Ist die Aufrichtung des Staates
Israel eine Erfüllung prophetischer Weissagungen von einer Rückkehr des ganzen
Volkes nach Kanaan?
Von Guillaume Wolff
(1905-1973)
1. Christus und sein Reich
Diese Frage kann nur richtig beantwortet werden, wenn
wir die Grundwahrheit des Neuen Testamentes recht ins Auge fassen, dass nämlich
Jesus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch
wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, ist der den Juden
verheißene König und Heiland, der die Gläubigen aus Juden und Heiden zu einem
ewigen Königreich versammelt, zu einem Reich, das hier auf Erden unsichtbar und
geistlich ist und fort und fort aus allen Völkern gesammelt wird, das aber am
Jüngsten Tage in seiner ganzen sichtbaren Herrlichkeit erscheinen und ewig
bleiben wird.
Christus ist der von den Propheten verheißene König
Israels. So spricht der Engel Gabriel zu der Jungfrau Maria: „Siehe, du wirst
schwanger werden im Leibe und einen Sohn gebären; des Name
sollst du Jesus heißen. Der wird groß und ein Sohn des Höchsten genannt werden;
und Gott der Herr wird ihm den Stuhl seines Vaters David geben; und er wird ein
König sein über das Haus Jakob ewiglich, und seines Königreichs wird kein Ende
sein.“ (Luk. 1,31-33) Hier verkündigt Gabriel die Erfüllung der Verheißung, die
Gott einst dem David gegeben: „Wenn nun deine Zeit hin ist, dass du mit deinen
Vätern schlafen liegst, will ich deinen Samen nach dir erwecken, der von deinem
Leibe kommen soll; dem will ich sein Reich bestätigen, der soll meinem Namen
ein Haus bauen, und ich will den Stuhl seines Königreichs bestätigen ewiglich.“
(2. Sam. 7,12-13) Dasselbe besagt unter vielen andern Stellen auch Psalm 89:
„Ich habe einen Bund gemacht mit meinem Auserwählten, ich habe, meinem Knecht
geschworen: Ich will dir ewiglich Samen verschaffen und deinen Stuhl bauen für
und für.“ (V. 4-5) Die Erfüllung dieser Weissagung bezeugen auch die ersten
Jünger des Herrn. Andreas berichtet seinem Bruder Simon: „Wir haben den Messias
gefunden (welches ist verdolmetschet: der Gesalbte).“ Und Philippus sagt zu
Nathanael: „Wir haben den gefunden, von welchem Mose im Gesetz und die
Propheten geschrieben haben, Jesus, Josephs Sohn, von Nazareth.“ Und Nathanael
sagt zu Jesus: „Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel.“
(Joh. 1,41.45.49) Jesus selbst bezeugt vor Pilatus, dass er ein König sei: „Du
sagst es, ich bin ein König“; zugleich bezeugt er aber auch, dass er nicht
gekommen sei, ein irdisches, weltliches Königreich durch Waffengewalt
aufzurichten. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser
Welt, so würden meine Diener darob kämpfen, dass ich den Juden nicht
überantwortet würde ... Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich
die Wahrheit zeugen soll; wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“
(Joh. 18,36-37) Jesus ist also nicht gekommen, das irdische Reich
Davids nur in größerer Herrlichkeit wieder herzustellen. Er hat auch später
seine Apostel nicht dazu angeleitet, ein sichtbares Reich in Palästina
aufzurichten, sondern er korrigiert die irrigen Meinungen, die sie, wie alle Juden,
noch hatten, indem er zu ihnen sagt: „Also ist’s geschrieben und also musste
Christus leiden und auferstehen von den Toten am dritten Tage und predigen
lassen in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden unter allen Völkern und
anheben zu Jerusalem.“ (Luk. 24,46-47) Und als die Jünger ihn fragten: „Herr,
wirst du auf diese Zeit wieder aufrichten das Reich Israel?“ (sie konnten sich
von dem Gedanken einer irdischen sichtbaren Herrschaft noch nicht losmachen),
da antwortet der Herr: „Ihr werdet die Kraft des heiligen
Geistes empfangen, welcher auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein
zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde.“ (Apg.
1,8) Also ist das irdische Jerusalem nicht der Zielpunkt seines Reichwes, sondern vielmehr der Ausgangspunkt, von wo aus
sein geistliches Gnadenreich durch die Predigt des Evangeliums unter allen
Völkern ausgebreitet wird. Die Apostelgeschichte berichtet uns von den
Missionsreisen des großen Heidenapostels Paulus: Wo immer er in eine Stadt kam,
in welcher sich eine jüdische Synagoge befamnd,
predigte er erst den Juden, dass Jesus von Nazareth der verheißene Christus und
Messias sei, aber nie verlangte er von ihnen, dass sie nach Palästina
zurückwandern müssten, als ob dort Christus und sein Heil die von Gott
bestimmte Wohnstätte hätten.
2. Das Gesetz Moses und seine
Bedeutung
Das Gesetz Moses war dem Volk Israel gegeben, um es
als Gott geheiligtes Volk von allen Völkern abzusondern und so auf die dem
Abraham gegebene Verheißung und deren Erfüllung vorzubereiten, damit alle
Völker wüssten, dass der verheißene Heiland der Juden und Heiden aus diesem
Volk hervorkommen werde, welches sich von da aus über die ganze Welt verbreiten
werde. Viele Zeremoniendes Gesetzes, wie z.B. der
Opferdienst, waren zugleich auch typische und vorbildliche Weissagungen des von
Christus zu erwerbenden Heils. Auf jeden Fall hatte das Gesetz Moses, so wie es
dem Volk Israel gegeben war, nur vorübegehende
Geltung bis auf Christus, der es nun erfüllt und aufgehoben hat. Damit ist auch
Israels gesonderte Stellung unter den Völkern aufgehoben, die ja auf dem Gesetz
Moses beruhte, und damit ist auch sein Anrecht auf den Besitz des Landes Kanaan
aufgehoben, da es nunmehr keine gesondere religiöse
und nationale Gemeinschaft bilden soll, sondern mit den gläubigen Heiden
zusammen ein geistliches Königreich bilden unter dem Regiment Christi und
seines Evangeliums.
Das Neue Testament bezeugt klar und deutlich, dass das
Gesetz nur vorübergehende Geltung, weissagende Bedeutung, hatte, und daher
durch Christus erfüllt und aufgehoben ist. „Das Gesetz ist durch Mose gegeben;
die Gnade und Wahrheit aber ist durch Jesus Christus geworden.“ (Joh. 1,17)
„Also ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christus, dass wir durch
den Glauben gerecht würden; nun aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht
mehr unter dem Zuchtmeister.“ (Gal. 3,24-25) „Denn damit (nämlich durch die
Einsetzung Christi als des wahren Hohenpriesters) wird das vorige Gesetz
aufgehoben, darum, dass es zu schwach und nicht nütz war; denn das Gesetz
konnte nichts vollkommen machen und wird eingeführt eine bessere Hoffnung,
durch welche wir zu Gott nahen.“ (Hebr. 7,18-19) Hebr. 10,1-2 (nach der
Übersetzung Menges): „Denn weil das (mosaische) Gesetz nur das schattenhafte
Abbild der zukünftigen Heilsgüter enthält (=darbietet), nicht aber die Gestalt
der Dinge selbst (=d.h. die wirkliche Erscheinungsform der Dinge), so ist es
nimmermehr im Stande, allejährlich durch dieselben
Opfer, die man immer wieder darbringt, die an den Opfern Teilnehmenden ans Ziel
(=zur Vollendung) zu bringen.“
Wir nennen einige wichtige Gesetzesverordnungen, die
zur Grundlage des Volkes Israel gehörten, ohne welche das Volk Israel des Alten
Bundes gar nicht als Gottes Volk existieren konnte und die nun im Neuen
Testament hinfällig geworden sind. Hier wäre einmal zu nennen die Beschneidung.
Paulus schreibt an die Galater: „Wo ihr euch beschneiden lasset, so ist euch
Christus nichts nütze. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden
lässt, dass er noch das ganze Gesetz schuldig ist zu tun.“ (Gal. 5,2.3) Wenn
die Juden daher heute die Beschneidung und andere Stücke des Gesetzes
herausgreifen und sich verpflichtet halten, dieselben zu beobachten, so ist das
ein Verstoß gegen das Gesetz; denn wenn das Gesetz
noch gilt, so will es ganz beobachtet sein. „Ihr sollt nichts dazu tun, das ich euch gebiete, und sollt auch nichts davon tun, auf
dass ihr bewahren möget die Gebote des Herrn, eures Gottes, die ich euch
gebiete.“ (5. Mose 4,2) Wir erinnern an die Forderung, die auf dem
Apostelkonzil von gläubigen Pharisäern betreffs der bekehrten Heiden erhoben
wurde: „Man muss sie beschneiden und gebieten, zu halten das Gesetz Moses“ und
an die Antwort, die ihnen Petrus erteilt: „Was versucht ihr denn nun Gott mit
Auflegen des Jochs auf dir Jünger Hälse, welches weder unsere Väter noch wir
haben mögen tragen?“ (Apg. 15)
Dass das Sabbathgebot sowie
alle Gebote betreffs der Feiertage hingefallen sind, bezeugt Paulus in den
bekannten Worten: „So lasset nun niemand euch Gewissen machen über Speise oder
über Trank oder über bestimmte Feiertage oder Neumonde oder Sabbather,
welches isrt der Schatten von dem, das zukünftig ist,
aber der Körper selbst ist in Christus.“ (Kol. 2,16) Und an die Galater
schreibt er: „Wie wendet ihr euch denn um wieder zu den schwachen und dürftigen
Satzungen, welchen ihr von neuem dienen wollet? Ihr haltet Tage und Monate und
Feste und Jahrzeiten. Ich fürchte, dass ich nicht vielleicht umsonst habe an
euch gearbeitet.“ (Gal. 4,9-11) Nebenbei bemerkt gilt auch die Wahrheit, dass
der Sonntag nicht kraft göttlichen Gebotes an die Stelle des Sabbaths getreten
ist. Das bemerkt auch unser lutherisches Bekenntnis, Augsburger Konfession,
Artikel 28, Par. 58: Denn die es dafür achten, dass die Ordnung vom Sonntag für
den Sabbath als nötig aufgerichtet sei, die irren sehr usw. ...
Vor allen Dingen müssen wir aber als abgetan ins Auge
fassen, was im Zentrum des israelitischen Gottesdienstes stand, nämlich den
ganzen Opferkultus, wozu ein besonderes erbliches Priestertum eingesetzt war
aus dem Stamm Levi und ein Hohenpriestertum aus der
Familie Aarons. Dazu wurde erst die Stiftshütte eingerichtet und später der
Tempel Salomos erbaut. Hier sollte die heilige Stätte sein, wo Gott unter
seinem Volk wohnen und sseine Opfer und Gebete
annehmen wollte. Hier sollten durch beständige Sühnopfer die Sünden des Volkes
gesühnt und das Volk geheiligt werden, damit der heilige Gott unter dem
sündigen Volk wohnen könnte. Nur an dieser heiligen Stätte durfte Israel seine
Opfer Gott darbringen. „Welcher Mensch aus dem Haus Israel oder auch ein
Fremdling, der unter euch ist, der ein Opfer oder Brandopfer tut und bringts
nicht vor die Tür der Hütte des Stifts, dass er’s dem Herrn tue, der soll
ausgerottet werden von seinem Volk.“ (3. Mose 17,8-9) Durch diese Verordnung
wollte Gott dem Eindringen heidnischen Götzendienstes wehren, da auch alle
heidnischen Völker ihren Göttern Opfer brachten. Diese Sühnopfer wurden zu
einem großen Teil gebracht zur Sühne für unabsichtliche Vergehen gegen die
Zeremonialgesetze; für mutwillige und grobe Verbrechen, wie etwa Mord und
Ehebruch, gab es keine Sühnopfer, sondern darauf stand die Todesstrafe. Der
Hebräerbrief bemekrt: „Der Ochsen und der Böcke Blut
und die Asche, von der Kuh gesprenget, heiliget die
Unreinen zu der leiblichen Reinigkeit.“ (9,13) „Ein
jeglicher Priester ist eingesetzt, dass er alle Tage Gottesdienst pflege und
oftmals einerlei Opfer tue, welche nimmermehr können die Sünden abnehmen.“
(10,11) „Es ist unmöglich, durch Ochsen- und Bocksblut Sünden wegzunehmen.“
(10,4) Die Opfer verliehen dem Volk nur eine äußerliche leibliche symbolische Reinigkeit und waren nur ein Vorbild des echten und wahren
Opfers des eigentlichen Hohenpriesters Christus und seines vollkommenen
Sühnopfers und der dadurch bewirkten Reinigung und Sündentilgung. Von Christus
heißt es: „Christus ist einmal geopfert, wegzunehmen vieler Sünden. Zum andernmal aber wird er erscheinen denen, die auf ihn
warten, zur Seligkeit.“ (Hebr. 9,28) (Nebenbei: Also kommt er nicht mehr, um
erst noch ein irdisches Reich auf Erden aufzurichten.) „Dieser aber, da er hat
ein Opfer für die Sünden geopfert, das ewiglich gilt, sitzt er nun zur Rechten
Gottes ... Denn mit einem Opfer hat er in Ewigkeit vollendet, die geheiliget werden.“ (10,12.14) Ist nun der Opferdienst
aufgehoben, so ist auch das den Juden gegebene Gesetz aufgehoben, das eine
äußerliche Heiligkeit und Absonderung von den Heiden bewirken sollte und durch
dessen Übertretung der ganze Kultus der Sühnopfer nötig war. Der Hebräerbrief
zitiert die Weissagung Jeremias, Kapitel 31,31 ff.: „Es kommen die Tage,
spricht der Herr, dass ich über das Haus Israel und das Haus Juda ein neues Testament (= einen neuen Bund) machen will;
nicht nach dem Testament, das ich gemacht habe mit ihren Vätern an dem Tage, da
ich ihre Hand ergriff, sie auszuführen aus Ägyptenland, usw. ...“ Und der
Hebräerbrief bemerkt dazu: „Indem er sagt: ein Neues, macht er das Erste alt;
was aber alt und überjahret ist, das ist nahe bei
seinem Ende.“ (Hebr. 8,9-13)
Das der gesamte alttestamentliche
Opferkultus dahingefallen ist, das zeigt Gott auch in der Tat und Wirklichkeit.
Israels Geschlechtsregister sind verloren gegangen; niemand weiß, welches die
Nachkommen aus dem Stamm Levi und aus dem Haus Aaron sind, welche allein das
Anrecht auf das priesterliche Amt haben und die Opferhandlungen vollziehen
dürfen. Die Aufrichtung des Opferkultus nach dem Gesetz Moses ist tatsächlich
eine Unmöglichkeit.
Ist aber das ganze Gesetz Moses, Beschneidung,
Sabbath, Opferdienst nebst allen zeremonialen
Verordnungen hingefallen, so ist das hingefallen, das den Juden zum Juden
macht, so sind die Grundordnungen hingefallen, auf denen die Existenz Israels
als nationaler und religiöser von andern Völkern
gesonderter Gemeinschaft nach göttlichem Befehl beruht. Israel hat keinen
göttlichen Befehl, sich als besondere religiöse Gemeinschaft zu konstituieren1. Das bezeugt Paulus deutlich in seinem
Brief an die Epheser. Er erinnert die Heidenchristen in Ephesus an ihren
Zustand vor ihrer Bekehrung: „Ihr waret zu derselben
Zeit ohne Christus, fremd und außer der Bürgerschaft Israels, und fremd von den
Testamenten der Verheißung; daher ihr keine Hoffnung hattet und waret ohne Gott in der Welt. Nun aber, die ihr in Christus
Jesus seid, und einst ferne gewesen, seid nun nahe geworden durch das Blut
Christi. Denn er ist unser Friede, der aus beiden (nämlich Juden und Heiden)
eines hat gemacht, und hat abgebrochen den Zaun, der dazwischen war, in dem,
dass er durch sein Fleisch wegnahm die Feindschaft, nämlich das Gesetz, so in
Geboten gestellet war; auf dass er aus zweien einen
neuen Menschen in ihm selber schaffte und Frieden machte, und dass er beide
versöhnte mit Gott in einem Leibe, durch das Kreuz, und hat die Feinschaft getötet durch sich selbst, und ist gekommen, hat
verkündigt im Evangelium den Frieden, euch, die ihr ferne waret,
und denen, die nahe waren, denn durch ihn haben wir den Zugang alle beide in
einem Geiste zum Vater.“ (Eph. 2,12-18)
Eine treffliche Erklärung dieser Stelle gibt Dr. G. Stöckhardt in seinem Kommentar zum Epheserbrief: „Das
mosaische Gesetz mit allen seinen Institutionen war ein Zaun, ein Gehege um
Israel her, durch welches dasselbe gesondert, in sich geschlossen war, in
seiner Eigentümlichkeit bewahrt und geschützt wurde. Eben damit bildete aber
das Gesetz zugleich eine Zwischenwand, eine Scheidewand zwischen Israel und dem
außerisraelitischen Völkertum, den Völkern der
Heiden. Und diese Zwischenwand hat Christus niedergerissen“ (S. 144 unten) ...
„Nun aber hat Christus durch sein Leiden und Sterben im Fleisch, durch sein
Blut dies Gesetz abgetan und damit auch den Zwiespalt, die Feindschaft zwischen
Heiden und Juden beseitigt, zunächst objektiv beseitigt, indem er Grund und
Ursache der Feindschaft hinwegräumte.“ ... „Die christliche Kirche ist de facto
der Eine Mensch, der aus Juden und Heiden gebildet ist, und ist ein
neuer Mensch, in welchem nicht mehr Jude und Grieche ist.“ (S. 146)
Ist aber nun das Gesetz aufgehoben, weil Christus
dasselbe erfüllt und sämtliche Übertretungen gesühnt hat, ist die Scheidewand,
die Juden und Heiden trennte, entfernt, so ist kein göttliches Gebot mehr
vorhanden, dass die Juden eine gesonderte nationale und religiöse Gemeinschaft
bilden sollen, sondern sie sollten durch den Glauben an Jesus Christus mit den
Heiden zusammen Ein Königreich, Eine Gemeinschaft, Eine heilige christliche
Kirche bilden. Damit ist aber auch die Verheißung hingefallen, dass die Juden
das Land Kanaan zum Wohnsitz haben sollen. Denn wozu wurde den Vätern das Land
Kanaan verheißen? Nicht nur, damit ihre Nachkommen, das Volk Israel, einen
Wohnsitz habe, sondern weil Christus, der Juden und Heiden Heiland, daselbst
geboren werden, daselbst sein Erlösungswwerk
vollbringen und daselbst sein Reich aufzurichten anfangen könne, von wo aus es
sich über die ganze Welt erstrecken werde. Alle Welt sollte wissen, aus welchem
Volk und aus welchem Land das Heil aller Völker kommen werde. Jesus sagt der
Samariterin: „Das Heil kommt von den Juden.“ Und als sie ihm ihre Hoffnung auf
den künftigen Messias aussprach, antwortete er: „Ich bin’s, der mit dir redet.“
(Joh. 4,22.26) Das Heil ist nun von den Juden gekommen. Die Weissagungen
sind erfüllt. Es ist erfüllt, was Jesaja sagt: „Von Zion wird das Gesetz
ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem.“ (Jes. 2,3) Dies ist erfüllt gemäß
den Worten, die Jesus zu seinen Aposteln sagte bei seiner Himmelfahrt: „Ihr
werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, welcher auf euch kommen wird,
und werdet meine Zeugen sein zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis
ans Ende der Erde.“ (Apg. 1,8)
3. Die Verheißungen an die Väter im
Alten Testament und ihre Erfüllung in Christus
Den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob wurden
zweierlei Verheißungen gegeben: 1. dass durch ihren
Samen alle Völker der Erde sollten gesegnet werden, und 2. dass ihrem Samen das
Land Kanaan zum Wohnsitz gegeben werden wollte. Paulus sagt in Bezug auf diese
Verheißungen (wir zitieren nach der Übersetzung von Menge): „Nun aber sind die
(göttlichen) Verheißungen dem Abraham und seinem Samen (Nachkommen)
zugesprochen worden. Es heißt nicht: ‚und den Samen’ (= den Nachkommen) in der
Mehrzahl (= als wären es mehrere), sondern mit Bezug auf einen Einzigen (= in
der Einzahl) ‚und deinem Samen’ (= deinem Nachkommen), und das ist Christus.“
(Gal. 3,16) Mit anderen Worten: Nicht das Volk Israel an und für sich ist ein
Segen für alle Völker, sondern der Eine Nachkomme Abrahams, Christus, der sich
selbst für alle opferte, und Israel ist ein Segen nur, insofern es die
Botschaft von Christus unter den Völkern ausbreitet. Und nicht dem Volk Israel
an und für sich ist das Land Kanaan gegeben (vergl. 3. Mose 25,23: „Das Land ist
mein und ihr seid Gäste und Fremdlinge vor mir“), sondern es ist dem Samen
Abrahams, Christus, gegeben, damit er daselbst geboren werde, sein Heilswerk
vollbringe, daselbst sein Reich aufrichte und von da aus über die ganze Welt
ausbreite, wie es denn auch geschehen ist. Die in Kapitel 12,18; 22,26 und 28
von 1. Mose enthaltenen Verheißungen fasst Johann Gerhard trefflich zusammen: „Ideo posteritati tuae dabo terram
Canaan, ut Messias, in quo et propter
quem benedictio omnibus quentibus offeretur, certum nativitatis hospititum habeat et constet ex quo populo Messias sit expetandus.“ (Loci, Tom Ixp. 104
b) (Übersetzung des lateinischen Zitats von Joh. Gerhard: „Ich werde deshalb
dienen Nachkommen das Land Kanaan geben, damit der Messias, in welchem und
wegen welchem der Segen allen Völkern angeboten wird, eine bestimmte Herberge
für seine Geburt habe und bekannt sei, aus welchem Volk der Messias zu erwarten
sei.“)
Wenn es nun 1. Mose 13,15 in der dem Abraham gegebenen
Verheißung lautet: „All das Land, das du siehst, will ich dir geben und deinem
Samen ewiglich“, so kann unter dem Wort „ewiglich“ nicht die Ewigkeit im
eigentlichen Sinne gmeint sein, sonst müsste ja die
Welt ewig bestehen, sondern der hebräische Ausdruck bedeutet „auf immer“; das
heißt also, dass das Land Kanaan den Nachkommen Abrahams auf immer zum
Besitztum gegeben wird, so lange nämlich das Volk Israel als Volk existiert und
ferner unter der Bedingung, dass es in dem Bunde bleibt, den Gott mit Abraham
geschlossen hat, nämlich sein Heil bei dem verheißnen
Abrahams-Samen, bei dem Messias, bei Christus, zu suchen. Für den Fall der
Untreue hat ihm Mose die Vertrebiung aus dem Lande
Kanaan und die Zerstreuung unter alle Völker angedroht, z.B. 5. Mose 28,63.64:
Ihr „werdet verstöret werden von dem Lande, da du jetzt einziehst, es
einzunehmen. Denn der Herr wird dich zerstreuen unter alle Völker von einem
Ende der Welt bis ans andere.“ Wäre nun das ganze Volk Israel durch die Predigt
der Apostel zu Jesus Christus bekehrt worden und hätte ihn als König und
Heiland anerkannt, so wäre natürlich die Katastrophe nicht über Israel
hereingebrochen, als im Jahr 70 die Römer das Land eroberten und Jerusalem
zerstörten und Israel in Gefangenschaft führten und zerstreuten. Wie sich die
politischen Verhältnisse im Falle der Bekehrung des ganzen Israels gestaltet
hätten, ist schwer zu sagen, da es eben anders gekommen ist.
Die in Christus gegebene Heilsverheißung kommt aber
nicht zu ihrer letzten Vollendung in dem irdischen Kanaan, überhaupt nicht auf
dieser Welt, sondern auf der neuen Erde, wo alle Sünde und aller Tod völlig
abgetan sein werden und Gott in seiner sichtbaren Herrlichkeit unter demVolk der seligen und verklärten auserwählten Kinder
Gottes wohnen wird. Darum ist das irdische Kanaan in letzter Linie zugleich
Unterpfand und Vorbild des himmlischen Kanaans, des ewigen Lebens in der
Herrlichkeit Gottes und Christi. Darauf stand die Hoffnung der Erzväter, die
eigentlich nie in den Besitz des irdischen Kanaans kamen. Der Hebräerbrief sagt
von Abraham: „Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen
Lande als in einem fremden ... denn er wartete auf eine Stadt, die einen Grund
hat, welcher Baumeister und Schöpfer Gott ist.“ Ferner heißt es von den
Erzvätern: „Diese alle sind gestorben im Glauben und haben die Verheißung (d.h.
die Erfüllung derselben) nicht empfangen, sondern sie von fern
gesehen und sich der vertröstet und wohl begüngen
lassen und bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge sind auf Erden ... denn die
solches sagen, geben zu verstehen, dass sie ein Vaterland suchen ... nun aber
begehren sie eines besseren, nämlich eines himmlischen. Darum schämet sich Gott
ihrer nicht, zu heißen ihr Gott, denn er hat ihnen eine Stadt bereitet.“ (Hebr.
11,9.10)
Der Hebräerbrief beweist noch auf eine andere Weise,
dass das Wohnen in dem irdischen Kanaan nicht das letzte Ziel war, zu welchem
Gott sein Volk führen wollte. Er weist hin auf Psalm 95, wo David die
Israeliten seiner Zeit, die schon seit Jahrhunderten im Besitz des Landes
Kanaan waren, davor warnt,d ass sie sich nicht gegen Gottes Stimme verstocken sollen,
wie die Väter in der Wüste, die aus Ägypten zogen, aber um ihres Unglaubens
willen nicht nach Kanaan gelangten. Im 95. Psalm heißt es: „Heute, so ihr seine
Stimme höret, so verstocket eure Herzen nicht“, wie das Volk, das aus Ägypten
auszog und 40 Jahre lang in der Wüste Gott widerstrebte, so dass Gott sagte:
„Ich schwur in meinem Zorn, dass sie zu meiner Ruhe nicht sollten kommen.“
Daraus schließt der Verfasser des Hebräerbriefes: „So Josua sie hätte zur Ruhe
gebracht, würde er nicht hernach von einem anderen Tage gesagt haben (nämlich
im 95. Psalm, zur Zeit Davids: ‚Heute, so ihr seine Stimme höret, so verstocket
eure Herzen nicht’): Darum ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volk Gottes.“
Das letzte Ziel, zu welchem Gott sein Volk hinführen
wollte, ist also nicht die irdische Ruhe im irdischen Kanaan, sondern die Ruhe
der ewigen Seligkeit, von der wir singen: Es ist noch eine Ruh vorhanden.
Selbst wenn also das ganze Volk Israel sich um seinen König und Heiland Jesus
Christus gesammelt hätte, wäre doch das Gesetz mit allen seinen Einrichtungen
und damit auch die Verheißung des Wohnens im Lande Kanaan hinfällig geworden,
denn Christi Reich ist ein geistliches und erstreckt sich nicht nur über
Kanaan, sondern über alle Völker. (Ps. 72,8: Er wird herrschen von einem Meer
bis ans andere, und von dem Wasser an bis zur Welt Ende.); das ganze jüdische
Volk hätte in dem Falle in der Gemeinschaft mit allen gläubigen Heiden eine
große über die ganze Welt sich erstreckende Gemeinschaft, ein geistliches
Reich, Eine Kirche, eine wahre Ökumene gebildet.
4. Das Gericht der Verstockung über
die Masse Israels und die Erlösung des Restes
Nun aber hat Israel je und je in seiner Mehrheit Gott
Widerstand geleistet, sich des Abfalls von seinen Verheißungen und der Empörung
gegen seinen Willen, der Selbstverstockung, schuldig
gemacht. Schon Mose weissagt vor seinem Tode den Abfall des Volkes: „Ich weiß,
dass ihr’s nach meinem Tode verderben werdet und aus dem Wege treten, den ich
euch geboten habe. So wird euch dann Unglück begegnen hernach, darum dass ihr
Übel getan habt vor den Augen des Herrn, dass ihr ihn erzürnet durch eurer
Hände Werk.“ (5. Mose 31,29) „Ich kenne deinen Ungehorsam und deine
Halsstarrigkeit. Siehe, weil ich noch heute mit euch lebe, seid ihr ungehorsam
gewesen wider den Herrn, wie viel mehr nach meinem Tode.“ (5. Mose 31,27)
Dieser fortgesetzte halsstarrige Widerstand, diese Selbstverstockung
führte Israel schließlich in das Gericht Gottes, da Gott selbst ihr Herz
verhärtete, dass es unempfänglich und unempfindlich wurde für Gottes
Heilsverheißungen und Gebote, und in den Zustand geriet, dass es nicht mehr
bekehrt werden konnte, weil Gott es nicht mehr bekehren wollte.
Jesaja, der größte der Schriftpropheten, der in
kunstvoller und bilderreicher Sprache am herrlichsten von dem Heil in Christus
geweissagt hat, wird von Gott geschickt mit dem Auftrag: „Gehe hin und sprich
zu diesem Volk: Höret es und verstehet es nicht, sehet es und merket es nicht.
Verstocke das Herz dieses Volkes und lass ihre Ohren dicke sein und blende ihre
Augen, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren, noch
verstehen mit ihrem Herzen und sich bekehren und genesen.“ (Jes. 6,9.10) Jesaja
fügt aber noch hinzu: „Und wenn darin noch ein Zehntel ist, so wird es wiederum
der Vertilgung anheimfallen; wie eine Terebinthe und Eiche, bei denen beim
Fällen noch ein Wurzelstock bleibt, ein heiliger Same ist ihr Wurzelstock.“
(6,13) Dies ist hinfort die Botschaft des Propheten Jesaja: Israel gleicht
einem abgehauenen Baum, von dem nur ein Wurzelstock übrig
bleibt. Die Masse des Volks ist verstockt und geht verloren, aber unter
dieser verderbten Masse bleibt ein heiliger Same, ein Rest von Auserwählten,
der sich bekehrt und selig wird. Die sind das wahre Israel. Diese Wahrheit
wiederholt Jesaja Kap. 10,22: „Denn wenn auch dein Volk, Israel, wäre wie der
Sand am Meer, so wird (nur) ein Rest sich bekehren.“ Paulus führt diesen
Ausspruch des Propheten an Röm. 9,27: „Jesaja aber schreibt für Israel: Wenn
die Zahl der Kinder Israel würde sein wie der Sand am Meer, so wird doch (nur)
das Übrige selig werden.“ (to hypoleimma
soothesetai, hebr.: shear yashoub; zugleich der Name
des Sohnes des Propheten: Ein Rest wird sich bekehren.) Also weder eine
Verstockung des ganzen Israel, noch eine Bekehrung des ganzen Israel ist hier
geweissagt. Stöckhardt bemerkt genau: „Nicht dass das verstockte Israel nach jenen schweren
Gerichten sich schließlich doch noch bekehren und gerettet werden wird, ist
hier geweissagt, wie neuere Ausleger meinen. Damit würde der Begriff der
„Verstockung“ aufgehoben. Und es ist ja zuvor den Verstockten das
Vertilgungsgericht angedroht. Die tröstliche Verheißung lautet vielmehr dahin,
dass mitten in der „massa perdita“,
welche rettungslos der Verstockung und Vertilgung anheimfällt, ein Rest, ein
heiliger Same übrig bleibt, welcher also von dem
Gericht der Verstockung und Vertilgung eximiert ist, welcher das Zorngericht,
dem das ungläubige, verstockte Volk erliegt, überdauert und ewig bleibt. So
wird also die Predigt des Jesaja, überhaupt das prophetische Wort und Zeugnis
nicht ganz ohne Frucht bleiben. Wenn auch die Masse sich verstockt und verloren
geht, so werden doch Etliche, die Übrigen, sich bekehren, der Predigt, der
Verheißung Gottes glauben und gerettet werden. So ist es allewege. Die Predigt
des Evangeliums kommt nie ganz leer wieder zurück. Wenn auch die meisten sich
dagegen verstocken und schließlich verstockt und verdammt werden, so fallen
doch immer etliche dem Evangelium zu und werden gerettet. Die Auserwählten wwerden gewonnen, kommen zum Glauben, beharren im Glauben
und werden selig.“ (Kommentar zu Jesaja 1-12, Seite 74)
Dies Verstockungsgericht nahm seinen Anfang zur Zeit
des Propheten Jesaja und erreicht seinen Höhepunkt zur Zeit
Christi und der Apostel. Mitten in die Wirksamkeit Christi hinein stellen die
Evangelisten und Apostel die Worte, die der Herr an den Propheten Jesaja
richtete. So Matthäus, Kap. 13, wo Christus zu den Jüngern sagt: „Euch ist’s
gegeben, dass ihr das Geheimnis des Himmelreichs vernehmet, diesen aber ist’s
nicht gegeben... darum rede ich mit ihnen durch Gleichnisse, denn mit sehenden
Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie
verstehen es nicht, und über ihnen wird die Weissagung des Jesaja erfüllt, die
da sagt: Mit den Ohren werdet ihr es hören und nicht verstehen, und mit
sehenden Augen werdet ihr sehen und werdet es nicht vernehmen. Denn dieses
Volkes Herz ist verstockt und ihre Ohren hören übel und ihre Augen schlummern,
auf dass sie nicht dermaleinst mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und
mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, dass ich ihnen hülfe.“ (Matth. 13,13-15)
Auch Johannes stellt diese Worte von dem
Verstockungsgericht mitten in den Höhepunkt der Wirksamkeit Jesu, nachdem er
Lazarus auferweckt hatte und als König in Jerusalem eingezogen war: „Und ob er
solche Zeichen vor ihnen tat, glaubten sie doch nicht an ihn, auf dass erfüllet
würde der Spruch des Propheten Jesaja, den er sagt: „Herr, wer glaubet unserm
Predigen? Und wem ist der Arm des Herrn offenbart?“ Darum konnten sie
nicht glauben, denn Jesaja sagt abermals: „Er hat ihre Augen verblendet und ihr
Herz verstockt, dass sie mit den Augen nicht sehen, noch mit dem Herzen
vernehmen und sich bekehren und ich ihnen hülfe.“ (Joh. 12,37-40).
Schließlich erwähnt der Apostel Paulus noch einmal die
Worte des Jesaja von dem Verstockungsgericht, als er in Rom mit den Juden
redete, und schließt dann mit den Worten: „So sei es euch kund
getan, dass den Heiden gesandt ist das Heil Gottes, und sie werden es
hören.“ (Apg. 28,28)
Der Apostel Paulus erklärt auch, wie Israel in das
Gericht der Verstockung geriet, soweit das für unseren beschränkten Verstand,
obwohl vom heiligen Geist erleuchtet, verständlich ist. „Heiden, die nicht nach
der Gerechtigkeit trachteten, haben Gerechtigkeit erlangt, nämlich die
Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Israel dagegen, das
nach der vom Gesetz geforderten Gerechtigkeit trachtete, hat das vom Gesetz
gesteckte Ziel (der Rechtfertigung) nicht erreicht. (Luther: hat das Gesetz der
Gerechtigkeit nicht überkommen). Warum nicht? Weil sie es nicht auf dem
Glaubensweg, sondern es mit Werken haben erreichen wollen: Da haben sie sich am
Stein des Anstoßes gestoßen, von dem geschrieben steht (Jes. 28,16; 8,14):
„Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Felsen des
Ärgernisses (oder des Strauchelns = zum Fallen), und wer auf ihn sein Vertrauen
setzt (oder an ihn glaubt), wird nicht zuschanden (oder enttäuscht) werden.“
(Röm. 9,30-33 nach Menges Übersetzung). (Dasselbe 1. Petrus 2,6-8.) Paulus
schreibt ferner: „Sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und
trachten, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind also der
Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht untertan.“ (Röm. 10,3 nach Luthers
Übersetzung).
An dem Volk Israel offenbart sich aufs deutlichste die
Verderbtheit des menschlichen Herzens, welches die guten und heilsamen Gaben
Gottes missbraucht, so dass sie ihm zu Verderben gereichen. Ähnlich schreibt
Paulus vom Gesetz: „Die Sünde, auf dass sie erscheine, wie sie Sünde ist, hat
sie mir durch das Gute (nämlich das Gesetz) den Tod gewirket,
auf dass die Sünde würde überaus sündig durchs Gebot.“ (Römer 7,13) Je größer
auch die Gnade ist, die einem Menschen oder Volk widerfährt, desto größer wird
auch der damit getriebene Missbrauch und die Verachtung derselben und desto
schrecklicher auch das Zorngericht Gottes über die missbrauchte und verachtete
Gnade. Israel hat Gottes Gesetz und Verheißung zum Stolz und zur
Selbstüberhebung missbraucht. Sie meinten, der Besitz des Gesetzes sei
gleichbedeutend mit seiner Erfüllung und hielten sich wegen ihrer
vermeintlichen Gesetzeserfüllung für Gottes auserwähltes Volk und verwandelten
die Verheißung zu dem Sünderheiland in die Verheißung eines irdischen Königs, der
Israel zu einem irdischen, mächtigen und herrlichen Königreich erheben und ihm
die (irdische) Herrschaft über alle Völker geben werde. So geschah es, dass
Israel des Heils verlustigt ging, während die Heiden
des Heils teilhaftig wurden. Von den Heiden weissagt Jesaja: „Ich bin erfunden
von denen, die mich nicht gesucht haben, und bin erschienen denen, die nicht
nach mir gefragt haben.“ Von Israel aber sagt er: „Den ganzen Tag habe ich
meine Hände ausgestreckt zu dem Volk, das sich nicht sagen lässet
und widerspricht.“ (Jesaja 65,1.2 – Römer 10,20.21)
Angesichts dieser Tastsache erhebt nun der Apostel die
Frage: „Hat denn Gott sein Volk verstoßen?“ (Röm. 11,1) Angesichts der
allgemeinen Feindschaft des Volkes Israel gegen das Evangelium von Christus und
angesichts der Strafgerichte, die im alten und neuen Bund über das Volk
verhängt worden sind, könnte es erscheinen, dass das ganze Volk Israel
verworfen sei. Dem ist aber nicht so. Paulus antwortet: „Gott hat sein Volk
nicht verstoßen, welches er zuvor versehen (auserwählt) hat.“ (V. 2.) Hier
bringt Paulus eine überaus wichtige und zum Verständnis der Geschichte Israels
unentbehrliche Wahrheit ans Tageslicht, dass nämlich das Wort Israel in einem
engeren und weiteren Sinn gebraucht werden kann. Im weiteren Sinn bezeichnet es
das ganze aus den leiblichen Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs bestehende
Volk, in einem engeren Sinne aber bezeichnet es nicht alle leiblichen
Nachkommen Israels oder Jakobs, sondern nur das Volk der gläubigen Israeliten,
die Gott zum Glauben und zur Seligkeit auserwählt und wirklich bekehrt hat.
Paulus führt als Beispiel die Zustände an, die zur Zeit des Propheten Elia
herrschten. Da hatte es den Anschein, und Elia meinte auch, dass das ganze
leibliche Volk Israel, das von Abraham abstammte, von Gott abgefallen und dem
Baalsdienst übergeben war und er sei allein als wahrer Diener Gottes übrig geblieben. Aber Gott antwortet ihm am Berg Horeb, dass
nicht das ganze leibliche Volk Israel abgefallen war, sondern er habe noch
übrig bleiben lassen 7000 Seelen in Israel, die ihre Knie nicht vor Baal
gebeugt hatten, sondern Gott treu geblieben waren. Und nun macht Paulus die
Anwendung auf seine Zeit: „Also gehet’s auch zu
dieser Zeit mit diesen Übriggebliebenen nach der Wahl der Gnaden (leimma kat’eklogen charitos). Wir treffen hier wieder den Begriff der
Übriggebliebenen oder des Restes, von denen Jesaja 10,22 und Römer 9,27 schon
die Rede war (to hypoleimma).
Diese übriggebliebenen Auserwählten und Gläubigen sind das wahre Israel, das
gewiss und in seiner ganzen Vollzahl selig wird. So
sagt Paulus schon Römer 9,6-8. „Es sind nicht alle Israeliter,
die von Israel sind, auch nicht alle, die Abrahams Same sind, sind darum auch
Kinder, sondern in Isaak soll dir der Same genannt sein. Das ist, nicht das
sind Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind, sondern die Kinder der
Verheißung werden für Same gerechnet.“ Menge übersetzt V. 8: „Nicht die
leiblichen Kinder (Abrahams) sind damit auch Gottes Kinder, sondern (nur) die
Kinder der Verheißung werden als Nachkommenschaft (Abrahams) gerechnet.“ Stöckhardt: „Isaak ist kraft der Verheißung leiblicher
Weise geboren, in das natürliche Leben eingetreten“ (und selbstverständlich ist
er auch durch die Verheißung von dem künftigen Nachkommen Abrahams, durch den
alle Völker gesegnet werden sollten, zum rechtfertigenden Glauben gelangt wie
sein Vater Abraham). „Die Kinder der Verheißung, die der Apostel im Sinne hat,
sind durch die Verheißung, durch das Evangelium geistlicher Weise geboren, in
ein neues geistliches Leben und Wesen versetzt. Gott hat sie durch das Wort zum
Glauben erweckt, durch den Glauben sind sie neugeboren.“ (Kommentar zum
Römerbrief, Seite 425) Galater 4,28: „Wir aber, liebe Brüder, sind, Isaak nach,
der Verheißung Kinder.“
Wenn es sich daher um die Bekehrung Israels handelt,
so handelt es sich nicht um die Bekehrung sämtlicher leiblichen Nachkommen
Abrahams, sondern um die Bekehrung der Übrigen, des Restes von Auserwählten,
die unter der Masse der Verstockten verborgen liegen und die das wahre Israel
bilden und des verheißenen Heils teilhaftig werden. „Das Israel sucht, das
erlangt es nicht. Die Wahl aber erlangt es, die andern sind verstockt (he de ekloge epetuchen, hoi loipoi epooroothesan). Wie
geschrieben steht: Gott hat ihnen gegebenen einen erbitterten Geist. Augen,
dass sie nicht sehen, und Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen
Tag. Und David spricht: Lass ihren Tisch zu einem Strick werden und zu einer
Berückung und zum Ärgernis und ihnen zur Vergeltung. Verblende ihre Augen, dass
sie nicht sehen, und beuge ihren Rücken allezeit.“ (Römer 11,7-10; Psalm
69,23.24)
Damit ist aber noch nicht alles gesagt, was über das
Schicksal Israels gesagt werden muss. Paulus stellt nun die Frage: „Me eptaisan hina pesoosin?“
Luther: Sind sie darum angelaufen, dass sie fallen sollten? Menge: Sind sie
etwa deshalb gestrauchelt, damit sie zu Fall kommen (= ins Verderben fallen)
sollten? Stöckhardt: Sie sind doch nicht
gestrauchelt, um zu fallen. (Röm. 11,11) Lenski fasst das „hina“
in konsekutivem Sinne auf: Did they
strike against (only with the
result that they fell). Diese Auslegung
scheint uns die richtige zu sein. Paulus will nicht etwa sagen, dass sie nach
ihrem Fall wieder aufgerichtet werden, denn es handelt sich um die Israeliten,
die sich gestoßen haben an dem Stein des Anstoßes und Fels des Ärgernisses und
infolgedessen in das Verstockungsgericht geraten sind, das ins Verderben führt.
Sondern er will sagen: Hat dieser Anstoß Israels gegen den
Fels des Heils als einziges Resultat ihren Fall und ihr Verderben? Nein,
dem ist nicht so, „sondern aus ihrem Fall ist den Heiden das Heil widerfahren“.
(Röm. 11,11) Hier wird nun sichtbar Gottes wunderbare Fügung, seine
unerforschlichen Wege und unbegreiflichen Gerichte. Durch
Gottes wunderbare Fügung ist es nun geschehen, dass der Fall der Juden
dieses heilsame Resultat hatte, dass den Heiden das Heil widerfahren ist. So
sagen Paulus und Barnabas zu den Juden in Antiochien, die dem Evangelium
widersprachen und lästerten: „Euch musste zuerst das Wort Gottes gesagt werden.
Nun ihr es aber von euch stoßt und ahctet euch selbst
nicht wert des ewigen Lebens, siehe, so wenden wir uns zu den Heiden.“ (Apg.
13,46)
Damit ist aber die Frage noch nicht endgültig
beantwortet. Zu beachten ist nun der Zusatz, der erst recht Gottes wunderbare
Wege ins hellste Licht stellt: „Auf dass sie denen
nacheifern sollen.“ Was Paulus damit meint, erklärt er im Folgenden: „Dieweil
ich er Heiden Apostel bin, will ich mein Amt preisen, ob ich möchte, die mein
Fleisch sind (= meine jüdischen Volksgenossen) zu eifern reizen und ihrer
etliche selig machen.“ (Rpöm. 11,13.14) (Menge: zur
Nacheiferung reizen) Dass nun unter den Heiden das Evangelium von dem Heil in
Christus verbreitet wird, hat nun wiederum den Zweck, die Juden zum Glauben zu
locken, die noch von dem Heil fern sind. Am Anfang des neuen Testamentes waren
es bekehrte, zum Glauben gebrachte Juden, z.B. die Apostel und ihre Mithelfer,
die die Heilsbotschaft unter den Heiden verbreiteten, währen die Majorität
ihres Volkes das Evangelium von Christus verwarf und seine Anhänger unter den
Juden sogar verfolgte. Seither hat sich die Situation umgekehrt: Nun sind es
Heiden, gläubige, bekehrte Heiden, die die Juden zu Christus bringen, den Rest,
die Übrigen aus Israel, in Gottes Reich sammeln.
Dass es sich jedoch nicht um eine Bekehrung des ganzen
leiblichen Israels, sämtlicher leiblicher Nachkommen Abrahams handeln kann,
sagt der Apostel im Folgenden: „Ich will euch nicht verhalten, liebe Brüder,
dieses Geheimnis, auf dass ihr nicht stolz seid: Blindheit ist Israel eines
Teils (pooroosis apo merous)
widerfahren, so lange, bis die Fülle der Heiden eingegangen ist, und also
das ganze Israel sselig werden wird, wie geschrieben
stehet: ‚Es wird kommen aus Zion, der da erlöse und abwende das gottlose Wesen
von Jakob.’“ (Röm. 11,25) Stöckhardt: „Israel ist zum
Teil Verstockung widerfahren, bis die Vollzahl der
Heiden eingegangen sein wird, und also wird ganz Israel errettet werden.“
Menge: „Verstockung ist über einen Teil der Israeliten gekommen bis zu der
Zeit, da die Vollzahl der Heiden (in die Gemeinde
Gottes) eingegangen sein wird, und auf diese Weise wird Israel in seiner
Gesamtheit gerettet.“
Diese Worte des Apostels werden von vielen falsch
gedeutet, als ob der Apostel erkläre, dass das Verstockungsgericht, das über
Israel gekommen ist, nur so lange daure, bis die Fülle der Heiden in Gottes
Reich eingegangen sei, dann werde dies Verstockungsgericht aufgehoben und es
trete eine Bekehrung des ganzen leiblichen Israels, sämtlicher Nachkommen
Abrahams, ein. Aber das sagt eben der Apostel nicht. Er sagt nicht, dass
das Verstockungsgericht aufgehoben werde, eine Bekehrung Verstockter gibt es
nicht, sondern er sagt, dass nur ein Teil des Volks Israel dem
Verstockungsgericht anheimgefallen sei, dass also, so lange die Zeit der
Heidenbekehrung dauere, solange das Evangelium unter den Heiden gepredigt
werde, auch immer noch Juden bekehrt würden, der Rest aus Israel gesammelt
werde. Und auf diese Weise werde das ganze Israel selig. Damit meint er nicht
das ganze Israel nach dem Fleisch, sondern das Israel nach dem Geist, die
Kinder der Verheißung, die Auserwählten, die unter der Masse der Verstockten verborgen
liegen. Wenn man unter dem ganzen Israel sämtliche Nachkommen Abrahams
verstehen wollte, müsste man behaupten, dass alle Juden, die je gelebt haben,
selig werden, auch solche, die in offenbarem Unglauben gestorben sind, wie
Saul, Judas, Kaiphas und andere. Und die Fülle der Heiden (plerooma)
kann auch nicht sämtliche Heiden bedeuten, sondern die Vollzahl
derer, die zum ewigen Leben erwählt sind (vergl. Apg. 13,48): „Es wurden
gläubig (unter den Heiden), wie viele ihrer zum ewigen Leben verordnet waren.“
Sonst käme man auf die dem christlichen Glauben völlig zuwiderlaufende
Irrlehre, dass schließlich alle Menschen selig werden, was dem Zeugnis der
Schrift Alten und Neuen Testaments zuwider läuft. Der
Apostel sagt also nicht: dann, nämlich wenn die Fülle der Heiden
eingegangen ist, wird ganz Israel selig, sondern auf diese Weise,
nämlich indem die Verstockung nur teilweise ist, indem während der Evangeliumspredigt unter den Heiden auch immer noch
Übriggebliebene aus Israel zum Glauben kommen. Wenn dann sämtliche Auserwählten
aus Juden und Heiden zu Christus bekehrt und in Gottes Reich gesammelt sind,
dann wird Christus wiederkommen in Herrlichkeit, und die aus Juden und Heiden
gesammelte Schar von Gläubigen und Auserwählten werden mit ihm ins ewige Leben
eingehen, auf dem neuen Himmel und der neuen Erde, von welcher Jesaja, Petrus
und Johannes weissagen, und wovon das alttestamentliche Kanaan, Jerusalem und
Zion nur Schatten und symbolische Vorbilder sind. Das bezeugt auch Paulus mit
den Worten: „Denn so ihr Fall der Welt Reichtum ist, und ihr Schade ist der
Heiden Reichtum; wie vielmehr, wenn ihre Zahl voll würde!“ (Röm. 11,12) „Denn
so ihr Verlust der Welt Versöhnung ist, was wird ihre Annahme sein als das
Leben aus den Toten?“ (V. 15) „Wenn alle Übrigen aus Israel, die sich Gott von
Anbeginn erwählt hat, bis auf die letzten für Christus gewonnen und von Gott zu
Gnaden angenommen sind, dann folgt das selige, herrliche Ende. Und das ist
nichts anderes als das Leben aus den Toten.“ „Wenn die Predigt des Evangeliums
ihren Zweck in der Heidenwelt und in Israel erreicht hat, wenn die Auserwählten
aus den Heidenvölkern und die Auserwählten aus Israel versöhnt und in die
Gemeinschaft Gottes eingegangen sind, dann ist diese Weltzeit vorüber, dann
wird ein neues Wesen und Leben Platz nehmen, das Leben der Verklärung, dann
werden die bekehrten Heiden und Juden das Reich ererben, das ihnen bereitet ist
von Anbeginn der Welt.“ (Stöckhardt, S. 518)
Wie sind nun die prophetischen Weissagungen
aufzufassen, die von einer Rückkehr und Sammlung Israels reden im Lande, das
Gott ihren Vätern verheißen hat? Es handelt sich hier nicht um die bestimmte
Weissagung von der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft unter dem
König Kores, wie sie geschrieben steht Jesaja 44,28
und 45,1, desgleichen Jeremia 25,11: „und sollen diese Völker dem Könige zu Babel dienen 70 Jahre“. Diese Rückkehr aus der
babylonischen Gefangenschaft betraf nur einen kleinen Teil des Volkes, einen
Teil des Stammes Juda und ist berichtet am Ende des
Buchs der Chronik und am Anfang des Buches Esra. Es gibt aber Weissagungen, die
weit darüber hinaus gehen und von einer Sammlung Israels aus allen Völkern
berichten, wozu auch die Heiden sich gesellen, und die im Lande geschehen soll,
das Gott den Vätern verheißen hatte. Wir führen einige dieser Weissagungen an:
Jeremia 23,5-6: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David
ein gerecht Gewächs erwecken will, und soll ein König
sein, der wohl regieren wird, und Recht und Gerechtigkeit auf Erden anrichten.
Zu derselben Zeit soll Juda geholfen werden und
Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, dass man ihn nennen wir:
Herr, der unsere Gerechtigkeit ist.“ Dieselbe Weissagung ist wiederholt Jeremia
33,14 ff. Eine ähnliche Weissagung findet sich Hesekiel 34,23: „Und ich will
ihnen einen einigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht
David; der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein.“ Desgleichen Hesekiel
37,24: „Und mein Knecht David soll ihr König und ihrer aller einiger Hirte
sein. Und sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und darnach
tun.“ Es handelt sich also hier um die Sammlung Israels unter dem König David;
damit kann nicht buchstäblich der historische König David gemeint sein, sondern
der verheißene Davidssohn, der Messias, um den sich
die Gläubigen aus Israel sammeln. Und das Land, in welchem diese Sammlung
geschieht, ist ebenfalls nicht das irdische, räumliche Land Kanaan, sondern das
Land, wovon Kanaan einTypus oder Vorbild war, nämlich
der geistliche Ort, da Christus über die Seinen herrscht, welche Herrschaft
geistlich ist und sich über die ganze Erde erstreckt, ja, die Propheten ziehen
oft das Reich Christi in seinem jetzigen geistlichen und unsichtbaren Zustand
zusammen zu Einem Reich mit dem Reich der Herrlichkeit, wo Gott in sichtbarer
Herrlichkeit unter den Seinen wohnt. Dass dies eine richtige Auslegung der
prophetischen Weissagung ist, bestätigen die Apostel selbst. Auf dem
Apostelkonzil zu Jerusalem handelte es sich um die Frage, ob man den zum
Glauben an Christus bekehrten Heiden die Beschneidung und das Halten des
Gesetzes Moses auferlegen sollte, welches dann allgemein verneint wurde. Dabei
führt der Apostel Jakobus eine Stelle an aus dem Propheten Amos (9,11 ff.), wo
geschrieben steht: „Danach will ich wieder kommen und will wieder bauen die
Hütte Davids, die zerfallen ist, und ihre Lücken will ich wieder bauen, und
will sie aufrichten, auf dass, was übrig ist von Menschen, nach dem Herrn
frage, dazu alle Heiden, über welche mein Name genannt ist, spricht der Herr,
der das alles tut.“ Keil bemerkt dazu in seinem Kommentar: „Die Aufrichtung der
verfallenen Hütte Davids hat mit der Erscheinung Christi und der Gründung der
christlichen Gemeinde durch die Apostel begonnen, und mit der Aufnahme der
Heiden in das von Christus aufgerichtete Himmelreich hat auch die Besitznahme Edoms und aller übrigen Völker, über welche der Herr seinen
Namen offenbart, ihre Anfang genommen. Die Gründung
und der Bau dieses Reiches geht fort durch die Jahrhunderte der christlichen
Kirche und wird vollendet werden, wenn dereinst die Fülle der Heiden (die Vollzahl der Auserwählten aus den Heiden) in das Reich
Gottes eingegangen sein und auch das zur Zeit noch
ungläubige Israel (das heißt, der Rest der Auserwählten aus Israel) sich zu
Christus bekehrt haben wird. Das Land, das von Strömen göttlichen Segens
fließen wird, ist nicht Palästina, sondern der Bereich der christlichen Kirche
(d.h. die Gemeinde der Gläubigen) oder die Erde, soweit sie der Segnungen des
Christentums teilhaftig geworden.“
Eine weitere Auslegung einer messianischen Weissagung
aus dem Munde eines Apostels finden wir in der Pfingstpredigt des Apostels
Petrus Apg. 2. Petrus erklärt den Zuhörern das Pfingstwunder, als die Jünger in
fremden Sprachen die großen Taten Gottes redeten: „Das ist’s, das durch den
Propheten Joel zuvor gesagt ist: Und es soll geschehen in den letzten Tagen,
spricht Gott, ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch, und eure
Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte
sehen, und eure Ältesten sollen Träume haben, und auf meine Knechte und auf
meine Mägde will ich in denselben Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie
sollen weissagen.“ Weissagung, Gesichte, Träume sind prophetisch, bildliche
Ausdrücke für die Erkenntnis und Verkündigung des Heils in Christus, vom
Heiligen Geist gewirkt, Erkenntnis der Dinge, die kein Auge gesehen, kein Ohr
gehört und in keines Menschen Herz gekommen sind. Diese Ausgießung des Geistes
hat damals am ersten Pfingstfest ihren Anfang genommen und geht fort und fort
durch die ganze Welt, wo immer das Evangelium gepredigt wird. Auf diese letzte
große Heilstat Gottes folgt dann das Endgericht, wie
es Joel daran anschließt, und er schließt mit den Worten: „Und soll geschehen,
wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll errettet werden. Denn auf dem
Berge Zion und in Jerusalem werden Entronnene sein, wie Jahwe gesprochen, und
unter den Übriggebliebenen werden sie, die Jahwe ruft.“ (nach der Übersetzung
von Keil) Keil bemerkt dazu: „Der Berg Zion und Jerusalem kommen hierbei nicht
als Hauptstadt des Reiches Juda in Betracht, sondern
nach ihrer geistlichen Bedeutung als die Stätte, wo der Herr in seinem
Heiligtum unter seinem Volk thronte, also als Zentralstätten des Reiches
Gottes. Auch wird nicht dem ganzen Volk Juda als solchem Errettung verheißen..., sondern nur denen, die den
Namen des Herrn anrufen, d.h. den wahren Verehrern Gottes, über welche der
Geist Gottes ausgegossen ist.“
Aus dem Neuen Testament, aber auch zum Teil aus dem
Alten Testament, geht deutlich hervor, dass die Ausdrücke: das Land, das den
Vätern verheißen ist, die Stadt Jerusalem, der Berg Zion, in den Weissagungen
von der messianischen Zeit
nicht räumliche geographische Orte auf Erden bezeichnen, sondern
bildliche Bezeichnungen sind für den ort, wo Christus
als König geistlicherweise durch sein Evangelium in
den Herzen regiert. Johann Gerhard bemerkt: „Prophetis in more positum, benefica
Messiae coelestia et spiritualia descirbere et adumbrare rebus corporalibus et umdanis, adeoque de rebus Novi Testamenti vaticinari verbis veteris Testamenti, sicut etiam de cultu spirituali loquuntur verbis ad legalem cultum
pertinentibus“ (Loci IX, p. 106 b). (Die Propheten haben die Gewohnheit, die himmlischen und
geistlichen Güter des Messias mit leiblichen und irdischen Dingen zu
beschreiben und darzustellen, ja soar von den Dingen
des Neuen Testaments zu weissagen mit Ausdrücken des Alten Testamentes, wie sie
auch von dem geistlichen Gottesdienst mit Ausdrücken reden, die zu dem
gesetzlichen alttestamentlichen Gottesdienst gehören.)
Keil schreibt ebenfalls in seinem Kommentar zu
Hesekiel: „Diese Weise, den Zustand des wiederhergestellten und durch den
Messias verherrlichten Israel, als ein friedliches Wohnen und ein an irdischen
Gütern reich gesegnetes Leben im Lande der Väter zu schildern ... tritt uns
mehr oder minder stark in den messianischen Schilderungen aller Propheten
entgegen ... Daraus folgt, dass die Propheten die herrliche Wiederherstellung
Israels unter Bildern, die sie von der Vergangenheit und Gegenwart des
israelitischen Volkslebens entlehnten, geschildert haben, diese Schilderung
also nicht buchstäblich, sondern typisch zu verstehen und keine wörtliche
Erfüllung derselben zu erwarten ist.“ (S. 349; 1868)
Dabei verschmelzen die Propheten oft den Zustand des
Reiches Christi hier auf Erden als geistliche Gemeinschaft, mit den Gaben des
Geistes ausgestattet, aber immerhin noch in der Welt, die unter der Herrschaft
der Sünde und des Todes liegt, zusammen mit dem Zustand des Reiches Christi in
dem Zustand der himmlischen Verklärung und Herrlichkeit. Wenn bei Hesekiel Gott
spricht: „Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein und sie sollen
mein Volk sein“ (37,24) und „mein Knecht David soll ewiglich ihr Fürst sein“,
so kann das sowohl vom jetzigen Zustand des Reiches Christi gelten als auch von
dem Zustand auf der neuen Erde, wovon Johannes in der Offenbarung schreibt: „Er
wird bei ihnen wohnen und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit
ihnen, wird ihr Gott sein.“ (Offenb. 21,3)
Das Land Kanaan, das dem Abraham und seinen Nachkommen
verheißen ist, ist das Land, da Christus geboren ist, sein Heilswerk vollbracht
hat und sein Reich angefangen, von wo aus es sich aber über die ganze Welt
verbreitet hat. So wird der Ausdruck, das Land, darinnen eure Väter gewohnt
haben (Hesekiel 37,25), zum Symbol des Reiches Christi, das sich über die ganze
Welt erstreckt. Das deutet Paulus an, wenn er schreibt: „Die Verheißung, dass
er sollte sein der Welt Erbe (kleeronomon einai kosmou) (Röm. 4,13), ist
nicht geschehen Abraham oder seinem Samen durchs Gesetz, sondern durch die
Gerechtigkeit des Glaubens.“ In wiefern ist Abraham
oder sein Same der Welt Erbe? Es ist ihm verheißen: „Ich habe dich gesetzt zum
Vater vieler Völker.“ (Röm. 4,17) Damit sind nicht nur die leiblichen
Nachkommen Abrahams gemeint, sondern alle Gläubigen, alle, die zum Glauben an
Christus, den verheißenen Samen Abrahams, gekommen sind und dadurch Abrahams
Kinder geworden sind. Sie sind Erben der jetzigen und der zukünftigen Welt, wie
Paulus sagt: „Es ist alles euer. Es sei Paulus oder Apollos, es sei Kephas oder die Welt, es sei das Leben oder der Tod, es sei
das Gegenwärtige oder das Zukünftige, alles ist euer, ihr aber seid Christi,
Christus aber ist Gottes.“ (1. Kor. 3,22.23). Matthäus 5,5: „Selig sind die
Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“
So wird denn auch die Stadt Jerusalem und der Berg
Zion zum Ausdruck für den geistlichen Ort, da Christus durch sein Evangelium in
den Herzen herrscht, und verlieren ihre buchstäbliche Bedeutung als eines
irdischen geographischen Raumes. Der Hebräerbrief schreibt an die gläubigen
Israeliten (vermutlich in Rom): „Ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der
Stadt des lebendigen Gottes zu dem himmlischen Jerusalem, und zu der Menge viel
tausender Engel und zu der Gemeinde der Erstgebornen, die im Himmel angeschrieben
ist.“ (Hebr. 12,22) Paulus redet auch von zweierlei Jerusalem, wenn er Galater
4,25 Hagar, die Sklavin, und Sarah, die Freie, miteinander vergleicht und darin
eine allegorische Darstellung des Unterschiedes findet, zwischen denen, die
unter dem Gesetz und denen, die unter der Gnade stehen. Wir zitieren nach der
Übersetzung Menges: „Das Wort Hagar bedeutet nämlich den Berg Sinai in Arabien,
und sie (d.h. die Hagar) entspricht dem heutigen Jerusalem; denn dieses
befindet sich auch in Knechtschaft samt seinen Kindern. Das Jerusalem droben
dagegen ist eine Freie und dies (Jerusalem) ist unsere Mutter.“ Paulus redet
hier von zweierlei Jerusalem: das heutige Jerusalem (hee
nun Hierousalem) bezeichnet das Judenvolk, welches
Christus verworfen hat und in der Knechtschaft des Gesetzes sich befindet; das
Jerusalem droben (hee anoo Hierousalem) bezeichnet die Gemeinschaft der
Christusgläubigen, die von oben her geboren sind (Joh. 1,13: von Gott geboren)
und in der Gemeinschaft Gottes und Christi sich befinden, von denen Paulus
sagt: „Gott hat uns in Jesus Christus mitauferweckt und mit ihm in die
Himmelswelt (oder: in die himmlischen Regionen) versetzt.“ Epheser 2,6 (nach
Menge). Hier bedeutet Jerusalem die geistliche Gemeinschaft der Gläubigen oder
das Reich oder die Kirche Christi in ihrem jetzigen Zustand. Bei Johannes
finden wir das himmlische Jerusalem in seinem künftigen Zustand auf der neuen
Erde: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel
und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sah
die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus
dem Himmel herabfahren, zubereitet als eine geschmückte Braut ihrem Manne.“ In
der Folge beschreibt Johannes die Herrlichkeit des neuen Jerusalems, aber eben
in Bildern, die von irdischen Gegenständen hergenommen sind. Denn es gibt keine
Worte menschlicher Sprache, in welchen die künftige Herrlichkeit adequat und auf uns verständliche Weise dargestellt werden
kann.
Auch Jesaja weissagt schon von dem neuen Jerusalem auf
der zukünftigen Welt. „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue
Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken wird, noch zu Herzen
nehmen. Sondern sie werden sich ewiglich freuen und fröhlich sein über dem, was
ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem schaffen zur Wonne und ihr Volk zur
Freude.“ (Jes. 65,17.18) Hier handelt es sich klar und eindeutig nicht um das
irdische, sondern um das himmlische Jerusalem.
Was das irdische Jerusalem anbelangt, so hat es im
Neuen Testament seine alttestamentliche Bedeutung als „heilige Stadt“, als
Stadt, da Gott seinen Wohnsitz und sein Heiligtum hat, wo der rechte
Gottesdienst stattfindet, völlig verloren. Selbst wenn die Juden Jesus als
ihren Heiland und König angenommen hätten, würde doch das Wort des Herrn
gelten, das er zu der samaritanischen Frau sprach:
„Weib, glaube mir, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge, noch zu
Jerusalem werdet den Vater anbeten. ... Es kommt die Zeit und ist schon jetzt,
dass die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der
Wahrheit.“ Das heißt, nicht durch die von Mose verordneten gesetzlichen
Zeremonien, sondern in der Gnade und Wahrheit, die durch Jesus Christus
geworden ist. Und gar von dem Jerusalem und dem jüdischen Volk, welches
Christus und seiner Apostel Botschaft verworfen hat, gelten die Worte des
Gerichtes: „Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis dass der Heiden
Zeit erfüllet wird.“ (Luk. 21,24) „Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen
werden.“ (Matth. 23,38) Es gilt das Wort des Apostels
Paulus von den Juden: „Welche auch den Herrn Jesus getötet haben und ihre
eigenen Propheten und haben uns verfolgt, und gefallen Gott nicht und sind
allen Menschen wider; wehren uns zu sagen den Heiden, damit sie selig würden,
auf dass sie ihre Sünden erfüllen allewege; denn der Zorn ist schon endlich
über sie gekommen“ (eis telos:
bis zur Vollendung, Erfüllung, Endziel). Schon Jesaja unterscheidet zwischen
dem Teil Israels, der selig wird und denen, die dem ewigen Verderben
anheimfallen: „Siehe, meine Knechten sollen essen, ihr
aber sollt hungern; siehe, meine Knechte sollen trinken, ihr aber sollt
dürsten; siehe, meine Knechte sollen fröhlich sein, ihr aber sollt zuschanden
werden; siehe, meine Knechte sollen vor gutem Mut jauchzen, ihr aber sollt vor
Herzeleid schreien und vor Jammer heulen.“ (Jes. 65,13.14)
Die Antwort auf die eingangs
gestellte Frage ist also folgende:
Auf keinen Fall ist die Aufrichtung des Staates Israel
eine Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen. Der Heilsplan Gottes hat nicht
sein Ziel in der Aufrichtung eines irdischen sichtbaren Reiches im Lande
Kanaan, etwa mit Jerusalem als Hauptstadt. Das wäre ein Rückschritt ins Alte
Testament, eine Zurückversetzung der freien Kinder Gottes in die Kinderschule
unter den Zuchtmeister des Gesetzes (Galater 3,23.25) Das Heilsprogramm
Christi, des Königs Israels, lautet vielmehr: „Es wir gepredigt werden das Evangelium
vom Reich in der ganzen Welt zu einem Zeugnis über alle Völker, und dann wird
das Ende kommen.“ (Matthäus 24,14)
1
Damit ist nicht
gemeint, dass Christen aus der Judenschaft nicht eigene messianische Gemeinden,
auch eine eigene messianische Kirchengemeinschaft bilden dürften; das dürfen
sie selbstverständlich, das steht ihnen völlig frei. Gemeint ist hier, dass
Juden als jüdische Religionsgemeinschaft neben der Kirche Jesu Christi eine
eigene Religionsgemeinschaft bilden und haben. (Anm. d. Hrsg.)