk nicht ohne Gottes Wort sein.“[124] Darum darf nichts in der Kirche das lebensschöpferische Heils- oder Gnadenwort Gottes in Christus an die Seite drängen, verdrängen, ablösen, denn allein durch das Evangelium wird sie erschaffen, erhalten und recht regiert. Sonst herrscht in der Kirche das Gesetz. Deshalb darf auch nichts und niemand über das Wort gesetzt werden, weder Papst noch Bischöfe noch Konzile oder Synoden, auch keine Wissenschaft, Vernunft, Bibelkritik, die versuchen, das Wort zu normieren oder zu bestimmen.[125]
Sie ist beauftragt und bevollmächtigt, die Gnadenmittel nach innen und außen zu verwalten, was dann zur äußeren Gestalt der Kirche als einer Versammlung um Wort und Sakrament führt, ebenso zum Aufrichten des von Gott geordneten Dienstes an Wort und Sakrament, dem Dienst, der die Versöhnung predigt (2. Kor. 5,19). Die eigentliche Aufgabe der Kirche ist also die Predigt des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium.[126] Es geht damit bei der Kirche um das Heilshandeln Gottes, um die Rettung durch Christi Blut erkaufter Sünder. Darum ist der wahre Schatz der Kirche, ihr von Christus anvertraut, das Evangelium. Kirche Gottes ist Kirche des Evangeliums.[127] Wort und Sakrament, als der Samen, woraus der rechtfertigende Glaube und gleichermaßen auch die Kirche erwächst, sind damit auch die Kennzeichen (notae ecclesiae) der Kirche. Das heißt: Wiewohl die Eine Kirche als die verborgene Gemeinschaft des Glaubens hinsichtlich ihrer Glieder nicht konkret erkannt werden kann, so kann doch ihr Vorhandensein erkannt werden an der Verwaltung der Gnadenmittel, weil sie nicht leer zurückkommen, sondern wirken, wozu Gott sie gesandt hat (Jes. 55,10-11), also Glauben und damit die Kirche bauen. Die äußere Versammlung aber, die durch die Verkündigung des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente entsteht, ist eine gemischte Versammlung, der nicht nur wahrhaft Gläubige angehören, sondern auch solche, die sich zwar äußerlich zu Wort und Sakrament, zum Bekenntnis, halten, aber nicht wirklich glauben (Heuchler, Scheinchristen), aber, so lange sie nicht in offenbare Sünden fallen, nicht erkannt werden können. Der Anspruch der Schwärmer, eine „Gemeinde der Heiligen“ bauen zu wollen, in der allein Gläubige Glieder sind, ist irreal, da niemand dem anderen ins Herz sehen kann.[128]
Weil der Glaube vom Heiligen Geist direkt durch das Wort gewirkt wird, ist kein Mittler zwischen Gott und dem Menschen mehr nötig, es bedarf keiner Priester mehr im alttestamentlichen oder im römischen Sinn. Jeder Gläubige ist auch direkt zum Zeugnis aufgerufen, zur Verkündigung des Heils in Christus und ist mit der ganzen Kirchengewalt bevollmächtigt, einschließlich der Sakramentsverwaltung (allgemeines Priestertum aller Gläubigen). „Haben bisher bleiben lassen müssen, dass S. Peter im ersten Spruch Matth. 16 nichts besonders für seine Person gegeben sei, und also haben es viele der alten Väter verstanden. Auch weisen es aus die Worte Christi, ehe er die Schlüssel S. Peter gab, da fragt er nicht allein Petrus, sondern allesamt und sprach: ‚Was haltet ihr von mir?’ Da antwortete Petrus für sie alle und sprach: ‚Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.’ Darum muss man die Worte Christi, Matth. 16, nach den Worten im 18. Kapitel und Johannes am letzten verstehen und einen Spruch nicht gegen zwei stärken, sondern einen durch zwei recht erklären.“[129] „Also jetzt auch, die Schlüssel sind der ganzen Gemeinde gegeben, wie droben bewiesen ist.“[130] Daher gibt es im Neuen Testament kein Priestertum mehr wie im Alten Testament oder bei Rom. „Zum ersten wollen wir von dem Priestertum handeln, und soll ein jeglicher wahrhaftiger Christ eigentlich wissen, dass im Neuen Testament kein äußerlicher, sichtbarer Priester ist, denn die durch Menschenlügen der Teufel erhoben und aufgeworfen hat. Wir haben nur einen einzigen Priester, Christus, welcher sich selbst für uns und uns alle mit ihm geopfert hat, 1. Petr. 2,24. Davon spricht Petrus, 1. Petr. 3,18: Christus ist einmal für unsere Sünde gestorben, ein Gerechter für die Ungerechten, auf dass er uns tot am Fleisch und lebendig am Geist Gott opferte. Und Hebräer 10,14: Mit einem Opfer hat er vollbracht und vollkommen gemacht ewiglich die Geheiligten.
Dies ist ein geistliches Priestertum, allen Christen gemein, dadurch wir alle mit Christus Priester sind, das ist, wir sind Kinder Christi, des höchsten Priesters. Wir bedürfen auch keines andern Priesters oder Mittlers als Christus. Ein jeglicher Priester, Hebr. 5,1, wird dazu aufgenommen, dass er bitte für das Volk und predige. So mag ein jeglicher Christ durch sich selbst in Christus beten und vor Gott treten, Röm. 5,2.“[131] Als Christen bedürfen wir daher keines Mittlers zu dem lebendigen Gott außer Christus. „Durch diese Zeugnisse der Schrift wird das äußerliche Priestertum im Neuen Testament zu Boden gestoßen; denn sie machen das Gebet, den Zutritt vor Gott und die Lehre, welches alles einem Priester eignet und gebührt, allen Menschen gemein. Wozu bedarf man eines Priesters, wenn man nicht eines Mittlers und Predigers bedarf? Sollten wir Priester setzen und haben ohne ihr Wort und Amt? Ist doch Christus allein und sonst keiner aller Christen Mittler und Lehrer, 1. Tim. 2,5.“[132] Alle Christen, alle, die durch den Heiligen Geist durch das Evangelium wiedergeboren sind, sind also Priester und Könige, 1. Petr. 2,1-4.9; Offenb. 5,10; 20,6. Der Pfarrer dagegen hat kein Priesteramt inne, wiewohl er, als Christ, auch ein Priester ist, aber nicht unterschieden von seinen Gemeindegliedern.
Allerdings soll die öffentliche Verwaltung der Gnadenmittel auf von der Gemeinde berufene Prediger übertragen werden. Die höchste Gewalt in der Kirche kommt also, unter Christus, der um Wort und Sakrament versammelten Schar der Gläubigen zu. Es gibt keine Herrschaft in der Kirche. Auch die Bischöfe sind keine Herrscher oder Herren.[133] „Denn es gehört zu dem, wer predigen will, eine gute Stimme, ein gutes Aussprechen, ein gutes Gedächtnis und andere natürliche Gaben. Welcher dieselben nicht hat, der schweigt billig und still und lässt einen andern reden. ... Denn ob wohl jedermann zu predigen Gewalt hat, so soll man doch niemand dazu gebrauchen, sich des auch niemand unterwinden, er sei denn vor andern dazu geschickt; demselben sollen auch die andern weichen und ihm statt geben, auf dass geziemende Ehre, Zucht und Ordnung gehalten werde. Denn so gebietet Paulus dem Timotheus, dass er denen das Wort Gottes zu predigen befehle, die dazu geschickt sind und die andern lehren und unterweisen können.“[134] „Ich hoffe ja, dass die Gläubigen, und welche Christen heißen wollen, sehr wohl wissen, dass der geistliche Stand sei von Gott eingesetzt und gestiftet, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit dem teuren Blute und bittern Tode seines einigen Sohnes, unsern HERRN Jesus Christus. Denn aus seinen Wunden fließen wahrlich, wie man vor Zeiten auf die Briefe malte, die Sakramente, und hat es wahrlich teuer erworben, dass man in der ganzen Welt solch Amt hat zu predigen, taufen, lösen, binden, Sakrament reichen, trösten, warnen, ermahnen mit Gottes Wort, und war mehr zum Amt der Seelsorger gehöret. Denn auch solch Amt nicht allein hier das zeitliche Leben und alle weltliche Stände fördert und erhalten hilft, sondern das ewige Leben gibt und vom Tode und Sünden erlöset, welches denn sein eigentlich vornehmlich Werk ist; und zwar die Welt allzumal stehet und bleibt allein um dieses Standes willen, sonst wäre sie längt zu Boden gegangen.“[135] Diese Prediger aber sind Gottes Boten, Gottes Mund. „Gott redet in den heiligen Propheten und Gottesmännern, wie es St. Petrus in seiner Epistel auch sagt: ‚Die Heiligen Gottes haben geredet, getrieben durch den Heiligen Geist.‘ Da soll Gott und Mensch nicht voneinander gesondert noch geschieden werden nach dem Verstand und Urteil menschlicher Vernunft; sondern man soll stracks sagen: Dieser Mensch, Prophet, Apostel oder rechtschaffene Prediger und Lehrer, was er aus Gottes Befehl und Wort redet und tut, das redet und tut Gott selber, denn er ist Gottes Mundstück oder Werkzeug. Da sollen die Zuhörer schließen und sagen: Jetzt höre ich nicht Paulus, Petrus oder einen Menschen, sondern Gott selber reden, taufen, absolvieren, strafen, bannen und das Abendmahl reichen.“[136] Dieses Eine Amt, dieser Dienst an Wort und Sakrament, ist aber keine menschliche Ordnung, kommt nicht aus einer „inneren Notwendigkeit“, ist auch nicht bloß um der Ordnung willen da, sondern dass Diener an Wort und Sakrament berufen werden, das ist Christi Wille und evangelische Ordnung („ius divinum“). Dabei kann es in der geschichtlichen Ausführung dann in vielfältigen Formen auftreten, wie es gerade nach Zeit und Ort nötig ist. „So das Amt des Worts einem verliehen wird, so werden ihm auch verliehen alle Ämter, die durch das Wort in der Kirche werden ausgerichtet, das ist: die Gewalt zu taufen, zu segnen, zu binden und zu lösen, zu beten und zu richten oder urteilen. Denn das Amt, zu predigen das Evangelium, ist das höchste unter allen, denn es ist das rechte apostolische Amt, das den Grund legt allen andern Ämtern, welchen allen zugehört, auf das erste zu bauen, als da sind die Ämter der Lehrer, der Propheten, der Regierer, derer, so die Gabe, gesund zu machen, haben, wie sie denn Paulus nacheinander ordnet 1. Kor. 12,8 ff.“[137] „Alle die, so im Pfarramt oder Dienst des Worts gefunden werden, sind in einem heiligen, rechten, guten, Gott angenehmen Orden und Stand, als die da predigen, Sakrament reichen, dem gemeinen Kasten vorstehen, Küster und Boten oder Knechte, so solchen Personen dienen usw.“[138]
Es gibt also in der Kirche keine von Gott vorgegebene Hierarchie (was ja Rom bis heute behauptet), denn über die Gemeinschaft mit Gott durch den Glauben an Jesus Christus hinaus gibt es keine Steigerung. Die Kirche ist in Wirklichkeit also eine Brüdergemeinschaft unter einem Meister, Christus (s. Matth. 23,8).[139] „Christus hat aus göttlicher Gewalt dies, und alles, was dein ist, allen unterworfen; er hat allen zu urteilen und richten, zu lesen und predigen Gewalt und Macht gegeben.“[140] Rom, als hierarchisch-institutionalistische Einrichtung hat sich von seinem ganzen Wesen her von Gott emanzipiert und will in sich selbst Kirche sein, hat sich gegen Gottes kircheschaffendes Wirken durch das Wort abgeschlossen, nicht anders als die spiritualistischen Kreise, die auf die religiöse Eigendynamik ihrer Mitglieder setzen bzw. über Gott, vor allem seinen Geist, meinen, verfügen zu können.[141] Das hieß auch für Luther nicht, sich gegen eine anstaltliche, institutionelle Seite der Kirche grundsätzlich zu stellen (wie es die Spiritualisten machen), wohl aber, Acht darauf zu haben, dass sie sich nicht vom Evangelium lösen, der Norm des Wortes nicht mehr unterworfen sind, sondern ihm in jeder Hinsicht dienstbar bleiben.[142] „Gott hat seine Kirche keinem Menschen befehlen wollen zu regieren, sondern hat’s für sich und bei sich selbst behalten und geboten, dass man nichts als sein Wort lehren solle.“[143] Deshalb gibt es auch keine von Gott vorgegebenen kirchlichen Institutionen, keine neutestamentliche Gemeindeverfassung, kein „ius divinum“ für kirchliche Ordnungen.
Das Leben wird in dieser Welt nie vollkommen werden, denn der Gläubige bleibt Gerechter und Sünder zugleich. Wo er aber in offenbare Sünde fällt und darin beharrt, ist Kirchenzucht nötig. Falsche Lehre dagegen ist in der Kirche untragbar. Denn die Lehre ist uns von Gott vorgegeben, sie ist doctrina divina, göttliche Lehre, und muss daher rein bleiben. Falsche Lehre zu dulden ist Gotteslästerung. Daher darf es keine Gemeinschaft mit solchen geben, die falscher Lehre anhängen, keine Union wahrer und falscher Kirche.[144] Die Kirche, wie Gott sie will, ist die Kirche des reinen Wortes und der unverfälschten Sakramente. „Das Gut ist so groß, dass es keines Menschen Herz begreifen kann, (darum gehört auch ein großer, harter Kampf dazu), und ja nicht so gering zu achten ist, wie die Welt tut und etliche unverständige Geister vorgeben: Man soll nicht über einen Artikel so hart streiten usw. und darüber die christliche Liebe zertrennen, sondern, ob man gleich in einem geringen Stück irrte, da man sonst in andern eines ist, möge man wohl etwas weichen und gehen lassen, und gleichwohl brüderliche und christliche Einigkeit und Gemeinschaft halten.
Nein, lieber Mann, rat mir nicht des Friedens und Einigkeit, darüber man Gottes Wort verliert; denn damit wäre schon das ewige Leben und alles verloren. Es gilt hier nicht weichen noch etwas einräumen dir oder einigen Menschen zu Liebe; sondern dem Wort sollen alle Dinge weichen, es heiße Feind oder Freund. Denn es ist nicht um äußerlicher oder weltlicher Einigkeit und Friedens willen, sondern um des ewigen Lebens willen gegeben. Das Wort und die Lehre soll christliche Einigkeit oder Gemeinschaft machen; wo die gleich und einig ist, da wird das andere wohl folgen; wo nicht, so bleibt doch keine Einigkeit. Darum sage mir nur von keiner Liebe noch Freundschaft, wo man dem Wort oder Glauben will abbrechen; denn es heißt nicht, die Liebe, sondern das Wort bringt ewiges Leben, Gottes Gnade und alle himmlischen Schätze.“[145]
Darum ist es so notwendig, dass die Christen Gottes Wort und Gottes Lehre kennen und entsprechend alle Predigt, Vortrag, Schriften usw. daran prüfen, ob sie rechtgläubig sind oder nicht und nötigenfalls die Konsequenzen ziehen. „Er heißt ein Geist der Wahrheit wider alle Lügen und falsche Geisterei. Denn die Welt ist auch allzeit voll Geister; wie man spricht: „o Gott eine Kirche baut, da baut der Teufel seine Kapelle daneben; das ist: Wo Gottes Wort rein aufgeht, da führt er nebenein Sekten und Rotten und viele falsche Geister, die auch führen den Ruhm und Namen Christi und seiner Kirche. Es ist aber im Grund alles falsch und keine Wahrheit und Gewissheit. Ich aber will euch geben (spricht Christus) den Geist, der euch sicher und gewiss macht der Wahrheit, dass ihr nicht dürft zweifeln in diesem oder jenem Stück, so euer Seligkeit betrifft, sondern der Sache gewiss und Richter sein könnt und urteilen über alle andere Lehre. So wird er euch machen nicht allein Kämpfer und Siegmänner, sondern auch das Barettlein aufsetzen und heißen Doctores und Meister sein, die gewiss können schließen, was rechte oder falsche Lehre sei in der Christenheit; so spitzig solls der Teufel nicht vorgeben und kein Rottengeist so behände sein, dass er eure Lehre falsch oder euch irre mache.“[146]
Für viele Menschen gilt die Beichte als etwas Römisch-Katholisches. Sie ist ja im evangelischen Raum leider durch den Pietismus und den darauf folgenden Rationalismus sehr in Vergessenheit und Verruf geraten. Hier und da wurde zwar mit der konfessionellen Erweckung im 19. Jahrhundert auch eine Erneuerung der Beichte versucht, aber dies gelang doch nur teilweise. Was hat nun Luther uns zur Beichte zu sagen?
Luther unterscheidet dreierlei Arten von Beichte: eine, die vor Gott geschieht; eine, die dem Nächsten geschieht; dann die Privatbeichte, die eine Beichte vor Gott im Beisein eines Nächsten ist. Es kann aber da keine rechte Beichte geben, wo es keine rechte Sündenerkenntnis gibt, sonst ist alles Heuchelei. Die Beichte vor Gott ist die entscheidende und muss unbedingt sein: Da bekennst du dich vor Gott als ein Sünder, sowohl allgemein als auch im Blick auf konkrete Sünden (wenn du dauerhaft keine konkreten nennen kannst, so ist das etwas sehr fragwürdiges, weil du dann tatsächlich gar keine Sündenerkenntnis hast und noch in tiefer Finsternis steckst). „Es gibt aber, wie ich früher mehr gesagt habe, dreierlei Art von Beichte: eine vor Gott. Denn zum ersten ist vor allen Dingen Not, dass ich mich vor Gott als einen Sünder erkenne, wie die das Evangelium folgert, Röm. 3,23 und Joh. 3,5: ‚Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.’ Wer nun bekennt, dass er vom Weibe geboren ist, muss Gott die Ehre geben und sagen: Ich bin nichts als ein Sünder, wie David in Psalm 51,7 singt: ‚Siehe, ich bin in sündlichem Wesen geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen’, als wollte er sagen: Ich muss wohl ein Sünder sein, es ist mir angeboren; sobald ich im Mutterleibe gemacht ward, war ich ein Sünder. Denn Fleisch und Blut, davon ich gemacht bin, war Sünde, wie man sagt: Wo Haut und Haar böse ist, da wird kein guter Pelz draus. So ist der Ton, aus dem wir gemacht werden, nicht gut; was Mutter und Vater dazu tut und bringt, ist schon Sünde.“[147] Wer recht beichtet, also von Herzen, der lässt es sich auch von jemand anders sagen, dass er ein Sünder ist und worin er gesündigt hat. Wer dagegen murrt, der ist noch kein Christ, dem ist es nicht wirklich ernst mit seiner Sündenerkenntnis[148]. Die andere Weise der Beichte ist diejenige, die dem Nächsten geschieht, wovon Matth. 5,23 ff.; 6,12 und Jak. 5,16 reden. Bei dieser Beichte unterscheidet Luther auch wieder zwei Arten: Die eine ist die allgemeine Beichte. Da geht es eigentlich darum, dass ein jeglicher allen anderen etwas schuldig ist und so jeder dem anderen. Sie bleibt aber recht unkonkret. Die zweite ist die persönliche Beichte dem Nächsten gegenüber, an dem man gesündigt hat. Da muss allerdings rechte Sündenerkenntnis sein, auch vor Gott, dass der Mensch dann sich so beugt, dass er auch zu dem geht, an dem er gesündigt hat, und um Vergebung bittet[149].
Die dritte Weise ist nun die Privatbeichte. Das ist die Beichte, bei der der Sünder vor Gott in Gegenwart eines anderen Christen beichtet, der ihm dann, im Auftrag Christi und an Christi Statt, die Sünden vergibt (nicht nur eine Sündenvergebung erklärt oder verheißt oder ankündigt, sondern sie wirklich vergibt). Wenn die ersten beiden Weisen, vor Gott und dem beleidigten Menschen, geschehen sind, dann ist die Privatbeichte nicht nötig. Sie ist kein Muss, von Gott nirgends befohlen, sondern eine gute Einrichtung der Kirche.
Die Privatbeichte enthält aber mancherlei Nutzen, weshalb es gut ist, wenn sie beibehalten bzw. wieder eingerichtet wird. Der Hauptnutzen ist die Absolution, also dass der Beichtende die Sünden vergeben wird durch einen anderen Christen, so, als ob Christus selbst sie ihm vergebe. „Zum ersten die Absolution, dass dich dein Nächster an Gottes Statt freispricht, was gleich viel ist, als wenn Gott selbst spräche; das sollte uns ja tröstlich sein. Wenn ich wüsste, dass Gott an einem Ort wäre und mich freisprechen wollte, sollte ichs nicht einmal noch an einem Orte, sondern so oft ich immer könnte daselbst holen. Solches hat er nun in Menschenmund gelegt. Darum ist es gar tröstlich, besonders den beschwerten Gewissen, solches da zu holen.“ [150] Der andere Nutzen ist die Unterweisung, die in diesem Zusammenhang geschehen kann, nämlich dass der Beichtvater fragen kann und so erkennen, was der Beichtende glaubt, betet, lernt. Darum hat Luther die Beichte mit dem Abendmahl verbunden, damit er die sich Anmeldenden zuvor verhören konnte, warum sie zum Abendmahl kommen wollen und was sie da glauben zu empfangen. Ein dritter Nutzen ist dies, dass sich der Beichtende dort Trost und Rat holen kann, nachfragen[151].
Wichtig: Die Privatbeichte ist kein Zwang. Es ist vom Teufel, wenn der Papst sie erzwingt, dabei sogar noch mit Hersagen aller Sünden. Das ist alles Menschenwerk und auch ganz unmöglich. Die Beichte ist freiwillig und muss es auch bleiben[152]. „Die Erzählung aber der Sünden soll frei sein einem jeden, was er erzählen oder nicht erzählen will; denn so lange wir im Fleisch sind, werden wir nicht lügen, wen wir sagen: Ich bin ein armer Mensch voller Sünde..“ (Schmalk. Art., Teil III, Art. 8,2.)
Der Gottesdienst der um Wort und Sakrament versammelten Gemeinde[153]
Jeder Mensch hat seinen Gottesdienst. Die Frage ist nur, ob es der rechte oder der falsche Gottesdienst ist. Und das entscheidet sich zuerst daran, ob er den rechten Gott hat oder einem Götzen, Abgott dient, einen selbsterdachten Gottesdienst hat, und dann, ob er die rechte Auffassung von der Gottesgemeinschaft hat. „Das Wort ‚Ich bin dein Gott‘ das Maß und Ziel ist, alles, was von Gottesdienst gesagt mag werden.“[154] Das erste Gebot ist also für den rechten Gottesdienst entscheidend, ja, die Erfüllung dieses Gebotes ist wahrer Gottesdienst. Wer dagegen nicht den wahren Gott hat, lebt in Abgötterei.[155]
Was ist der christliche Gottesdienst? Nicht wenige meinen, christlicher Gottesdienst sei, Gott anbeten, ihm Lobpreislieder singen, die Sehnsucht im Herzen haben, ihm nahe zu sein; ihm dadurch zu dienen, dass wir zu Gott singen und beten. Nun ist all das nicht völlig verkehrt, aber in dieser einseitigen Auffassung doch völlig schief und irrig. Denn hier wird Gottesdienst so aufgefasst, dass wir Gott dienen.
In der Bibel findet wir das genaue Gegenteil: Gott dient uns, und erst dann, als Frucht der daraus entstandenen neuen Gemeinschaft, kann der Mensch Gott dienen. Gott ist der an uns handelnde Gott. Wir sind dazu aufgerufen, uns im Glauben diesem Gott zuzuwenden; das ist dann unser rechter Gottesdienst.[156] Der wahre Glaube ist dabei „ein aktiver Glaube, der von Christus beherrscht ist und zum Kampf gegen die Werke des Teufels, der Abgötterei, getrieben wird, indem er einen wahren Gottesdienst übt. Das Leben des Christen im Alltag ist Gottesdienst ist ein Leben, in dem er gemäß Gottes Gebot Gott im Nächsten dient.[157]
Die Erneuerung des Gottesdienstes durch Luther ging im Kampf zum einen gegen den römischen Missbrauch, zum anderen gegen die schwarmgeistige Entartung. Rom hat den Gottesdienst verfälscht, indem das Wort Gottes in den Hintergrund tritt, vor allem was seine Auslegung angeht. Außerdem gilt der Gottesdienst als Leistung, als ein verdienstliches Werk, das Gott gebracht wird. Die Schwärmer dagegen hatten ihn völlig vergeistigt und verwarfen alles „Äußere“ als „fleischlich“, einschließlich Gewänder, Bilder, Orgel. Für Luther steht im Zentrum des Gottesdienstes das Wort Gottes, und zwar nicht nur gelesen, sondern auch ausgelegt, verkündigt. „Fleisch“ ist für Luther nicht das Äußere an sich, sondern das, was aus der Fleischeslust kommt. Bilder und Zermonien aber z.B. können dem Verständnis des Wortes und so der Erbauung dienen. Gottesdienst ist für ihn Gemeinschaft mit Gott und Gemeinschaft untereinander; ist Abladen der Sünden bei Christus und empfangen der Vergebung sowie Mittragen der Sorgen und Lasten der Mitchristen.[158]
Gott dient uns mit seinem Wort und seinem Werk, so schon in der Schöpfung. Seine Geschöpfe, Adam und Eva, sollten dann ihm dienen, indem sie den Garten Eden bebauten und nicht vom Baum der Erkenntnis aßen. Gott hat seinem Volk Israel gedient, indem er es aus der Sklaverei in Ägypten herausführte und gab ihm dann seine Gebote und Ordnungen. Vor allem aber hat Gott allen Menschen in Jesus Christus gedient, in seinem Wort, seinen Wundern, seinem Gehorsam, Leiden und Sterben und so die Erlösung für alle Menschen vollbracht.
Und Gott dient uns bis heute. Christus kommt in seinem Geist zu uns in Wort, Taufe und Abendmahl und ist dadurch wirksam und entzündet in uns den rettenden Glauben, das heißt, macht Wohnung in uns und übernimmt die Herrschaft in unserem Leben, hat damit die Glaubensgemeinschaft zwischen sich und uns begründet. „Denn so tut Gott mit uns, dass er uns beiderlei vorlegt: sein Werk und sein Wort. Das Werk soll der Leib tun, das Wort soll die Seele fassen. Denn wo das Werk ohne Wort würde vorgelegt, wäre es niemand etwas nütze. … (34) So teilt Gott also nach beiderlei Maß und gibt das Wort für die Seele und das Werk für den Leib, auf dass sie beide selig werden und einerlei Gnade genießen unter zweierlei Weise, einem jeglichen sein bescheiden Teil.“[159] (Die Verbindung mit Christus ist keine „Beziehung“, an der wir zu arbeiten hätten, die mal besser und mal schlechter ist, sondern sie ist wirkliche Gemeinschaft oder Vereinigung, von Christus durch Wort und Sakrament begründet. Sie kann wohl durch Sünde, wenn sie herrschend wird, zerstört werden; aber da, wo Christus durch Wort und Sakrament wirkt und so der Glaube entzündet und erhalten wird, ist die Gemeinschaft vorhanden.) Der Gottesdienst ist also bestimmt von Gottes Offenbarung in den äußeren Mitteln und kommt nicht aus menschlichem Antrieb. Und dass Gott uns so dient, geschieht nicht nur einmal, sondern er kommt immer wieder in Wort und Sakrament zu uns, bringt seine Vergebung mit und wirkt an uns. Die Predigt ist also ein Offenbarungshandeln Gottes, nicht ein Reden von Gottes Handeln.[160] Und wir antworten in der Glaubensgemeinschaft mit Christus darauf a) in Sündenbekenntnis, Glaubensbekenntnis, Anbetung, Lobpreis, Fürbitte und Gebet (liturgischer Gottesdienst); b) indem wir anfangen, gemäß unserem Stand, unseren Berufungen Gottes Willen nach seinen zehn Geboten zu tun, also dem Nächsten in Liebe zu dienen und so unser ganzes Leben mit all seinen Alltagsverrichtungen ein rechter Gottesdienst ist (alltäglicher Gottesdienst). Dieser Gottesdienst ist aber nur möglich, wenn er aus dem Zentrum heraus geprägt und gestärkt wird, eben dem Gottesdienst der im Namen Jesu um Wort und Sakrament versammelten Gemeinde.
Der Gottesdienst ist also Gottes Gabe, nicht ein menschliches Opfer.[161] Auch sind nicht Zeremonien das Entscheidende, sondern Christi Geschenk des Evangeliums.[162] Das gilt besonders für die Messe, die eben nicht menschliches Opfer ist, sondern Gottes Gabe: „Denn das heißt ein rechter Gott, der da gibt und nicht nimmt, der da hilft und nicht sich helfen lässt , - - - Summa, der alles tut und gibt, und der niemandes bedarf, und tut solches alles umsonst, aus lauter Gnaden ohne Verdienst, den Unwürdigen und Unverdienten, ja den Verdammten und Verlorenen. Solches Gedächtnis, Bekenntnis und Ehre will er haben.“[163] Das Messopfer widerstreitet also Gott selbst und seiner Natur.[164]
Im Zentrum des Gottes steht das Wort. „Aber die Summa sei die, dass es ja alles geschehe, dass das Wort im Schwang gehe und nicht wiederum ein Heulen und Dünken draus werde, wie bisher gewesen ist. Es ist alles besser nachgelassen als das Wort.“[165] Gott redet durch das Wort zu uns, durch das Wort hat er sich uns offenbart. Darum ist es höchster Gottesdienst, Gottes Wort zu hören und ihm zu glauben.[166] Vor allem: Dieses Wort ist Fleisch geworden. In Christus ist Gott selbst zu uns in diese Welt gekommen, um uns aus der Macht der Finsternis zu erretten. Darum ist die Verkündigung Kampf gegen Gottes Feinde zur Rettung von Menschen.[167] „So muss das Wort Gottes nicht geringe, sondern die allermächtigsten Feinde haben, an welchen es kann Ehre einlegen, nach seiner großen Gewalt, als denn diese vier Gesellen sind: Fleisch, Welt, Tod, Teufel. Daher Christus heißt der HERR Zebaoth, das ist ein Gott der Heerfahrt oder Heerscharen, der immer kriegt und in uns zu Felde liegt.“[168] Wir sind aber nicht allein in diesem Kampf, sondern die Predigt ist Kampfhandlung Christi, der der eigentlich Wirkende ist im Gottesdienst. So taten die lieben Apostel. Sie schlugen getrost um sich mit dem Wort Gottes, wo der Teufel mit seinem Reich am dicksten und stärksten war. Und rissen und nahmen ihrer viel von ihm, zertrennten und zerstörten ihm sein Reich in allen Landen, wie wir lesen in Actis [Apostelgeschichte], wie S. Paulus mit dem Teufel kämpft und ritterlich ficht und allenthalben gewann. Darum er auch solch Predigen pflegt zu nennen einen Kampfstreit, Fechten und Ritterspiel usw. Also wir jetzt auch und alle Christen bis zum Jüngsten Tag tun, dass wir dem Teufel viel Leute abschlagen und aus seinem Rachen reißen.“[169] Wichtig: Die Predigt muss schriftgemäß und christozentrisch sein.[170] In rechter Weise christozentrisch aber ist sie, wenn es vor allem um den Christus des Evangeliums geht, nicht der Christus des Gesetzes dominiert. Es geht also auch um die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.[171]
Christus kommt aber nicht nur im Wort allein zu uns, sondern auch im Wort, verbunden mit Brot und Wein. Der verborgene und doch in seiner Schöpfung überall gegenwärtige Christus ist mit seinem Leib und Blut in besonderer Weise gegenwärtig in, mit und unter Brot und Wein – für uns, zu unserem Heil, nicht, wie bei Rom, an sich. Darum ist auch das Abendmahl Handeln Gottes für uns, wir Menschen sind Empfangende (Sakramentum, nicht Sakrifizium).[172]
Im Gottesdienst wirkt Christus durch das Wort den Glauben. Und der Glaube empfängt, ergreift das Wort.[173] Wohl wird dieser Glaube dann aktiv, soll auch im Alltag lebendig sich zeigen – aber niemals losgelöst vom Wort, vom Evangelium, sondern immer als der, der wirken kann nur, weil er aus dem Evangelium empfängt.[174] „Eines heiligen Menschen leben steht mehr im Nehmen von Gott als im Geben; mehr im Begehren als im Haben; mehr im fromm Werden als im fromm Sein, wie S. Augustinus spricht.“[175] Dieser Glaube wird also wirksam, nämlich im Opfer, im Lob- und Dankopfer, im Gebetsopfer und im leiblichen Opfer.[176] Das heißt auch: „Der alte Mensch muss mit Christus getötet und gekreuzigt werden.“[177] Dies Opfer aber ist für den Menschen das allerfeindseligste und unangenehmste Ding auf Erden. Denn es tötet und verdammt und geht im Widerspiel alles, das der Welt und dem Menschen wohl gefällt und recht dünkt. … (Gott) ist der Zimmermann, wir sind das Holz dazu, das Werk ist das liebe heilige Kreuz, welchs folgen muss auf die Lehre des Evangeliums. Hier zimmert und arbeitet er an uns, hofelt und schnitzt, dass er den alten Menschen in ins töte … und uns also vollkommen bereite, dass wir seine neue Kreatur seien.“[178]
Gottesdienst ist also Leben in der von Gott durch Wort und Sakrament gewirkten und erhaltenen Glaubens- oder Gottesgemeinschaft und so in seinem Kern Erfüllung des ersten Gebots.
Es mag verwundern, bei Luther über Missionsverständnis zu lesen, denn allerdings hat Luther niemanden in die Mission nach Übersee ausgesandt und auch nirgends direkt dazu aufgefordert. Dennoch wäre es falsch zu meinen, Mission habe für Luther gar nicht existiert, er habe von neu entdeckten Ländern und den dort lebenden Heiden nichts gewusst oder es hätte ihn nicht interessiert. Im Unterschied zu späteren Jahrzehnten war sich Luther sehr wohl im Klaren, dass der Missionsauftrag der Kirche aller Zeiten gilt und dass allen Völkern dieser Erde die frohe Botschaft gebracht werden muss. Das zeigt sich in seinen Predigten über die Schlussverse des Markusevangeliums: „Allhier begibt sich eine Frage über den Spruch: Geht hin in alle Welt; wie dieser Spruch zu verstehen ist und zu halten, da die Apostel ja nicht in alle Welt gekommen sind! Denn es ist kein Apostel her zu uns gekommen; auch sind viele Inseln gefunden worden noch zu unsern Zeiten, die da Heiden sind, und niemand hat ihnen gepredigt, und die Schrift sagt doch, ihre Lehre sei erschollen in alle Lande und ihr Richtschnur sei in die ganze Welt ausgegangen. Antwort: Ihre Predigt ist in alle Welt ausgegangen, wiewohl sie in alle Welt noch nicht gekommen ist. Dieser Ausgang hat angefangen und angegangen, wiewohl er noch nicht vollbracht und ausgerichtet ist, sondern wird je weiter und ferner gepredigt bis an den Jüngsten Tag. … Es ist eben um diese Botschaft der Predigt, wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft, der macht Bülgen und Kreise und Striemen um sich, und die Bülgen walchen sich immer fort und fort, eine treibt die andere, bis dass sie an das Ufer kommen. Wiewohl es mitten inne stille wird, dennoch ruhen die Bülgen nicht, sondern fahren vor sich. So geht es auch mit der Predigt zu: Sie ist durch die Apostel angefangen und geht immerdar fort und wird durch die Prediger weiter getrieben, hin und her in die Welt gejagt und gefolgt, wird doch immer weiter denen, die sie zuvor nicht gehört haben, kund gemacht, wiewohl sie mitten unter dem Weg ausgelöscht und eitel Ketzerei wird.“[179] „Das Evangelium soll niemand vorenthalten werden, bis dass es komme bis an die Enden der Welt, wie im Psalm steht. So ist es auch jetzund zu uns gekommen, die wir liegen am Ende der Welt, denn wir liegen hart am Meere.“[180] Das zeigt, dass für Luther ganz klar kein Volk der Erde ausgenommen ist von der frohen Botschaft. „Denn der Herr spricht: Predigt allen Kreaturen, damit er alle Stände fassen will, dass kein Kaiser, kein König auf Erden so mächtig sein soll, er soll diese Lehre des Evangeliums hören, annehmen und glauben oder er soll verdammt sein.“[181] Dabei macht Luther auch deutlich, dass Weltmission nicht meint, die äußere Ordnung in den Völkern zu ändern, ihnen andere politische Systeme aufzuzwingen, sondern eben: Predigt des Evangeliums. „Wiederum hat auch das Reich Christi nichts zu tun mit jenen äußerlichen Sachen, lässt solch Wesen bleiben ungeändert, wie es ist und geht in seinen Ordnungen. Denn Christus befiehlt, dass sie sollen das Evangelium predigen allen Kreaturen; die Kreaturen sind und stehen alle zuvor da, ehe er mit dem Evangelium kommt, d.i., alle weltlichen Sachen und Ordnungen, so von Menschen nach der Vernunft und von Gott eingepflanzter natürlicher Weisheit gefasst sind, welche auch St. Petrus nennt menschliche Kreaturen, 1. Petr. 2, und doch auch Gottes Ordnungen heißen, Röm. 13. Darin will Christus nichts Neues oder anderes machen, sondern lässt sie bleiben, wie sie sind und heißen; allein dass er der Welt lässt sagen von diesem seinem ewigen Reich, wie man dazu komme, dass man der Sünde und ewigen Todes los werde, dass ihm in dem alle zugleich ohne Unterschied unterworfen sein sollen und ihn für ihren Herrn erkennen durch den Glauben.“[182]
Die Frage mag im Raum stehen: Warum hat Luther dann nicht mit der Überseemission begonnen? Diese Frage stellen heißt, die historischen Umstände zu vergessen. Durch Gottes Gnade war die Reformation in vielen Ländern durchgedrungen – und in diesen Ländern fing man somit an, das Evangelium zu predigen, so dass Luther nicht ganz zu Unrecht fragte, ob wohl Deutschland zuvor je das Evangelium so gehört habe. Das heißt: Die Heiden, mit denen man es vor der Hand zu tun hatte, waren die Menschen im eigenen Land. Mission hieß also zunächst Binnen- oder Innere Mission. Es ging um die Festigung der Reformation, die Konsolidierung der erneuerten Kirche. Das war das Naheliegende. Die Welt wurde darüber nicht vergessen, konnte aber noch nicht in Angriff genommen werden. Zur zweiten Bitte des Vaterunsers (Dein Reich komme) schrieb er: Derhalben bitten wir nun zum ersten, dass solches bei uns kräftig werde und sein Name so gepriesen durch das heilige Wort Gottes und christliche Leben, beide, dass wir, die es angenommen haben, dabei bleiben und täglich zunehmen, und dass es bei andern Leuten ein Zufall und Anhang gewinne und gewaltig durch die Welt gehe, auf dass ihrer viel zu dem Gnadenreich kommen, der Erlösung teilhaftig werden, durch den Heiligen Geist herzugebracht, auf dass wir so allesamt in Einem Königreich, jetzt angefangen, ewig bleiben.“[183] Auch war es so, dass zu Luthers Zeit kein evangelischer Staat Besitzungen in Übersee hatte, und in die spanischen und portugiesischen Kolonien konnten sie nicht reisen. Und die skandinavischen Länder, Norwegen und Schweden, hatten im eigenen Land mit den Samen noch selbst genug Heiden vor der Tür.[184]
Wiewohl Luther in seinen 95 Thesen sich allerdings noch fest in der römisch-katholischen Kirche verankert sieht und ja nichts anderes anstrebte als deren Rückkehr zur Kirche der Apostel, so ist schon in seinen Thesen der Grund gelegt dafür, dass der Primat des Papstes fällt, und zwar vor allem in der 58. These: „Auch sind es nicht die Verdienste Christi und der Heiligen, denn diese bewirken immer, auch ohne den Papst, Gnade für den inneren Menschen, Kreuz, Tod und Hölle für den äußeren Menschen.“[186] Hier hat Luther eine sehr weitreichende Aussage gemacht, nämlich dass unser ewiges Heil, dass der rechtfertigende Glaube nicht gebunden ist an Institutionen, Ämter, sondern allein an das Evangelium, durch das uns Christi Verdienst, für uns erworben durch seinen Gehorsam, Leiden und Sterben, angeboten, dargereicht, zugeeignet, geschenkt wird. Dies hat Luther später, wie wir noch hören werden, in den Schmalkaldischen Artikeln nochmals untermauert. Dies ist ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der biblisch-reformatorischen evangelisch-lutherischen Lehre und derjenigen Roms.
In seiner Disputation mit Eck 1519 wird Luthers Stellung zum Papsttum weiter präzisiert: Matthäus 16, 18 lässt Luther als Zeugnis für das Papsttum nicht gelten, da die Worte ja keineswegs nur auf die römische Kirche gehen. Die Einheit der Kirche ist ja nicht auf das Papsttum, sondern auf den einen Glauben, die eine Taufe, den einen Herrn gegründet. „Daher beruht die Einheit der Kirche nicht auf der Einheit der römischen Oberherrschaft, sondern viel besser, wie der Apostel sagt Eph. 4,5, auf der Einheit des Glaubens, der Taufe, des Herrn, wie Cyprian in seinen Briefen auch häufig ausspricht.“[187] So setzt er den Begriff „Fels“ zunächst einmal in Beziehung zu dem Glauben der Kirche[188], um dann darzulegen, wer oder was mit „Fels“ tatsächlich gemeint ist, nämlich, gemäß des Heiligen Geistes Auslegung dieser Stelle in 1. Kor. 3,11, Christus selbst. „Wenn nun auch Augustinus und alle Väter den Petrus verstanden haben unter dem Fels, so werde ich, der ich Einer bin, ihnen widerstehen mit dem Spruche des Apostels, das heißt, mit göttlichem Rechte, da er schreibt 1. Kor. 3,11: ‚Einen andern Grund kann niemand legen, als der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.’, und dem Spruche 1. Petr. 2,4 ff., wo Petrus Christus den lebendigen Stein und den Eckstein nennt, indem er lehrt, dass wir darauf zu einem göttlichen Hause gebauet werden. Sonst, wenn Petrus der Grund der Kirche wäre, so wäre die Kirche gefallen durch die Stimme Einer Magd, der Türhüterin, während doch die Pforten der Hölle sie nicht sollten überwältigen können.“[189] „Ich glaube nicht, dass der Herr durch diesen Ausspruch etwas anderes angezeigt habe als diese Worte, welche Petrus dem Herrn antwortete, da er sagte: ‚Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes’, weil auf diesen Artikel des Glaubens die Kirche gegründet ist. Also hat Christus die Kirche auf sich selbst gegründet.“[190]
In seiner ein Jahr später erschienen Schrift „Vom Papsttum zu Rom wider den berühmten Romanisten zu Leipzig geht Luther unter anderem nochmals auf Matth. 16,18 ein: Die immer wieder angeführte Stelle aus Matthäus 16,18 wird von Rom völlig falsch ausgelegt. Sie wird dagegen vom Heiligen Geist selbst gedeutet in Matthäus 18, nämlich dass die Gewalt der gesamten Gemeinde gegeben ist, ebenso auch Johannes 21. In Matthäus 16,18 geht es gar nicht in erster Linie um Petrus, denn es sind alle Apostel, alle Christen angesprochen. „Haben bisher bleiben lassen müssen, dass S. Peter im ersten Spruch Matth. 16 nichts besonders für seine Person gegeben sei, und also haben es viele der alten Väter verstanden. Auch weisen es aus die Worte Christi, ehe er die Schlüssel S. Peter gab, da fragt er nicht allein Petrus, sondern allesamt und sprach: ‚Was haltet ihr von mir?’ Da antwortete Petrus für sie alle und sprach: ‚Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.’ Darum muss man die Worte Christi, Matth. 16, nach den Worten im 18. Kapitel und Johannes am letzten verstehen und einen Spruch nicht gegen zwei stärken, sondern einen durch zwei recht erklären.“[191] Alle Apostel haben daher die gleiche Gewalt. Petrus hat auch selbst nie einen Apostel eingesetzt, was ja hätte sein können, wenn er über ihnen gestanden wäre. Selbst Matthias und Paulus sind weder von ihm noch von allen Aposteln zusammen eingesetzt worden, sondern allein von Christus. Wie sollte dann Petrus Herr über sie alle sein?[192]
Bereits 1519 hatte Luther in einem Brief an Spalatin die Frage gestellt, ob nicht das Papsttum der Antichrist ist. Das wurde ihm je länger je mehr zur Gewissheit. In seinem „Nachwort zu der Abhandlung des Johannes Nannis von Viterbo über die Herrschaft des Papstes“, die wohl aus dem Jahr 1520 stammt, also nur etwa ein Jahr nach der Disputation mit Eck, bekennt Luther schon unmissverständlich, dass das römische-katholische Papsttum der Antichrist ist. In aller Schärfe weist er die Anmaßung des römischen Bischofs zurück, Hirte der ganzen Kirche zu sein: „..., obgleich nach den Lügen des Teufels selbst, des Vaters der Lügen, keine unverschämtere und unreinere Lüge unter der Sonne je vorgebracht ist, als dass der römische Bischof der Hirte der ganzen Kirche sei.“[193] Luther vergleicht das Papsttum in dieser Schrift mit Judas Ischarioth und seinem die Apostel verwirrenden verräterischen Treiben, weist darauf hin, dass unter der Vorgabe, die Schafe zu weiden, tatsächlich eine Tyrannei errichtet worden ist. Er beschreibt das Papsttum nach der Offenbarung Jesu Christi an Johannes als den Antichristen, die geistliche Hure, trunken nach dem Blut der Heiligen, die wütet gegen den wahren Glauben an Christus und deshalb der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens ist[194], wie ja Paulus den Antichristen im 2. Thessalonicherbrief beschreibt.
In der Auseinandersetzung mit Ambrosius Catharinus 1521 vertieft er dies noch. Die wahre Kirche ist also weder an einen bestimmten Ort, etwa Rom, gebunden, noch an eine bestimmte Person, etwa den Papst, sondern steht allein im Glauben an Christus und sein Wort. Genau das Gegenteil aber behauptet die römisch-katholische Kirche, die das Heil bindet an Personen, die es Kraft ihrer Weihe vollständig weitergeben könnten. Aber genau das macht den Antichrist aus, dass er das Heil an Personen und Orte bindet und nicht an Christus und sein Wort allein. „Was ist es denn nun für eine Unsinnigkeit der gottlosen Papisten, dass sie die Kirche Gottes, die am allermeisten gefreiet ist, an einen besonderen Ort und Person, als ob sie deren nicht entraten könnte, binden dürfen? Und sagen, der sei nicht ein Christ, der diesen Papst, obschon er gottlos ist, wohnend an der heiligen Stätte, nicht anbeten will, und solle niemandem helfen, wenn er frei dahin, wo er wollte, jemanden für einen Hirten hätte. Dies ist der rechte Greuel, der sich an die heilige Stätte gestellt hat [Matth. 24,15]. Das sind die kräftigen Irrtümer, die über die Gottlosen Gott schickt [2. Thess. 2,4.11]. Denn so eine Stätte und besondere Person zu der Seligkeit nötig sind, so folgt, dass alle die, so dieselbe Stätte und Person haben und ehren, selig und heilig sind.“[195] Luther macht damit deutlich, dass die römisch-katholische Amts- und Sakramentslehre durch und durch antichristlich ist, weil sie das Heil an Menschen bindet und damit den freien Zugang zum Heil im Glauben an Jesus Christus versperrt. Er betont, dass die Kirche all dies gar nicht benötige und auch nicht habe. Das Amt und bestimmte Stätten gehören eben nicht zum Wesen der Kirche. Dass das Papsttum der Antichrist ist, macht Luther unter anderem daran fest, dass Rom die biblische Rechtfertigungslehre, das Zentrum des christlichen Glaubens, umgestoßen hat, dass es aus der Gabe des Abendmahls ein menschliches Opfer gemacht hat, dass der römische Bischof sich anmaßt, Stellvertreter Christi zu sein und gewissensverbindliche Gesetze für die Christen erlässt, die keinen Grund in der Schrift haben. Was also kennzeichnet das Reich des Antichristen? Es ist ein Reich der Selbstgerechtigkeit und neuer, menschengemachter, Gesetze. „Denn also ist aufgekommen das Reich des römischen Antichrists, dass man bald, ja gleich noch zu Zeiten der Apostel, angefangen hat, durch die Werke wollen fromm und selig werden; darnach, dass man etliche Weisen und Gebärden des Gottesdienstes in der Kirche (wie sie sagen) zu einer Zier und Wohlstand hat angerichtet. Zuletzt hat dieselben der römische Bischof alle zu Haufen gerafft und dieselben in harte und strenge Gesetze verwandelt und damit die christliche Freiheit unterdrückt, so gar, dass es jetzt ohne alle Maße eine größere Sünde ist, wenn einer wider diese Gebärden und Gesetze sündigt, als so er sündigt gegen Gottes Gebot.“[196] Darum erkennt Luther im Papsttum den in Dan. 8,24 im Antichristen geweissagten Verderber wieder. „Das ist so viel geredet, als, er wird den Glauben in Christus und das Reich der guten Gewissen verderben; welches Reich Christi heißt das Reich Gottes, das Himmelreich und das Reich der Wahrheit. ... Darum der König, der ein Verderber ist des Himmelreichs und ein Verderber des schlichten einfältigen Wesens in Christus (wie Paulus sagt [2. Kor. 11,3]), ist niemand anders als eben der rechte Antichrist, der für den Glauben die Werke, für die Wahrheit einen Schein, für die Geheimnisse lauter Gebärde, für das Evangelium seine Vorschläge, für das schlichte Wesen Betrug und Listigkeit, dazu für das Wort Gottes seine geistlichen Rechte vorhält und lehrt, und alsdann dadurch verderbt die Gewissen und verwüstet den Geist der Wahrheit.“[197] Dieses Reich ist völlig entgegen gesetzt dem Reich Christi, das ein Reich der Freiheit ist, denn Christus hat uns freigemacht aus der Knechtschaft des Gesetzes, damit wir nicht mehr aus Zwang etwas tun müssten, sondern aus dem freien Ja des Glaubens. Der Papst aber hat seine Gesetze aufgerichtet.[198]
In besonderer Weise wird dieser Angriff des Papsttums gegen Christi Ordnung deutlich an den Sakramenten. Luther spricht hier im Zusammenhang mit der römisch-katholischen Messe vom täglichen Frevel am Altar. „Aber lasset uns kommen auf die allergrößten und greulichsten Sünden unter allen, die er tut, das ist, auf den Frevel, den er täglich begeht und bisher an dem Sakramente des Altars, an der Taufe und Buße begangen hat.“[199]
In den Schmalkaldischen Artikeln hat Luther das nochmals bekräftigt. Darum, weil es sich gegen und über Christus setzt, ist das Papsttum der rechte Antichrist. Als solcher hat es falsche Lehre aufgebracht, einen eigenen Gottesdienst eingerichtet, verdammt, plagt, verfolgt dagegen die wahren Christen. „Dies Stück zeigt gewaltiglich, dass er der rechte Antichrist oder Widerchrist sei, der sich über und wider Christus gesetzt und erhöht hat, weil er will die Christen nicht lassen selig sein ohne seine Gewalt, welche doch nichts ist, von Gott nicht geordnet noch geboten. Das heißt eigentlich ‚über Gott und wider Gott sich setzen’, wie St. Paulus sagt 2. Thess. 2. ... Zuletzt ist’s nichts als eitel Teufel, da er seine Lügen von Messen, Fegfeuer, Klösterei, eigenem Werk und Gottesdienst (welches denn das rechte Papsttum ist) treibet über und wider Gott, verdammt, tötet und plagt alle Christen, so solchen seinen Greuel nicht über alles heben und ehren. Darum, so wenig wir den Teufel selbst für einen Herrn oder Gott anbeten können, so wenig können wir auch seinen Apostel, den Papst oder Antichrist, in seinem Regiment zum Haupt oder Herrn leiden. Denn Lügen und Mord, Leib und Seele zu verderben ewiglich, das ist sein päpstlich Regiment eigentlich, wie ich dasselbe in vielen Büchern bewiesen habe.“[200] Luther hebt erneut hervor, dass das Papsttum nicht nach göttlichem Recht das Haupt der Christenheit sei, sondern dass dies allein Jesus Christus zukommt, während der Papst nichts anderes ist als Bischof von Rom, und als solcher nicht über anderen Christen steht, sondern ihnen als ihr Bruder zur Seite. „Dass der Papst nicht sei iure divino oder aus Gottes Wort das Haupt der ganzen Christenheit (denn das gehört einem allein zu, der heißt Jesus Christus), sondern allein Bischof oder Pfarrherr der Kirche zu Rom und derjenigen, so sich williglich oder durch menschliche Kreatur (das ist, weltliche Obrigkeit), zu ihm begeben haben, nicht unter ihm als einem Herrn, sondern neben ihm als Brüder und Gesellen, Christen zu sein, wie solches auch die alten Konzilien und die Zeit St. Cyprians zeigen.“[201] Dabei ist die Wirkung des Papsttums in der Geschichte vor allem Verderben für die Christenheit.[202]
Von Roland Bainton, einem amerikanischen Lutherbiographen, wird überliefert, dass man wünschen könnte, Luther wäre gestorben, bevor er seine Spätschriften gegen die Juden geschrieben habe, gemeint ist besonders „Von den Juden und ihren Lügen“.[204] Dies macht deutlich, wie schwer es bis heute den Menschen fällt, sich mit Luthers Stellung zu den Juden auseinanderzusetzen.
Der Hintergrund ist der Holocaust. Aus diesem Eindruck wird Luther dann aufgrund seiner Aussagen sofort in die rassistische Ecke gestellt, obwohl Rassismus damals völlig unbekannt war und erst im 18. Jahrhundert aufkam.[205] Überhaupt wird Luther aus Ereignissen und Erlebnissen beurteilt, die Jahrhunderte später stattfanden und für die man ihn nun, nachträglich, mitverantwortlich macht.
Während Luther in seiner frühen Lehrtätigkeit noch ganz vom römisch-katholischen Ungeist, der von Hass und Verachtung gegen die Juden bestimmt war, geprägt war, so änderte sich das mit seiner reformatorischen Erkenntnis und der daraus erwachsenen Liebe zu Jesus Christus, dem Heiland für Juden und Heiden.
Bereits die Psalmenvorlesung der Jahre 1519-21 über die ersten 22 Psalmen gibt darüber deutliches Zeugnis in der Auslegung zu Vers 7 von Psalm 14, wo es ja heißt: Ach, dass die Hilfe aus Zion über Israel käme, und der HERR sein gefangen Volk erlöste! So würde Jakob fröhlich sein, und Israel sich freuen. Luther bezieht sich dabei auf Paulus, der diesen Vers in Römer 10 aufgreift und hebt hierbei hervor, dass dies eben durch menschliches Bemühen unmöglich ist. Dass Juden bekehrt werden zu Jesus von Nazareth als dem Messias Israels und Heiland der Welt, dass ist vielmehr allein durch Gottes allmächtiges Gnadenhandeln möglich. Dies umso mehr, als ja eben durch Gottes Ratschluss einem Teil von Israel Blindheit widerfahren ist, die daher auch nur durch Gott wieder aufgehoben werden kann. Gott selbst muss die Hilfe über Israel bringen: „Wer wird nun Hilfe über Israel bringen, wird sie aber bringen aus Zion? Niemand, bis dass der HERR selbst die Gefangenschaft seines Volks wende, nämlich des Volks, welches nach dem Fleische Israel ist, und nun in der größten und längsten und allerschlimmsten Gefangenschaft gehalten wird, da es sowohl leiblich als auch geistlich gefangen ist; gleicherweise, nach dem Exempel dieses Volks, wird der HERR die Gefangenschaft eines jeglichen Volks wenden, das sein ist, wenngleich es nicht nach dem Fleische Israel und Gottes Volk ist.“[206] Hier wird ein weiterer Aspekt deutlich, der für Luther bleibend sehr wichtig war: Israel als Zeichenvolk. So, wie Gott mit Israel handelt, so handelt er auch mit den Heidenvölkern. So, wie Gott Israel richtet, so richtet er auch die Heidenvölker, wenn sie ihm widerstreben. Und so, wie Israel aus seiner geistlichen Finsternis allein durch Gottes allmächtiges Gnadenhandeln errettet werden kann, so können auch die Menschen aus den Heiden allein durch Gottes gnädiges Allmachtshandeln errettet werden aus der Finsternis zu Jesus Christus. Jesus Christus ist die alleinige Hilfe für beide, Juden wie Heiden.
Darum spricht sich Luther auch vehement gegen das Wüten gegen die Juden aus, wie es damals üblich war: „Deshalb ist das Wüten etlicher Christen verdammlich (wenn man sie anders Christen nennen kann), welche meinen, dass sie Gott einen Dienst daran tun, wenn sie die Juden aufs gehässigste verfolgen, alles Böse über sie denken, und sie bei ihrem bedauernswerten Unglück mit Stolz und Verachtung verhöhnen, da man nach dem Exempel dieses Psalms und dem des Paulus Röm. 9,1 von ganzem Herzen ihretwegen traurig sein und Leid tragen und beständig für sie beten sollte.“[207] Hier macht der Reformator deutlich, welches unsere Haltung Israel gegenüber sein soll: Traurig sollen wir sein darüber, dass sie immer noch in der geistlichen Finsternis sind, dass sie immer noch, trotz des jahrtausendelangen Gerichts und der vielen Leiden, sich nicht bekehrt haben, und für sie beten. Dabei betont Luther, dass dies nur dann in rechter Weise geschehen kann, wenn wir selbst in der Liebe zu Christus stehen: „Wenn aber die Liebe gegen Christus Christen macht, so sind wir ohne Zweifel ärger als die Juden, Ketzer und Türken, da niemand Christus weniger liebt als wir.“[208]
Die Juden, das gehört zur theologischen Grundhaltung Luthers ihnen gegenüber, die er nie geändert hat, waren für ihn der Typos des verlorenen Sünders, den Christenmenschen zur Mahnung gesetzt in Gericht und Gnade. Schon in der Psalmenvorlesung 1513-1515 und der Römerbriefvorlesung 1515/16 hatte Luther alle diejenigen zusammengestellt, die sich vor Gott ihrer eigenen Werke rühmen und ihnen teuflische Überheblichkeit vorgeworfen, da sie Feinde des Kreuzes Christi sind, und darunter die Juden, die Moslems, die römisch-katholischen Priester und die Christen gerechnet, die sich auf ihre Werke verlassen.[209] Ja, jeder Christ muss, wenn er seine Liebe zu Christus prüft, feststellen, wie kalt sie eigentlich ist, wie nah er da den Juden steht.[210] Keine menschliche Maßnahme kann die Bekehrung der Juden erzwingen, da ihre Blindheit von Gott ist – nur Gott selbst kann sie daher überwinden. Luther lehnte daher den Juden gegenüber, wie gegenüber allen anderen Menschen, einen Bekehrungszwang ab. Dabei sah er aber die Juden durchaus auf einer Linie mit den Menschen aus der Christenheit, die auch nicht aus eigener Kraft und Willen gerettet werden können und natürlicherweise wie die Juden unter Gottes Zorngericht stehen und daher, wie die Juden, allein aus Gottes Erbarmen errettet werden können. Die jüdische Messiashoffnung der nachmessianischen Zeit sah er daher zu Recht als vergeblich an und erwartete, gemäß den Zeugnissen der Schrift, wie Jesaja 10,21, dass nur ein Rest der Juden selig wird.[211]
Luthers zentrales Anliegen gegenüber den Juden, das wird während seines ganzen Lebens, bis hin zu seiner letzten Predigt in Eisleben, immer wieder deutlich, ist dies: Dass Juden zum rettenden Glauben an Jesus von Nazareth als dem im Alten Testament verheißenen Messias kommen. Dies sollte auch unsere Haltung den Juden gegenüber bestimmen. Das ist auch der Kern der bedeutenden Schrift des Reformators: Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei aus dem Jahr 1523. Er führt in diesem Zusammenhang dann aus, dass das bisherige Verhalten der heidenchristlichen Kirche, unter dem Papsttum, gerade nicht eine Einladung an die Juden zum Glauben an Jesus Christus gewesen ist: „Denn sie haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen; haben nichts mehr können tun, als sie schelten und ihr Gut nehmen, wenn man sie getauft hat; keine christliche Lehre noch Leben hat man ihnen bewiesen, sondern nur der Päpsterei und Möncherei unterworfen. Wenn sie denn gesehen haben, dass der Juden Ding so starke Schrift für sich hat, und der Christen Ding ein lauter Geschwätz gewesen ist, ohne alle Schrift, wie haben sie doch mögen ihr Herz stillen und recht gute Christen werden?“[212] Luther wollte, dass man mit den Juden nun freundlich umgehen sollte, sich bemühen, sie in der Heiligen Schrift recht zu unterweisen, und war der Hoffnung, dass dann viele zum rechten christlichen Glauben kämen: „Ich hoffe, wenn man mit den Juden freundlich handelte und aus der Schrift sie säuberlich unterwiese, es sollten ihr viel rechte Christen werden, und wieder zu ihrer Väter, der Propheten und Patriarchen, Glauben treten; davon sie nur weiter geschreckt werden, wenn man ihr Ding verwirft und so gar nichts will sein lassen, und handelt nur mit Hochmut und Verachtung gegen sie. … Darum wäre meine Bitte und Rat, dass man säuberlich mit ihnen umginge und aus der Schrift sie unterrichtete, so möchten ihr etliche herbeikommen.“[213]
1538 schrieb Luther seinen „Brief wider die Sabbather an einen guten Freund“, wohl den Grafen Wolf Schlick zu Falkenau.[214] Der äußere Anlass zu dieser Schrift war ein Brief des Freundes, in dem dieser ihm davon berichtete, dass die Juden, anstatt nun zu Christus bekehrt zu werden, ihrerseits in den böhmischen Ländern missionarisch tätig sind und Christen zum Judentum verführen, behaupten, der Messias sei noch nicht gekommen und ihrer, der Juden, Gesetz bleibe ewig und müsse auch von den Heiden angenommen werden. Der Freund hatte Luther um Hilfestellungen gebeten, wie der jüdischen Argumentation entgegenzutreten sei.
Auch diese Schrift ist in einem sehr sachlichen Ton gehalten und ist ganz und gar eine theologische Abhandlung, in der es Luther um zwei Dinge ging: zum einen, dass der Messias schon gekommen ist, zum anderen, dass das jüdische Gesetz keineswegs ewig dauert. In beiden Abschnitten hebt Luther immer wieder die Lage der Juden hervor, die ihnen doch deutlich machen müsste, dass sie auf einem Irrweg sind: Seit damals 1500 Jahren hatten die Juden keinen Staat, keinen Tempel, waren fern von Jerusalem, hatten keinen Fürsten, keine Priester, keinen Gottesdienst, wie ihn Mose vorgeschrieben hatte. Sie lebten im Elend. Und im großen Unterschied zu ihren Notzeiten in Ägypten und Babylonien hat Gott der HERR ihnen seit der Zerstörung Jerusalems keine Propheten gegeben, keine Verheißung, wann dieses Elend denn enden soll.
Nun kommen wir zu den beiden Schriften, die eigentlich für all die Aufregung um Luther und seine Stellung zu den Juden gesorgt haben, nämlich zu „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi, Matth. 1“, beide 1543 erschienen. Schon der Titel der ersten dieser beiden „Von den Juden und ihren Lügen“ scheint für viele das rote Tuch z