Theologische
Hermeneutik
Leitfaden
für Vorlesungen
Von
Ludwig Fürbringer
Wiedergabe der Ausgabe
Concordia Publishing House,
St. Louis, Mo. 1929
Neu herausgegeben
von
Roland Sckerl
Durmersheim
2016
Inhaltsverzeichnis
Sätze über die Analogie des Glaubens (analogia
fidei)
Theologische
Hermeneutik
§ 1
Die theologische oder biblische Hermeneutik
(‘η ‘ερμενευτική, sc. tέκνη, hermeneutica,
sc. Ars, hermeneutics oder principles
of interpretation) ist die
Lehre von den Grundsätzen und Regeln für die Auffindung und Darlegung des
Sinnes, den der Heilige Geist in die Worte der Heiligen Schrift gefasst hat.
Sie hat ihren Namen von ηρμενευειν, erklären,
auslegen, dolmetschen, übersetzen, Luk. 24,27; Joh. 1,38.41.42; 9,7; Apg. 9,36;
1. Kor. 14,13, gehört zu den exegetischen Disziplinen der Theologie und verhält
sich zur Exegese wie die Theorie zur Praxis.
§ 2
Diese Grundsätze und Regeln dürfen nicht
willkürlich aufgestellt werden, sondern liegen in den allgemeinen Gesetzen des
menschlichen Denkens und Ausdrucks und müssen vor allem im Wesen, in der
Gestalt und im Zweck der Heiligen Schrift begründet sein.
Anmerkung 1: Ihrem Wesen nach
ist die Schrift Gottes Offenbarung, in Worte menschlicher Sprache gefasst, 2.
Tim. 3,16; 2. Petr. 1,21; 1. Kor. 2,13; 2. Thess. 2,15. Deshalb muss der Exeget
die rechte Lehre von der Inspiration und Irrtumslosigkeit der Schrift und der
Göttlichkeit ihres Inhalts stets festhalten. Ps. 119,160; Joh. 10,35; 9,31.32;
17,17. (Luther III, 21).
Anmerkung 2: Ihrer Gestalt nach
ist die Schrift eine Sammlung von Büchern, die zu verschiedenen Zeiten, an
verschiedenen Orten, durch verschiedene Personen, unter verschiedenen
Verhältnissen, aus verschiedenen Veranlassungen, in verschiedenen Sprachen
verfasst worden sind. Dabei sind die Gesetze der menschlichen Sprache überhaupt
und die der hebräischen und griechischen Sprache besonders beobachtet worden,
und die angeführten sogenannten historischen Umstände der Entstehung haben
gewisse Einwirkungen auf die Gestaltung der einzelnen Schriften ausgeübt. Daher
muss eine richtige biblische Exegese sowohl grammatisch als historisch
verfahren und eine biblische Hermeneutik die Grundsätze und Regeln für eine
solche Exegese aufstellen.
Anmerkung 3: Ihrem Zweck nach
ist die Schrift eine Unterweisung zur Seligkeit, 2. Tim. 3,15; Joh. 5,39; Luk.
11,28. Die Exegese, zu der die Hermeneutik Anleitung gibt, muss darum nicht nur
grammatisch und historisch, sondern auch wahrhaft theologisch sein und dem
Zweck aller theologischen Tätigkeit gerecht werden. Die Hermeneutik ist ein „habitus practicus θεόδοτος [theodotos, von Gott gegeben] ad sensum
Sacrae Scripturae inveniendum atque aliis demonstrandum … ad salutem hominum Deique honorem“ [eine praktische,
von Gott gegebene Fertigkeit, den Sinn der Heiligen Schrift zu entdecken und
anderen darzulegen … zum Heil der Menschen und Gottes Ehre] (C.G. Hofmann, Institutiones Theologiae Exegeticae, p. 1.) Hebr. 5,14 (έξις, habitus, Beschaffenheit der
Seele, Fertigkeit, aptitude); 1. Tim. 4,16; 2. Tim.
3,17; 2. Kor. 2,16; 3,5.6; Apg. 18,24-28; 1. Petr. 4,11; 1. Kor. 10,31.
(Walther, Pastoraltheologie, S. 2. Walther, Brosamen, S. 329-331.)
§ 3
Eine absolute Notwendigkeit der Hermeneutik
als besonderer theologischer Disziplin kann zwar nicht behauptet werden, da die
Schrift in sich selbst klar und auch dem Einfältigen verständlich ist, Ps.
19,8.9; 119,105; 2. Tim. 3,15; 2. Petr. 1,19 (Luther V, 334-338; XVIII,
1681-1684. 1742; X, 473.) Aber ebenso wenig darf sie als überflüssig betrachtet
werden. Sie leitet den Theologen als Schriftforscher und Schriftausleger an,
seine Arbeit methodisch auszurichten, exegetische Fehlgriffe zu vermeiden,
seine Exegese zu rechtfertigen, sich und andere von ihrer Richtigkeit zu
überzeugen und das Verfahren und die Resultate anderer Exegeten zu prüfen und
zu beurteilen. Apg. 18,28; Tit. 1,9. (Rechter Gebrauch guter Kommentare.)
§ 4
Zur exegetischen Tüchtigkeit des Theologen
gehört aber nicht nur die Kenntnis richtiger hermeneutischer Grundsätze und
Regeln. Vielmehr ist dabei vorausgesetzt ein geübter Verstand, ein geschärftes
Urteil, ein gutes Gedächtnis, die Kenntnis der biblischen Grundsprachen,
gewisse rhetorische, archäologische und historische Kenntnisse, eine
Bekanntschaft mit den Lehren der göttlichen Ordnung und wahre Erleuchtung und
Herzensfrömmigkeit.
Anmerkung 1: Über die Notwendigkeit
der Kenntnis der biblischen Grundsprachen spricht sich aus Luther X, 468-475;
XIX, 1336 f; XXII, 6 f.; Lehre und Wehre 31,361: „Vom Schriftstudium der
Theologen“, 61,433: „Die Studenten der Theologie als gute Textuales“;
64,161: „Die offene Bibel“.
Anmerkung 2: Die Notwendigkeit der
geistlichen Erleuchtung durch die Wiedergeburt wird gelehrt Ps. 119,18; 2. Kor.
4,6; 1. Kor. 2,14; Jes. 66,2; Ps. 119,16.24.35.47.70.117. Vgl. Luther SVIII,
1683 f.; VIII, 37; XIII, 1898; XIV, 434-437. (Oratio,
meditatio, tentatio faciunt theologum [Gebet, im
Herzen bewegen und Anfechtung machen einen Theologen].) Baier, ed. Walther, I, 169-171. (Claritas Scripturae
externe et interna [äußere und innere Klarheit der
Schrift]; notitia literalis
seu historica et notitia salutaris seu fidei [buchstäbliche oder
geschichtliche Kenntnis und Heilserkenntnis oder Glauben].)
§ 5
Der Text, für dessen
Verständnis und Auslegung die theologische Hermeneutik Grundsätze darzulegen
und Regeln aufzustellen hat, sind die kanonischen Schriften des Alten und Neuen
Testaments, die während der Dauer des Alten Bundes und im ersten Jahrhundert
des Neuen Bundes entstanden sind.
Anmerkung 1: Die Bezeichnung
‘η παλαιά διαθήκη, ‘η καινή διαθήκη
[das Alte Testament, das Neue Testament] stammt aus der Schrift, Matth. 26,28; 2. Kor. 3,14; ebenso ruht die Bezeichnung κανών
[Kanon] im Sinne von Regel, Richtschnur (nicht im Sinne von ordo,
numerus, Verzeichnis) auf der Schrift, Gal. 6,16.
Schon Eusebius hat den Ausdruck της καινης διαθήκης γραφας
[die Schriften des Neuen Testaments] (Hist. Eccles. III,25). Athanasius sagt
vom „Hirten“ des Hermas: μή όν έκ του κανόνος [aber er ist außerhalb des Kanons] (De Decr.
Syn. Nic.; St. Louis, p.
33), und das Konzil zu Laodicea um 360 beschloss (Nr.
59): ‘οτι ού δεί ιδιωτικούς φαλμούς λέγεσθαι εν τη εκκλησία ουδέ ακανόνιστα βιβλία, αλλά μόνα τά κανονικά της καινης καί παλαιας διαθήκης
[Psalmen privaten Ursprungs oder nichtkanonische Bücher sollen nicht in den
Versammlungen gelesen werden, sondern nur die kanonischen Schriften des Alten
und Neuen Testaments]. (Lauchert, Die Kanones der wichtigsten altkirchlichen Konzilien,
S. 78.)
§ 6
Der Exeget hat darum
zunächst die Aufgabe, sich über die ursprüngliche Gestalt dieses Textes
Gewissheit zu verschaffen. (Textkritik, niedere Kritik, textual,
verbal, lower citicism.)
Anmerkung 1: Die
Notwendigkeit der Textkritik hat schon Luther erkannt, IX, 1086; VIII, 1719.
1849. 1852; XIV, 600; sie ist aber besonders in neuerer Zeit betont worden.
Anmerkung 2: Den
Nachweis der Authentie (authenticity), Integrität (integrity) und Kanonizität (canonicity) der heiligen Schriften, der auch zur biblischen
Kritik gehört (Literarkritik, historische, höhere Kritik, literary,
historical, higher criticism), gibt die Disziplin der biblischen Einleitung.1
§ 7
Die Originale sämtlicher
Bücher der Schrift sind längst verloren gegangen; auch kann keine der
vorhandenen alten Abschriften als vollständig genau erwiesen werden. Doch ist
der heilige Text unverkürzt auf uns gekommen und in den für die Textkritik
zugänglichen Quellen zu finden.
Anmerkung 1: Diese
Quellen sind: 1. die vorhandenen Handschriften der ganzen Testamente und
einzelner Teile derselben; 2. die alten Übersetzungen (LXX, Peschitta,
Vulgata und andere); 3. die Schriften der Kirchenväter, welche Zitate aus der
Schrift enthalten, und sonstige Stellen, von denen aus sich auf die Form des Textes
schließen lässt [; 4. Lektionare für den
gottesdienstlichen Gebrauch]. Für das Alte Testament kommen noch hinzu das Neue
Testament, die Targumim, der Talmud und rabbinische
Schriften [sowie die Qumran-Rollen].
Anmerkung 2: Ihrem
Wert nach sind diese Quellen sehr verschieden. Bei den Handschriften kommt es
darauf an, ob sie älter oder jünger sind, zu einer besseren oder geringeren
Gruppe gehören, sorgfältiger oder sorgloser geschrieben sind, von gebildeten
oder ungebildeten Männern, nach einer guten oder schlechten Vorlage [und aus
welchem geistlich-theologischen Umfeld die Schreiber stammten]. Bei den
Übersetzungen kommt es darauf an, ob sie wortgetreu oder frei sind; bei den
patristischen Zitaten, ob die Kirchenväter griechisch oder lateinisch geschrieben,
aus dem ihnen vorliegenden Text oder aus dem Gedächtnis zitiert, nach dem
Grundtext oder nach einer Übersetzung gearbeitet haben, ob ihre Schriften
exegetischen und polemischen oder homiletischen und asketischen Inhalts sind.
Anmerkung 3: Die moderne
Konjekturalkritik, die hinter die vorhandenen Quellen zurückgeht und den Text
nach Vermutungen ändern will, ist nicht als berechtigt anzuerkennen, da
einerseits genügend Quellenmaterial vorhanden ist, und andererseits man an der
handschriftlichen Überlieferung festhalten muss, solange diese nicht mit
Sicherheit als falsch nagewiesen werden kann. (P. Ewald ändert κτίσει,
Kol. 1,23, in κλίσει; R.
Harris εν ‘ω, 1. Petr.
3,19, in ‘ενοχ;
Klostermann קםן [katon],
1. Sam. 2,19, in eine vermeintliche Bezeichnung des Stoffes = Kattun, Budde ישכיל [jaskil], Jes. 52,13, in ישךאל [Israel]).
Anmerkung
4: Die zahlreichen, in die Tausende gehenden Handschriften des Alten
Testaments, deren älteste aus dem 9. Oder 10. Jahrhundert nach Christus stammen
(Codex prophetarum posteriorum
in St. Petersburg 916/17)2 ,
zerfallen in zwei Klassen: Synagogenrollen und Privatmanuskripte. Die ersteren
enthalten gesetzlicherweise nur die Thorah, sind nach strengen Vorschriften im altertümlichen
Rollenformat mit Quadratschrift, ohne Vokale und Akzente, mit altertümlichen
Zwischenräumen und Schriftabsätzen auf Pergament geschrieben mit der größten
kalligraphischen Genauigkeit und der sorgfältigsten Korrektur nach
Musterexemplaren, enthalten daher einen gleichförmigen Text. Die
Privatmanuskripte enthalten mehr oder weniger auch die anderen Bücher des Alten
Testaments, auf Pergament oder Papier im Faltenformat mit Quadratschrift oder
später auch mit rabbinischer Kursivschrift geschrieben, mit
Buchstabenverzierungen und Zwischenräumen zwischen den einzelnen Büchern, mit
der Massora magna und parva versehen, häufig auch mit
einem Targum und allerlei rabbinischen und kritischen
Bemerkungen. Die Zahl der Varianten des alttestamentlichen Textes ist
verhältnismäßig gering (Kethib und Quere).
Anmerkung
5: Die Zahl der Handschriften des Neuen Testaments und seiner Teile beläuft
sich auf mehr als 4.000 (161 Majuskelhandschriften, 2.304
Minuskelhandschriften, 1.547 Lektionarien). Die ältesten
stammen aus dem 4. Bis 10. Jahrhundert (Codex Vaticanus,
B, aus dem 4., Codex Sinaiticus, א, aus dem 4.
oder 5., Codex Alexandrinus, A, aus dem 5.), sind in
Unzialschrift geschrieben, ohne Akzente, spiritus und
iota subscriptum, ohne
Interpunktion und Trennung der Worte und Abschnitte (scriptio
continua). Die späteren und zahlreichsten Codices sind mit Kursivbuchstaben geschrieben und haben
Akzente, Interpunktionen und Abteilungszeichen. Manche enthalten auch
Anmerkungen (codices mixti)
oder eine Übersetzung (codices bilingues),
namentlich eine lateinische (codices Graeco-Latini); manche wurden später überschrieben (codices rescripti, Palimpseste,
Codex Ephraemi, C). Die Zahl der Varianten des
neutestamentlichen Textes ist groß und wird auf 50.000 bis 150.000 angegeben.
Doch darf diese Tatsache nicht den Eindruck hervorrufen, als ob es nun sehr
schwer oder ganz unmöglich sei, den Text annähernd genau festzustellen. Denn
weitaus die meisten Varianten sind offenbare Schreibfehler; die noch
übrigbleibenden ändern höchst selten wesentlich den Sinn, o man dieser oder
jener Lesart folgt; und selbst wenn man die geringsten Handschriften zur
Herstellung des Textes benutzen würde, so würde doch kein Glaubensartikel
wegfallen oder auch nur im geringsten geändert werden.
(Verkehrtes Hereinziehen der Variantenfrage in die Lehre von der Inspiration.)
§ 8
Die Abweichungen der
Abschriften von den Urschriften und voneinander sind teils unabsichtlich, teils
absichtlich durch die Abschreiber entstanden.
§ 9
Die unabsichtlichen
Veränderungen des Textes sind zurückzuführen entweder auf flüchtiges Lesen oder
ungenaues Hören, auf Untreue des Gedächtnisses oder Fehler des Verstandes auf
Seiten des Abschreibers.
Anmerkung 1: Durch
Flüchtigkeit des Sehens konnten Buchstaben von ähnlicher Figur verwechselt
werden, im Hebräischen ב und כ, ר und ו, ה und ח, ב und מ, י und ו; im Griechischen Λ, Δ und Α, Ο und Θ, Π, Ν und Μ, Τ und Υ, μ, χ und η, ρ und σ. Vgl. im
Hebräischen Neh. 12,3 שכניה statt שבניה; V. 14; 10,4 (6); 1. Sam. 6,18 אכל statt אכן,
V. 14.15; 1.Chr. 11,27
ההרורי statt החרי, 2. Sam. 23,25, Richter 7,1. Aus solcher
Verwechslung lassen sich wahrscheinlich auch manche Zahlenverschiedenheiten
erklären, da Buchstaben als Zahlenzeichen gebraucht wurden. 2. Chr. 22,2: 42 (מ = 40)
statt: 22 (כ = 20), 2. Kge 8,26. 17; 2. Sam.
24,13: 7 (ז) statt: 3 (ג), 1. Chr. 21,12. – Vgl.im Griechischen Röm. 12,13 μνείαις statt χρείαις; 1. Tim. 3,16 ‘ος statt θεός (wobei die handschriftliche Abkürzung ΘC = θεός in der Unzialschrift in Betracht zu ziehen ist). Infolge des Schreibens serie continua mit Unzialschrift
konnte leicht aus Versehen ein Buchstabe des vorhergehenden Wortes zum
folgenden gezogen werden, 1. Thess. 2,7 εγενήθμεν νήπιοι statt ήπιοι, oder ein Wort ausgelassen oder hinzugefügt werden, Luk.
9,49 εκβάλλοντα τά statt εκβάλλοντα, oder Buchstaben umgestellt werden, so dass ein anderes,
ähnliches Wort entstand, Mark. 14,65 έβαλλον statt ελαβον. Von einem Wortanfang oder Wortende konnte das Auge zu
einem gleichen oder ähnlichen Wortanfang oder Wortende springen, und
infolgedessen konnten Textbestandteile ausgelassen werden; vgl. Matth. 23, wo V. 14 in guten Handschriften fehlt, 1. Joh.
2,23, wo die Worte ‘ο ‘ομολογων τόν υίον και τόν πατέρα έχει in guten Textzeugen stehen (‘ομοιόαρκτον und ‘ομοιοτέλευτον).
Anmerkung
2: Durch ungenaues Hören konnten Fehler entstehen, wenn dem Schreiber der
Text diktiert wurde, und entweder der Diktierende es an der deutlichen
Aussprache oder der Schreibende an der nötigen Aufmerksamkeit fehlen ließ, so
dass ein Wort mit einem ähnlich lautenden verwechselt wurde. Auch beim
einfachen Kopieren waren solche Fehler möglich, indem der Abschreiber den
vorliegenden Text ablas, das Gelesene vor sich hinsprach und dabei auf ähnliche
Laute und Worte abirrte. Oft veranlasste jedenfalls auch die verschiedene
Aussprache Irrtümer des Gehörs (Itazismus). 2. Sam. 17,25 ישראלי statt ישמעלי, 1. Chr. 2,17; 1. Sam.
17,34 זה statt שה, 1. Sam. 2,3 לא statt לו. Im Neuen Testament wurden ‘ημεις und ‘υμεις in allen casus verwechselt,
ebenso ο und ω und infolgedessen Indikativ und Konjunktiv. Vgl. ferner Matth. 11,16 ‘εταίροις statt ‘ετέροις; Röm. 2,17 ίδε statt ει δέ; 1. Tim. 5,21 πρόσκλησιν statt πρόσκλισιν.
Anmerkung
3: Durch Untreue des Gedächtnisses entstanden Fehler in der Weise, dass der
Abschreiber, nachdem er eine Anzahl Wörter gehört oder gelesen hatte, diese
nicht genau behielt, bis er sie niedergeschrieben hatte. So kamen Umstellungen
der richtigen Wörter vor, Auslassungen und sonstige Versehen bei der Angabe und
Aufzählung von Namen und Zahlen, häufige Verwechslungen synonymer Wörter und
Formeln und wohl auch Versetzungen einzelner Verse. 2. Sam. 15,7 ארבעים שנה statt ארבע
שנים
(LXX und Peschittha); 2. Sam. 22,7 אקרא
und Ps. 18,7 אשוע; 1. Mose 46,20, wo die LXX fünf Namen mehr
hat (vgl. auch V. 27 nach der LXX und Apg. 7,14); 1. Chr. 7,28 (6,13), wo der
Name des Erstgeborenen, Joel, ausgefallen ist, vgl. V. 33 (18) und 1. Sam. 8,2.
In den hebräischen Handschriften sind יהוה und אדני öfters vertauscht, und die LXX hat an etwa
180 Stellen eine andere Gottesbezeichnung als der masoretische
Text. Vgl. im Neuen Testament Joh. 16,22 λύπην μέν νυν statt νύν μέν λύπην; Hebr. 2,14 σαρκός καί α’ίματος statt α’ίματος καί σαρκός; Apg. 20,28 κυρίον statt θεου; 1. Petr. 3,13 μιμηταί statt ζηλωταί; Luk. 13,31 ‘ημέρα statt ‘ώρα; Matth. 22,37 ειπεν statt εφη. Besonders häufig wurden Präpositionen (εκ und απο, εις und πρός) und Partikel (καί, μέν, δέ, ουν) verwechselt und der Artikel ausgelassen.
Anmerkung
4: Fehler des Verstandes zeigen sich in falscher Trennung oder Verbindung
aufeinanderfolgender Wörter, was bei der scriptio continua leicht geschehen konnte, in unrichtiger Auflösung
der Abbreviaturen [Abkürzungen] und Zahlzeichen, in der Aufnahme erklärender
Bemerkungen und Glossen vom Rand in den Text und einleitender Worte in den Lektionarien. Vgl. Hes. 42,9 ומתחתה, wo ה als Artikel zum folgenden Wort zu ziehen ist; Ps. 31,7 שנאתי statt שנאת
י (י=יהוה)
Phil. 1,1 συνεπισκόποις statt σύν επισκόποις; Gal. 1,9 προείρηκα μέν statt προειρήκαμεν; Röm. 12,11 καιρω statt κυρίω (κ, = καί, κ,ρω, κσ = κύριος, κρω); 1. Tim. 3,16 ‘ός statt θεός (ΘC = θεός); 2. Sam. 24,13: 7 (ז) statt 3 (נ), 1. Chr. 21,12. Hes. 46,22 ist מהקצאות wahrscheinlich Glosse; ebenso Röm. 8,28 ‘ο θεός, und Luk. 7,31 ist είπε δέ ‘ο κύριος einleitende Formel. – Durch irgendein Versehen der
Abschreiber steht 2. Sam. 23,20 איש
חי statt חיל.
Anmerkung
5: Manche Varianten sind derart,
dass eine mehrfache Erklärung ihrer Entstehung möglich ist: 1. Tim. 3,16 ‘ος statt θεός. Als Regel gilt nun, dass vor solchen Lesarten, deren Entstehung sich auf
die eine oder andere oder mehrfache Weise erklären lässt, diejenigen Lesarten
als die echten den Vorzug verdienen, deren Entstehung bei der Annahme ihrer
Unechtheit sich nur schwer oder gar nicht erklären lässt.
§ 10
Absichtliche Veränderungen des Textes lassen sich in den Abschriften des
Alten Testaments nur höchst selten nachweisen. In den Handschriften des Neuen
Testaments finden sich jedoch häufig Varianten, denen die Absicht zugrunde
liegt, die Sprache zu berichtigen, zu verschönern und zu verdeutlichen, die
Orthographie zu verbessern, historische und harmonistische
Schwierigkeiten und vermeintliche dogmatische Anstöße zu beseitigen und
Scheinwidersprüche zu lösen.
Anmerkung
1: Sprachliche Korrekturen sind Offenb. 4,1 λέμουσα statt λέγων; Mark. 12,23, wo ‘όταν αναστωσι beseitigt wurde; Luk. 1,64, wo ελύθη eingefügt wurde; Matth. 15,32 ‘ημέρας statt ‘ημέραι.
Anmerkung
2: Orthographische Verbesserungen finden sich besonders bei Eigennamen: Matth. 4,13 Ναζαρά, Ναζαράθ, Ναζαρέτ; Καφαρναούμ, Καπερναούμ. Vgl. aber auch Phil.. 4,15 λήψεως und λήμψεως; Matth. 25,36 ήλθατε und ήλθετε.
Anmerkung
3: Äußerung einer historischen Kritik ist es, wenn Matth.
27.9 ‘Ιερεμίου entweder fehlt oder durch Ζαχαρίου ersetzt wird, Mark. 1,2 τοις προφήταις statt ‘Ησαια τω προφήτη.
Anmerkung
4: Harmonistische Schwierigkeiten wurden Anlass
zu absichtlichen Textänderungen. Joh. 19,14 steht in manchen Handschriften tρίτη statt ‘έκτη wegen Mark. 1,25 und vice versa [umgekehrt].
Mark. 16,9-20 wurde ausgelassen wegen Kap. 14,28; 16,7; Matth.
28,16; Joh. 20,19. 1. Kor. 11,24 wurde λάβετε, φάγετε hinzugefügt werden Matth. 26,26; Mark. 14,22.
Anmerkung
5: Vermeintliche dogmatische Anstöße sollten beseitigt werden: Luk. 2,33 Ιωσήφ statt ‘ο πατήρ; Joh. 7,39, wo zu ούπω ην πνευμα hinzugefügt wurde δεδομένον oder επ‘ αυτοις.
Anmerkung
6: Um Scheinwidersprüche zu lösen, wurde Matth.
23,35 υ’ιοθ Βαραχίου ausgelassen wegen 2. Chr. 24,20 und Joh. 7,8 ουκ in ουπω verwandelt wegen V. 10.
Anmerkung
7: Aus der nachweislichen Absicht mancher Abschreiber, den Text aus diesem
oder jenem Interesse zu verändern, ergibt sich die Regel, dass Lesarten, welche
sprachliche Härten oder exegetische Schwierigkeiten bieten, den Vorzug
verdienen vor Lesarten, welche solche Schwierigkeiten beseitigen würden. Doch
darf diese Regel nicht dahin missbraucht werden, sinnlosen Verschreibungen und
unmöglichen Wort- und Satzbildungen den Vorzug zu geben. Luk. 3,33 ‘Αδμείν τοθ ‘Αρνεί statt ‘Αράμ; Eph. 1,1 τοις ουσιν ohne Ortsbestimmung. [Diese Regeln können stimmen,
müssen aber nicht, zumindest nicht in jedem Fall; sie beruhen auch auf reiner
Annahme, die zwar eine gewisse Logik beinhaltet, aber darum nicht zwingend sein
muss. Anm. d. Hrsg.]
§ 11
Da
die Heilige Schrift in menschlicher Sprache verfasst ist und alle ihre Bücher
in den Sprachen auf uns gekommen sind, in welchen sie ursprünglich geschrieben
wurden, so ist für die Auslegung des biblischen Textes eine genaue Kenntnis der
Grundsprachen des Alten und Neuen Testaments dem Exegeten nötig.
§ 12
Zur
Kenntnis einer jeden Sprache und also auch der biblischen Grundsprachen gehört
eine Bekanntschaft mit der Bedeutung der Wörter, die der Sprache angehören, und
mit der Art und Weise, wie diese Wörter zu zusammenhängenden Sätzen verbunden
werden. (Substanz und Form der Sprache. Richtiger Gebrauch guter Lexika und
Grammatiken.)
§ 13
Jedes Wort hat eine etymologische Grundbedeutung, die entweder noch
im Sprachgebrauch vorkommt oder daraus verschwunden ist, und eine Bedeutung im Sprachgebrauch
(usus loquendi).
§ 14
Die
etymologische Grundbedeutung und der usus loquendi eines Wortes fallen entweder zusammen oder stehen
nur in einer näheren oder entfernteren Verwandtschaft miteinander.
§ 15
Für
den Exegeten ist zwar auch die Kenntnis der etymologischen Grundbedeutung der
Wörter häufig von praktischem Wert; doch von erster und höchster Wichtigkeit
muss ihm stets die Kenntnis der Wörter im usus loquendi sein, da er es bei der Auslegung mit den Wörtern
immer insofern zu tun hat, als sie wirklich in einer bestimmten Bedeutung
gebraucht worden sind [d.h. die Kenntnis, wie, in welchem
Zusammenhang, in welcher Bedeutung ein Wort in der Heiligen Schrift gebraucht
wurde, denn dadurch wird seine Bedeutung für die Schrift festgelegt, Anm. d.
Hrsg.].
Anmerkung:
Die Kenntnis der Etymologie eines Wortes ist von praktischem Wert bei
Hapaxlegomena (שילה, 1. Mose 49,10; επιούσιος, Matth. 6,11; Luk. 11,3) und
überall da, wo sie bestimmend auf den Sprachgebrauch eines Wortes eingewirkt
hat. Auch lässt sich aus der Etymologie oft erkennen, von welcher Seite aus ein
bestimmter Begriff durch ein bestimmtes Wort treffend bezeichnet wird (πίστις, Hebr. 11,1) oder von welchem Gesichtspunkt aus ein
gewisses Wort aus einer Reihe von synonymen Ausdrücken gebraucht worden ist (δούλος, διάκονος, ‘υπηρέτες). Doch lässt sich nicht behaupten, dass die
etymologische Grundbedeutung immer die Wahl eines bestimmten Wortes beeinflusst
hat; vgl. διάκονοι, ‘υπηρέται, 1. Kor. 3,5; 4,1, und es gibt auch viele Fälle, in
denen die Kenntnis derselben nicht zu einer tieferen Auffassung der Rede
beiträgt, vgl. πατήρ, Röm. 4,16; τέκνα, Eph. 2,3.
§ 16
Der
Ausleger hat die Bedeutung, welche einem Wort am gewöhnlichsten und
allgemeinsten beigelegt wird (significatus communis sive vulgaris,
usus generalis), so lange
festzuhalten, bis genügende Gründe ihn zwingen, davon abzugehen; denn man hat a
priori anzunehmen, dass der Redner oder Schreiber seine Worte in dem Sinn
gebraucht, in welchem sie von denen, zu welchen er redet oder an welche er
schreibt, gewöhnlich gebraucht werden. (Apologie, S. 282 [Ausg.
Müller], § 9. Luther XVIII, 1820-1823; XIX, 1312-1315; XX, 249.910; III, 20 f.)
Anmerkung:
Man unterscheidet usus generalis
im weiteren und engeren Sinn. Usus generalis
[allgemeiner Gebrauch] im weiteren Sinn ist der Gebrauch, den ein Wort einer
Sprache zu allen Zeiten und in allen Ländern ganz allgemein erfahren hat; usus generalis im engeren Sinn
ist der Gebrauch, den ein Wort zu einer gewissen Zeit oder ein einer gewissen
Gegend vorwiegend erfahren hat. (Klassisches und hellenistisches Griechisch.)
§ 17
Innerhalb der Gesamtheit derer, welche eine Sprache gebrauchen, ist
öfters gewissen Kreisen oder Gebieten ein besonderer, vom usus
generalis verschiedener Gebrauch eines Wortes eigen (usus specialis [, besonderer Gebrauch]). Bei einem
Schriftsteller, der einem solchen Kreis oder Gebiet angehört oder für Leser
desselben schreibt, ist dieser usus specialis der
Wörter anzunehmen, solange nicht andere Gründe nötigen, davon abzugehen.
Anmerkung
1: Ein solcher usus specialis findet sich bei
einer Reihe von Wörtern des neutestamentlichen Griechisch infolge des
Einflusses der hebräischen Sprache (Hebraismen): Gal.
2,6 πρόσωπον λαμβάνειν; Matth. 2,20 ζητειν
τήν ψυχήν; προστιθέναι
cum inf., Luk. 20,11.12; και εγένετο
... καί, Luk. 8,1.
Anmerkung 2: Ein solcher usus
specialis findet sich ferner bei Wörtern, die einer bestimmten Wissenschaft,
Kunst, Berufsart usw. in einer bestimmten Bedeutung angehören: 3. Joh. 13 χάλαμος,
μέλαν; Eph. 6,14 θώραξ; Luk. 2,1 απογράφεσθαι; röm. 3,25 ‘ιλαστήριον.
§ 18
Öfters findet man, dass ein Schriftsteller
oder eine bestimmte Schrift eines Schriftstellers ein Wort stehend oder doch
stark vorwiegend in einer gewissen, vom usus communis abweichenden Bedeutung gebraucht. Man hat dann bei
der Auslegung der betreffenden Schrift einem solchen usus
specialis Rechnung zu tragen und wird davon nur dann abgehen dürfen, wenn der
Kontext oder ein anderer hermeneutischer Grund gegen seine Annahme entscheidet.
Anmerkung
1: Im Neuen Testament entstand ein solcher neuer usus
loquendi eines Wortes dadurch, dass die heiligen
Schreiber Dinge zu bezeichnen hatten, die vorher weder in der Profangräzität
noch in der LXX [Septuaginta] benannt worden waren (sprachbildende Kraft des
Christentums; Schleiermacher, „Hermeneutik und Kritik“, S. 68), z.B. ευανγγέλιον, απόστλος, εκκλησία (usus communis
aber Apg. 19,39), βαπτίζειν (usus communis
Mark. 7,4), ‘η γραφή, ο‘ι εκλεκτοί, σάρξ, ‘ο κύριος. Cremer-Kögel, „Biblisch-theologisches Wörterbuch der
neutestamentlichen Gräzität“; von Zezschwitz,
„Profangräzität und biblischer Sprachgeist“.
Anmerkung
2: Um einen solchen usus loquendi
specialis der Heiligen Schrift oder eines einzelnen Schriftstellers
festzustellen, hat der Ausleger zunächst das vorliegende Buch, dann andere
Bücher desselben Schreibers, besonders die inhaltlich verwandten, schließlich
die übrigen biblischen Bücher, die in derselben Sprache und dann, die überhaupt
geschrieben worden sind, in Betracht zu ziehen, um so durch Vergleichung aller
Stellen, an denen ein bestimmtes Wort vorkommt, sein Ziel zu erreichen. Vgl.
den johanneischen Gebrauch von λόγος, Joh. 1,1.14; 1. Joh. 1,1; Offenb.
19,13, und den verschiedenen Gebrauch von πίστις, Röm. 3,28; Tit. 2,10; χάρις, Röm. 11,6; 6,17. (Gebrauch der Konkordanzen.)
§ 19
Die
Verwendung eines Wortes kann auch insofern verschieden sein, als es in engerer
oder in weiterer Bedeutung gebraucht wird. Vgl. γη, Matth 9,31; 6,10; άγγελος, Luk. 1,11; Matth. 11,10; αδελφός, Matth. 10,2; 12,46; 5,47;
18,15; νόμος, röm. 3,20; Apg. 25,8; Röm. 3,27.
§ 20
Ein
Wort kann ferner entweder in eigentlicher oder in übertragener, tropischer
Bedeutung gebracht werden.
Anmerkung
1: Beispiele von Metaphern finden sich Luk. 13,32; 1. Petr. 2,5. Bei der
Erklärung metaphorischer Ausdrücke muss der Exeget einerseits den
Vergleichspunkt richtig erkennen und darf andererseits den Vergleich über den
Vergleichspunkt nicht ausdehnen. (Vgl. auch Offenb.
5,5 und 1. Petr. 5,8.)
Anmerkung
2: Der Grundsatz: Ne tropus
ultra terium! [Kein Bild
über den Vergleichspunkt hinaus!] gilt auch für die erweiterte Metapher oder
Parabel, in der also nicht alle Einzelheiten auszudeuten sind. Luk. 8,4-15; Matth. 20,1-16. (Luther IX, 510. Lehre und Wehre 59,337:
„Etwas über die Gleichnisse unsers HERRN, sonderlich über ihren dreifachen
Zweck.“)
Anmerkung
3: Beispiele einer Metonymie finden sich Luk. 2,30 (effectus
pro efficiente [Wirkung gemäß Wirksamkeit]); Apg.
2,11 (causa pro effectu [Ursache gemäß Erfüllung]);
Luk. 22,20 (continens pro contento
[gemäß dem Zusammenhang]).
Anmerkung
4: Beispiele einer Synekdoche finden sich Joh. 19,42 (totum
pro parte [das Ganze für einen Teil]); Joh. 1,14
(pars pro toto [ein Teil für das Ganze]); Röm. 11,7 (abstractum
pro concreto [das Abstrakte für das Konkrete]).
Anmerkung
5: Eine besondere Art von Tropen sind die Anthropomorphismen und Anthropopathismen der Schrift, da Redeweisen, die vom
menschlichen Leibe und von der menschlichen Seele und deren Kräften und
Verrichtungen hergenommen sind, auf Gott übertragen werden: Ps. 8,4; 18,16;
34,16; 104,2.29.30; Jes. 30,30; 49,16; Nah. 1,3; 5. Mose 26,15. – 1. Mose 6,6
(4. Mose 23,19; 1. Sam. 15,29); 1. Mose 18,21; 8,1; Ps. 13,2. – 1. Mose 8,21;
19,22; Ps. 104,32; Jer. 31,26.
§ 21
Wie
ein Wort verschiedene Erweiterung und Verengung seiner Bedeutung erfahren kann
(§ 19), so auch verschiedene Übertragung. Vgl. σάρξ, Luk. 24,39; Röm. 2,28; Joh.1,14; 3,6. Die tropische Bedeutung
eines Wortes, das nur als Kopula dient, ist ausgeschlossen. Luther XX, 904-910.
985-992.
§ 22
Ein
Wort der Schrift kann an einer Stelle und in einer Beziehung nur einen
intendierten Sinn haben. Sensus literalis
unus est [Der buchstäbliche
Sinn ist einer].
Anmerkung
1: Der Grund dieser Fundamentalregel liegt in der Schrift selbst. Wenn ein
Wort einen mehrfachen Sinn mit gleicher Berechtigung zulässt, so ist man verhindert,
den eigentlichen Sinn der Rede festzustellen, und nicht ein rechter Gebrauch,
sondern ein Missbrauch der Sprache liegt vor. Dies kann und darf von der
Schrift nicht ausgesagt werden wegen ihres Ursprungs und Zwecks, 2. Tim.
3,15-17; Ps. 19,8.9. (Vgl. Luther XVIII, 1307. 1308; IV, 1304-1307; VII, 286;
XX, 850.)
Anmerkung
2: Dieser Grundsatz bleibt auch bestehen bei solchen Stellen der Schrift,
in denen der eine Sinn weniger klar zutage tritt, der Ausleger noch nicht mit
voller Sicherheit den intendierten Sinn angeben kann, und auch rechtgläubige
Exegeten verschiedener Meinung sind (cruces interpretum [Kreuze der Auslegung]), z.B. Gal. 3,20; 1.
Kor. 15,29; Eph. 4,9. (Vgl. Theological Quarterly,
VI, 110: „Variant Interpretations“.)
Anmerkung
3: Kein Widerspruch mit diesem Grundsatz entsteht, wenn ein Wort an einer
Stelle zwar nur einmal gesetzt, aber zwei- oder mehrfach zu beziehen ist und
infolgedessen auch in verschiedenem Sinn gebraucht sein kann. Vgl. Joel 2,13:
„zerreißt“.
Anmerkung
4: Mit diesem Grundsatz ist nicht ausgeschlossen, dass ein und dasselbe
Schriftwort verschiedene Anwendungen erfahren kann, wobei ihm eben nicht
bald dieser und bald jener Sinn beigelegt, sondern der eine Sinn auf
verschiedene Personen, Umstände und Verhältnisse angewandt wird. Gal. 6,7; 1.
Kor. 2,9; 1,8.
Anmerkung
5: Zur Anwendung einer Stelle gehört auch der sogenannte sensus mysticus oder allegoricus [mystischer oder allegorischer Sinn], der nicht
sowohl als Inhalt der Worte als vielmehr als Bedeutung des Inhalts aufzufassen
ist, Gal. 4,21-31 (αλληγορέω, V. 24: aliud verbis, aliud sensu ostendo
[andere Worte zeigen einen anderen Sinn], Quintilian). Wo eine Allegorie zu
finden ist, kann nur die Schrift selber zuverlässig anzeigen. (Origenes und die Allegoristen der alten und
mittelalterlichen Kirche; vierfacher Schriftsinn:
Littera gesta docet; quid credas,
allegoria; [Der Buchstabe lehrt, wie zu leben; die
Allegorie, wie zu glauben.]
Moralis, quid agas; quo tendas, anagogia. [Die Moral lehrt, wie zu handeln; die
‚Weiterführung‘ (Anagogie) die Haltung.]3
(Vgl. Luther IV, 1304-1307; I, 610-627. 950;
XXII, 1343. 1344; III, 152. 153. 1389-1391; XVIII, 1303; IX, 565-569; VIII,
1540-1545. – Luthers frühere „geistliche Deutung“, z.B. XI, 27 ff.)
§ 23
Der
Exeget hat anzunehmen, dass der Autor seine Worte in eigentlicher Bedeutung
gebraucht hat und so verstanden wissen will, wenn nicht zwingende Gründe eine
andere Auffassung fordern.
Anmerkung
1: Der buchstäbliche Sinn (sensus literae) ist also überall da auch als der intendierte Sinn
(sensus literalis)
festzuhalten, so nicht irgendwelche Gründe zu Annahme eines Tropus nötigen.
(Luther XVIII, 1820-1823; XX, 249. 910; III, 20 f.; XIX, 1312-1315; XXII,
1345.)
Anmerkung
2: Wenn jedoch exegetische Gründe vorhanden sind [d.h. die Schrift selbst
es durch den engeren oder weiteren Zusammenhang fordert, Anm. d. Hrsg.], von
der eigentlichen Bedeutung abzugehen, so muss der Exeget es auch tun und darf
nicht ams sensus literae festhalten. 1. Kor. 3,13-15; Matth.
19,12; 16,6.12.
§ 24
Der
Exeget kann genötigt sein, bei der Ermittlung des sensus
literalis vom sensus literae abzugehen, entweder durch den usus
loquendi generalis (§ 16)
oder durch einen usus specialis (§ 17.18) oder durch
den Kontext (§ 25-27) oder durch die Voraussetzung, dass der Verfasser nicht
sich selbst widersprochen haben will (§ 28), oder durch einen „Artikel des
Glaubens“ (§ 36). (Vgl. Luther zu § 23, Anm. 1.)
Anmerkung:
Bisweilen ist schon dem usus communis
eines Wortes eine übertragene Bedeutung eigen, vgl. παράπτωμα, Gal. 6,1, besonders aber dem usus
specialis, vgl. οικοδομή, 1. Kor. 14,5; ακαθαρσία, 1. Thess. 4,7.
§ 25
Der
Kontext lässt sich einteilen in näheren und entfernteren, in vorhergehenden und
nachfolgenden Kontext.
Anmerkung
1: Den näheren oder unmittelbaren Kontext eines Wortes bilden diejenigen
Teile der Rede, die mit ihm in syntaktischer Verbindung stehen; den
entfernteren oder mittelbaren Kontext diejenigen Redeteile, die mit dem Satz,
der den näheren Kontext bildet, logische Verbindung haben. Naturgemäß hat im
Allgemeinen der nähere Kontext den Vorzug vor dem entfernteren, ebenso der
vorhergehende vor dem nachfolgenden.
Anmerkung
2: Die gebräuchliche Kapitel- und Verseinteilung der Schrift, ebenso die
übliche Interpunktion, hat für die Beurteilung des Kontextes nicht
entscheidende Bedeutung und ist öfters direkt unrichtig. Jes. 52,13-15 (gehört
zu Kap. 53); 1. Kor. 14,33 b (gehört zu V. 34); Luk. 23,43 (Komma hinter σοι, nicht hinter σήμεγον).
§ 26
Keine Auslegung eines Wortes oder einer ganzen Stelle ist zulässig, die
sich nicht mit dem Kontext verträgt. (Luther VIII, 380. 381.)
§ 27
Bei
der Berücksichtigung des Kontextes ist die Form der Wörter und die Art und
Weise ihrer Verbindung, also die grammatikalische Seite der Sprache, in
Betracht zu ziehen, und daher ist keine Auslegung zulässig, die grammatisch
unmöglich ist.
Anmerkung
1: Wenn verschiedene Beziehungen oder Verbindungen der Wörter untereinander
grammatisch und logisch möglich sind, so hat man im Allgemeinen der Beziehung
auf das Nächststehende den Vorzug zu geben vor der Verbindung mit dem
Entfernteren, da der engeren Verbindung in den Gedanken des Redenden die nähere
Zusammenstellung der Wörter entspricht. Vgl. die verschiedene mögliche
Beziehung von πασιν ανθρώποις, Tit. 2,11.
Anmerkung
2: Von besonderer Wichtigkeit für die exegetische Berücksichtigung des
Zusammenhangs sind die Partikel.
Anmerkung
3: Aus dem Kontext lässt sich auch erkennen, auf welche Teile seiner Rede
der Verfasser Nachdruck gelegt haben will. Mittel zu solcher Emphasierung sind: Abweichung von der gewöhnlichen
Wortstellung, Joh. 3,16 (ο’ύτως); Wiederholung gleicher oder ähnlicher Ausdrücke, Gal.
1,8.9; ausdrückliche Setzung der Pronomina, wo auch ohne sie die Rede
verständlich wäre, 5. Mose 18,19; Joh. 1,50; Häufung verschiedener Ausdrücke
für dieselbe Sache, 1. Petr. 1,4.
§ 28
Die
völlige Übereinstimmung der Schrift mit sich selbst muss bei ihrer Auslegung im
Voraus feststehen und darf in keinem Fall aufgegeben werden, da bei ihrem
göttlichen Urheber eine Inkonsequenz des Denkens, Wollens und Redens, ein
Selbstwiderspruch oder ein noch so geringer Irrtum unmöglich ist. 2. Tim. 3,16;
2. Petr. 1,21; 1. Kor. 2,13; Ps. 119,160; Joh. 10,35. Auch wäre die Schrift
nicht geeignet, Quelle und Norm der Lehre zu sein, wenn sich bei ihr nicht
diese Irrtumslosigkeit und Übereinstimmung mit sich selbst voraussetzen ließe.
2. Tim. 3,15-17; Ps. 19,8-10. (Luther SV, 1481; XIX, 1073; XX, 798; IX, 356;
VI, 177.)
Anmerkung:
Es ist darum falsch, wenn behauptet wird, dass ein wirklicher Widerspruch4 in der Schrift vorkomme oder auch nur
vorkommen könne. Wohl aber mögen in der Schrift sogenannte Scheinwidersprüche (εναντιοφαινόμενα) sich zeigen, die ein christlicher Exeget vielleicht
zurzeit noch nicht lösen kann und deren Lösung er von seinen ferneren Studien
oder auch erst in der Ewigkeit zu erwarten hat, 1. Kor. 13,9.10. (Luther XVI,
2185; VI, 873; II, 1978.) Zur Lösung solcher Enantiophanien
dient vor allem die Berücksichtigung des Grundtextes, des Kontextes und des
Parallelismus. Vgl. 1. Kor. 10,8 mit 4. Mose 25,9 (V. 4); Matth.
27,9 mit Sach. 11,12.13 (Jer. 32,6-15), vgl. § 10, Anm. 3; 1. Joh. 1m8 mit 3,9;
1. Mose 47,31 mit Hebr. 11,21; Apg. 9,7 mit 22,9 und 26,14; Luk. 24,4 mit Joh.
20,12; Mark. 16,5; Matth. 28,2.5. (Lehre und Wehre
39,33: „Angebliche Widersprüche in der Schrift“. 19. Bericht der
Synodalkonferenz, 1902, S. 5; W. Arndt, Does the Bible Contradict
Itself?)
§ 29
Daher müssen alle Stellen der ganzen Heiligen Schrift Alten und Neuen
Testaments, die von einer und derselben Sache handeln, sofern sie diese
behandeln, als in voller, widerspruchsloser Übereinstimmung stehend gelten – analogia (richtiges
Verhältnis, Übereinstimmung) Scripturae, parallelismus realis –, und keine
Auslegung einer Stelle ist statthaft, die sich nicht mit ihrem Parallelismus
verträgt.
Anmerkung
1: Man unterscheidet parallelismus verbalis und realis. Ein
Wortparallelismus besteht zwischen zwei oder mehreren Stellen, an denen
derselbe Ausdruck entweder in demselben oder in einem verschiedenen Sinn sich
findet. Offenb. 1,18 und 5,13; 2. Mose 15,18 und
21,6. Ein Sachparallelismus besteht zwischen solchen Stellen, an denen von
derselben Sache gehandelt wird entweder mit denselben oder mit verschiedenen
Worten. Eph. 1,7 und Kol. 1,14; Luk. 21,33 und 1. Petr. 1,25.
Anmerkung
2: Der Grund der analogia Scripturae
ist die schon ausgesprochene Wahrheit, dass der Heilige Geist, der Autor der
ganzen Heiligen Schrift, nicht irren oder sich selbst widersprechen kann.
Daraus ergibt sich auch die Regel, dass man aus einem Realparallelismus Beweise
nehmen kann. Parallelismus realis est
argumentativus [Sachparallelismus ist
beweisbringend]. Vgl. 1. Mose 32,24 mit Hos. 12,4; 2. Mose 3,2 mit Matth. 22,31; Jes. 6,1 mit Joh. 12,37. 41. Doch ist zu
beachten, dass die Parallelverweisungen in unsern Bibelausgaben nicht immer
richtig sind.
§ 30
Mit
dem Satz von der analogia Scripturae
wird nicht behauptet, dass die Schrift an allen Orten gleich klar und
ausführlich von einer Sache redet. In Bezug hierauf gilt die Regel, dass
weniger klare Stellen im Lichte der klareren auszulegen sind, und nicht in
umgekehrter Weise verfahren werden darf. Scriptura Scripturam interpretatur [Schrift
legt Schrift aus]. (Apologie, „. 396, § 35; Luther V, 334-338; XX, 327. 856;
III, 1386; XI, 2335; XVIII, 1293.) Klar offenbart sind alle Glaubenslehren und
Lebensregeln. (Konkordienformel, S. 988, § 50. Luther XVIII, 1742.)
Anmerkung
1: Diesem Grundsatz gemäß wird man das Alte Testament im Licht des Neuen
als des klareren Teils der Schrift zu betrachten und auszulegen haben nach dem
alten Spruch:
Novum Testamentum in Vetere latet, [Das Neue Testament
ist im Alten verborgen,]
Vetus Testamentum in Novo patet.
[das Alte Testament ist im Neuen offenbar.]
(Luther III, 1882.1884.)
Anmerkung
2: Ebenso wird man Stellen, die in bildlicher Darstellung oder tropischer
Redeweise von einer Sache handeln, im Licht solcher Stellen auszulegen haben,
in denen mit eigentlichen Worten von derselben Sache geredet wird. Vgl. Offenb. 20 und Matth. 24; Mark.
13; Luk. 17,20.21; 1. Kor. 15; 1. Thess. 4; 2. Thess. 2.
§ 31
Jede
Lehre der Heiligen Schrift ist an irgendeiner Stelle derselben besonders klar
in eigentlichen Ausdrücken, nicht nur nebenbei, sondern als Hauptgegenstand der
Rede vorgetragen (sedes doctrinae,
loci classici, dicta probantia), und da gilt nach § 30 die Regel, dass alle
Stellen, die von einer Lehre handeln, nach den sedes doctrinae solcher Lehre zu verstehen und auszulegen sind.
Vgl. Matth. 20,1-16; 22,1-14 und Eph. 1,3-6; Röm.
8,28-30; Apg. 13,48; 2. Thess. 2,13.14. (Konkordienformel, S. 986-990. Luther
XX,23. Lehre und Wehre 63, 337: „Die Wort‘, wie sie
lauten“; 73,102: „Sedes Doctrinae“.)
§ 32
Der
Ausleger hat sich zu hüten vor unrichtiger Benutzung eines vorhandenen
Wortparallelismus und vor irrtümlicher Annahme eines nicht vorhandenen
Sachparallelismus.
Anmerkung
1: Eine solche unrichtige Benutzung findet statt, wenn man daraus, dass ein
Wort an einer Stelle in einer gewissen Bedeutung vorkommt, schließt, dass es an
einer andern Stelle in derselben Bedeutung vorkommt. Vgl. Jes. 44,3 und Joh.
3,5; Gal. 3,16 und 29. Bei der Verwertung des Parallelismus darf nie der
Kontext außer Acht gelassen werden. (Luther XX, 281. 783; XIX, 1317.)
Anmerkung
2: Auch aus der Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Sätze lässt sich nicht
schon mit Sicherheit auf einen parallelismus realis schließen. Vgl. Hos. 10,8; Luk. 23,30; Offenb. 6,16. – Matth. 10,24;
Luk. 6,40; Joh.13,16. – Röm. 3 und 4; Gal. 2 und 3 und
Jak. 2,14-26 und dazu Apologie, S. 129-131; Konkordienformel, S. 619. 620.
(Lehre und Wehre 63,433: „Was ist es um Jakobi Satz: ‚dass der Mensch durch die
Werke gerecht wird, nicht durch den Glauben allein‘?) – Matth.
5,32; 19,9; Mark. 10,11.12; Luk. 16,18 und 1. Kor. 7,10-15 und dazu Luther
XIII, 1056-1058.
Anmerkung
3:Besonders wichtig ist die Unterscheidung zwischen wirklichem und nur
scheinbarem Parallelismus für die Auslegung kürzer gefasster historischer
Berichte und ihre Harmonisierung mit vorhandenen oder nur angenommenen
Parallelberichten. Vgl. Matth. 21,12.13; Mark.
11,11.15-17; Luk. 19,45.46 und Joh. 2,14-16. – Matth.
5-7 und Luk. 6,20-49. (Gebrauch guter Evangelienharmonien.)
Anmerkung
4: In manchen Fällen wird man das Vorhandensein eines wirklichen
Sachparallelismus nicht völlig gewiss machen können, da ein solcher nur ganz
sicher anzunehmen ist, wenn die Schrift selbst ihn anzeigt. Vgl. Matth. 26,6-13; Mark. 14,3-9 und Joh. 12,1-8 oder gar Luk.
7,36-50.
§ 33
Ein
Sachparallelismus findet sich unzweifelhaft in der Schrift 1. zwischen einem
Gleichnis und seiner Auslegung; 2. zwischen einem historischen Bericht und
einer Verweisung darauf; 3. zwischen einer Weissagung und der Angabe ihrer
Erfüllung; 4. zwischen einem Zitat und der zitierten Stelle.
Anmerkung:
Als Beispiele zu 1. vgl. Matth. 13,24-30 und V.
36-43; Luk. 8,4-8 und V. 9-15; als Beispiel zu 2. vgl. 1. Sam. 21,6 und Matth. 12,1-8; 1. Mose 15,6; 17,10 und Röm. 4,9-12; 2. Mose
3,6 und Luk. 20,37.38.
§ 34
Zwischen alttestamentlicher Weissagung und neutestamentlicher Erfüllung
besteht eine enge Beziehung, die Gott selbst gesetzt hat, und die deshalb auch
kein Mensch ändern oder beiseite setzen darf. (Luther XIII, 1760. 1861.)
Dieselbe Beziehung besteht zwischen der Weissagung und dem inspirierten Bericht
über die Erfüllung. Der christliche Exeget muss darum festhalten, sowohl, dass
mit dem als Erfüllung der Weissagung berichteten Ereignis Gottes vorgedachter
Rat und Plan hinausgegangen ist, als auch, dass für Verständnis und Auslegung
der Weissagung der Bericht über die Erfüllung entscheidend ist. Vlg. Hos. 11,1 mit Matth. 2,15;
Jer. 31,15 mit Matth. 2,17; Jes. 11,1 mit Matth. 2,23 (Joh. 1,46); 1. Mose 22,18 mit Gal. 3,16; Ps.
41,10 mit Joh. 13,18. (Luthers Schrift „Von den letzten Worten Davids“, III,
1880. Lehre und Wehre 30,42: „Weissagung und Erfüllung“; 36,209: „Christus in
der alttestamentlichen Weissagung“.) – Außerdem hat man noch besonders folgende
Regeln zu beachten:
1. Bei der Auslegung eines prophetischen
Spruches oder Abschnittes des Alten Testaments hat man sich danach umzusehen,
ob im Neuen Testament ausgesprochenermaßen über ein Ereignis als Erfüllung
dieser Weissagung berichtet ist. Ist dies der Fall, so ist dem Exegeten die
weitere Arbeit und Untersuchung gleichsam abgenommen und auch die Bedeutung
einzelner Worte sichergestellt. Vgl. Jes. 7,14 mit Matth.
1,22.23 und dazu Luther XIII, 668; XX, 1802; Micha 4,1 mit Matth.
2,5.6. Dienste leisten dabei oft die Parallelverweisungen in den gewöhnlichen
Bibelausgaben; doch ist stets eine selbständige Untersuchung nötig.
2.
Wenn sich eine solche Stelle, in der eine Weissagung ausdrücklich als erfüllt
bezeichnet wird, nicht auffinden lässt, so hat man zu untersuchen, ob sich in
einer bestimmten Person oder in einem bestimmten Ereignis alle wesentlichen
Stücke der Weissagung wiederfinden, und man ist in solchem Fall berechtigt,
beide aufeinander zu beziehen, namentlich wenn keine andere historische
Erscheinung alle Momente der Weissagung aufweist. Vgl. Dan. 11,36-39; 12,1 mit
2. Thess. 2,3.4; 1. Tim. 4,1-3; Matth. 24,15.21.22
(Dan. 7,25; 9,27; 12,7.11; Offenb. 11,2.3; 12,6.14;
13,5) und dazu Apologie, S. 234, § 24; 318 f., § 19-21; 370, § 25; 398 ff., §
44-47.
3.
Wo die alttestamentliche Weissagung von der Abschaffung des levitischen
Gottesdienstes und der Aufhebung des Alten Bundes redet, lässt sich eine
Weissagung auf die Zeit des Neuen Testaments erkennen; vgl. Jer. 31,31-34 mit
Hebr. 8,6-13; ebenso da, wo von dem Kommen vieler Heiden zu dem Heil Israels
gehandelt, oder eine herrliche Wiederherstellung der Reiche Israel und Juda verkündigt wird; vgl. Jes. 11,10-12 mit Röm. 15,9.12;
Amos 9,11.12 mit Apg. 15,14-17. (Gegen die Chiliasten.) (Luther XIV, 47. 49.)
4.
Die Weissagungen von der Glückseligkeit des Reiches Christi, sowohl des Gnaden-
wie des Ehrenreiches, haben die alttestamentlichen Propheten vielfach in Worte
gefasst, die scheinbar von zeitlichem Glück und irdischer Herrlichkeit reden,
bei der Auslegung jedoch geistlich aufzufassen und zu erklären sind. Vgl. Jes.
2,2-5; 11,6-9; 60,17-20; Joel. 3,23; Amos 9,13.14; Micha 4,1-5 und dazu Luk.
17,20; Joh. 18,36. (Gegen die Chiliasten.)
5.
An dem richtigen Verständnis messianischer Weissagungen darf sich der Exeget
auch dadurch nicht irremachen lassen, dass sie oft ganz unvermittelt neben
zeitgeschichtlichem Reden stehen; vgl. die Umrahmung von Jes. 7,14; Micha
2,12.13 und dazu Luther XIV, 1025. 1026. 1418. Ebenso muss er sich hüten vor
der Verkehrtheit mancher Ausleger, die gerade bei solchen Weissagungen einen
zwei- oder mehrfachen Sinn annehmen und die direkte messianische Beziehung in
Abrede stellen. Vgl. die typische Auslegung von 2. Sam. 7,12-16; Ps. 22.
(Luther XII, 169-171.)
§ 35
Bei
den Zitaten des Alten Testaments im Neuen Testament ist zu beachten, dass bei
weitem nicht alle wörtlich genau wiedergegeben sind, wie 3. Mose 18,5, vgl. mit
Röm. 10,5; Ps. 31,1.2 mit Röm. 4,7.8, sondern große Freiheit und
Verschiedenheit dabei obwaltet. Diese verschiedene Form der Zitate streitet
jedoch nicht mit der rechten Lehre von der Verbalinspiration, sondern bestätigt
sie vielmehr, da sie sich nur so erklären lässt, dass der Heilige Geist, der
Autor der [Heiligen Schrift, das Recht und die Freiheit hat, mit seinem Text so
umzugehen, einzelne Aussagen zu betonen, andere zusammenzuziehen, wieder andere
nur allgemein anzuführen].
Anmerkung:
In einzelnen Fällen ist bei den Zitaten der alttestamentliche Text erweitert,
vgl. Luk. 4,18 mit Jes. 61,1, in anderen Fällen zusammengezogen, vgl. Matth. 4,15 mit Jes. 9,1; öfters sind die Sätze umgestellt,
vgl. Röm. 9,25 mit Hos. 1,10; 2,23, oder zwei Stellen sind in eine
verschmolzen und werden mit einem Namen eingeführt, vgl. Matth. 27,9.10 mit Sach 11,12.13
und Jer. 32,6-15; Mark. 1,2.3 mit Mal. 3,1 und Jes. 40,3; auch wir bisweilen
eine Stelle mit gegenteiligem Wortlaut, aber richtig ad sensum
angeführt, vgl. Matth. 2,6 mit Micha 5,1. In sehr
vielen Zitaten ist einfach die Übersetzung der LXX beibehalten, vgl. Röm. 4,7.8
mit Ps. 32,1.2; Röm. 10,5 mit 3. Mose 18,5, selbst dann, wenn sie nicht genau
übersetzt, aber doch den intendierten Sinn des Grundtextes getroffen hat, vgl.
Luk. 3,6 mit Jes. 40,5 (52,10); Hebr. 10,5 mit Ps. 40,7. Wo jedoch das letztere
nicht der Fall ist, wird mit genauer Übersetzung aus dem Hebräischen zitiert,
vgl. Matth. 2,15 mit Hos. 11,1; Röm. 11,35 mit Hiob
41,2. Wiederholt hat sich auch der Heilige Geist weder an die LXX noch an den
Grundtext gebunden, sondern frei auf eine alttestamentliche Stelle angespielt,
vgl. Eph. 5,14 mit Jes. 60,1, oder eine Schriftwahrheit frei wiedergegeben,
vgl. Joh. 7,38 mit Jes. 58,11; 44,3; 55,1, oder alttestamentliche Worte in
einem neuen Sinn gebraucht, vgl. Röm. 10,6-8 mit 5. Mose 30,11-14 (Luther III,
1613); 1. Kor. 14,21 mit Jes. 28,11.12. (Luther IX, 12; XIII, 2073. Lehre und
Wehre 32,77: „Die Form der alttestamentlichen Zitate im Neuen Testament“.)
§ 36
Mit
der göttlichen Eingebung der ganzen Heiligen Schrift ist zugleich gegeben die
Übereinstimmung ihrer einzelnen Teile miteinander. Deshalb kann keine Auslegung
einer Schriftstelle als richtig angenommen werden, die mit irgendeiner klar in
ihren sedibus offenbarten Lehre unvereinbar wäre.
Keine Auslegung darf verstoßen gegen die sogenannte analogia
fidei, das ist, die „klare Schrift“. (Apologie, S.
440, § 60. Luther III, 503.) [s.a. Anhang 3.]
Anmerkung
1: Diese von unsern alten Theologen aus ihrem Verständnis von Röm. 12,7 so
formulierte Regel, dass alle Weissagung dem Glauben ähnlich sein müsse (κατά τήν αναλογίαν της πίστεως; αναλογία = richtiges Verhältnis, Übereinstimmung, πίστις = fides quae
creditur [Glaube, was geglaubt wird,
Glaubensinhalt]), darf nicht dahin verstanden werden, als ob der Theolog erst aus den einzelnen Lehren der Schrift ein
harmonisches Ganzes oder ein System konstruieren müsse, gegen das dann keine
Auslegung verstoßen dürfe. (Vgl. Lehre und Wehre 49,321: „Gebrauch und
Missbrauch der Analogie des Glaubens“; 50,405: „Über die Analogie oder Regel
des Glaubens“; 52,481: „Schriftauslegung und Analogie des Glaubens“. Theological Quarterly, XII,193:
„The Analogy of Faith and Rom. 12,6“.)
Anmerkung
2: Wo es die analogia fidei,
ein „ausgedrückter Artikel des Glaubens“, fordert, hat der Exeget auch von dem sensus literae abzugehen bei der
Feststellung des sensus literalis.
1. Mose 6,6; 11,5; Ps. 119,73; Jes. 11,6-9. (Luther XX, 213 f.)
Anmerkung
3: Der Grundsatz von der Beachtung der „klaren Schrift“ in den sedibus doctrinae ist Irrlehrern
gegenüber anzuwenden, um sie ihrer falschen Exegese zu überführen, die Römischen
z.B. in Bezug auf Jak. 2,14-26, die Reformierten in Bezug auf Joh. 6,51-63, die
Chiliasten in Bezug auf Offenb. 20.
Anmerkung
4: Der Grundsatz von der Beachtung der analogia fidei darf aber nicht mit sich selbst in Kollision gebracht
werden. Wenn an einer Stelle der Schrift eine Lehre klar und deutlich als in
einer sedes doctrinae
vorgetragen steht, so darf der Sinn dieser Stelle und damit die darin
enthaltene Lehre nicht deshalb geändert werden, weil an andern Stellen der
Schrift eine andere Lehre ebenfalls klar und deutlich als in ihren sedibus offenbart ist, die sich vor unserer Vernunft nicht
mit der ersteren reimen lässt. Vielmehr soll der Schriftforscher beide Lehren
so, wie sie in ihren beiderseitigen sedibus offenbart
sind, belassen und einfältig im Glauben annehmen. 1. Kor. 13,9.
(Konkordienformel, S. 715, § 53. Luther XII, 1481. Lehre und Wehre 26,257: „Was
soll ein Christ tun, wenn er findet, dass zwei Lehren, die sich zu
widersprechen scheinen, beiderseits klar und deutlich in der Schrift gelehrt
werden?“ 51,9: „Die Verteidigung falscher Lehre zieht die Fälschung des
Schriftprinzips nach sich.“) – Vgl. die Lehren, dass Christus einen wahren
menschlichen Leib hat, und dass er mit seinem Leib überall im Sakrament
gegenwärtig ist; von der Einheit des göttlichen Wesens und den drei göttlichen
Personen; von der gratia universalis
[universeller Gnade] und der electio particularis [Erwählung Einzelner]; von dem Seligwerden des
Menschen allein durch Gottes Gnade und dem Verlorengehen des Menschen allein
durch eigene Schuld.
§ 37
Zu
dem Sinn einer Schriftstelle gehören auch diejenigen Wahrheiten, die sich durch
Schlussfolgerungen aus einer Stelle ergeben und also wirklich in der Stelle
enthalten sind. Vgl. 2. Mose 3,6 mit Matth. 22,29-32;
Luk. 20,37.38; - Ps. 31,1.2 mit Röm. 4,6-8.
Anmerkung
1: Da eine solche Folgerung aus dem sensus literalis der Stelle in logisch richtiger Weise geschehen
muss, so kann sie erst dann vollzogen werden, wenn dieser selbst festgestellt
ist. Viele Irrtümer sind aber entstanden auf dem Weg logisch richtiger
Folgerungen aus einer falschen Auffassung des Schriftwortes oder durch logisch
falsche Folgerungen aus einer richtig verstandenen Schriftaussage. Vgl. die
reformierte Auslegung von Joh. 6,63, die antitrinitarische von 5. Mose 6,4, die
synergistische von Mark. 1,15. (Luther XVIII,
1819. 1820.)
Anmerkung
2: Hierher gehört auch die Ableitung allgemeiner Wahrheiten aus dem
Schriftwort, wie sie besonders in der öffentlichen Predigt geübt wird.
Anmerkung
3: Ferner gehört hierher, dass man von dem Text der Schrift dogmatische,
katechetische, homiletische und andere theologische Grundsätze ableitet, vgl.
Gal. 1,8; Hebr. 5,12-14; Apg. 20,20.27, oder aus den an verschiedenen Stellen
der Schrift vorgetragenen einzelnen Lehrstücken größere Lehrsätze
zusammenträgt, z.B. von Gott, von der Person Christi, von den Sakramenten.
§ 38
Die
Heilige Schrift ist somit die einzige authentische Auslegerin ihrer selbst, und
die menschliche Vernunft hat zwar unter der Leitung des Heiligen Geistes als
Organ der Auslegung zu dienen, darf aber nie als Norm oder Richterin des Sinnes
der Schrift auftreten. 2. Petr. 1,20; 1. Kor. 2,14; Matth.
16,17; Eph. 4,18. (Rationalismus.) Dies gilt auch von der sogenannten
erleuchteten und wiedergeborenen Vernunft, 2. Kor. 10,5. (Luther III, 1386; XI,
2335. 2336; XIII, 1899. 1909.) Scriptura sacra est sui ipsius
legitimus interpres. [Die
Heilige Schrift ist ihr legitimer eigener Ausleger].
§ 39
Auch
die Kirche darf nicht zur Richterin des Schriftsinns gemacht werden. Vgl. Canones et Decreta Concilii Tridentini, Sess. 4, Decr. 2. (Papismus.)
(Luther IX, 1361-1363; XVIII, 1294.)
Anmerkung:
Mit dieser Regel streitet nicht die Forderung an lutherische Theologen, dass
keine Auslegung einer Schriftstelle gegen die Lehre der lutherischen
Symbole [Bekenntnisschriften] als die norma noramata [normierte Norm] aller Lehre verstoßen darf. Damit
werden die Symbole nicht über oder neben die Schrift gestellt,
sondern Grund und Berechtigung dieser Forderung liegt in dem Grundsatz, dass keine
Auslegung gegen die sogenannte analogia fidei verstoßen darf. (§ 37.) So gewiss nun die Lehre der
lutherischen Bekenntnisse in allen Stücken der Heiligen Schrift als der norma normans [normierende Norm]
gemäß und aus ihr geschöpft ist, so gewiss streitet auch ein Abweichen von
dieser Lehre in der Exegese mit dem genannten Grundsatz. (Konkordienformel, S.
570.571, § 9.10.)5
§ 40
Der
Sinn des Schriftwortes hat der Ausleger in dem Maß zu erforschen, in welchem er
die in das Wort gefassten Vorstellungen und Begriffe richtig, deutlich und
völlig in seinem Geist aufgenommen hat. Er hat sich daher zu befleißigen, dass
er nicht nur die Bedeutung der Worte, sondern auch ihren vollen Inhalt
erfasse und solchen, die er zu lehren hat, übermittle. Dazu ist ihm dienlich
das Studium der sogenannten exegetischen Hilfsdisziplinen, der biblischen
Geschichte, der biblischen Archäologie, Geographie, Naturgeschichte,
Psychologie usw.6
§ 41
Besonders hat der Exeget, der nach dem früher Dargelegten beim Auslegen
auf Sprache und Grammatik zu achten hat, auch mannigfache historische Momente
in Betracht zu ziehen, wo es sich um das Verständnis einer Schrift handelt, die
selbst eine historische Erscheinung ist und mehr oder weniger historisch
Gewordenes zum Inhalt hat. Die Exegese muss eine grammatisch-historische sein.
Anmerkung
1: Man unterscheidet zwischen den historischen Umständen einer
Schrift und ihrem historischen Inhalt. Zu den ersteren rechnet man die
Person, durch die der Heilige Geist eine Schrift hat aufzeichnen lassen, die
Person oder die Personen, an die sie geschrieben oder für die sie zunächst
bestimmt ist; ferner Ort, Zeit, Veranlassung und Zweck der Abfassung einer
Schrift. (Biblische Einleitung.) Zum historischen Inhalt gehören die Personen,
über die geschrieben, die Dinge, von denen gehandelt wird, die Örter, Zeiten
und Begebenheiten, von denen die Rede ist.
Anmerkung
2: Die Personen, durch welche Gott die Heilige Schrift hat aufzeichnen
lassen, werden richtig als Werkzeuge des Heiligen Geistes bezeichnet, die nicht
aus sich selbst redeten, sondern durch die der Heilige Geist geredet hat, 2.
Petr. 1,21; 1. Kor. 2,13; Matth. 10,20. Damit ist
jedoch nicht gesagt, dass die heiligen Schreiber, während sie als Instrumente
des Geistes Gottes tätig waren, nun auch hinsichtlich ihrer Individualität,
ihren von Zeit, Ort, Rationalität, Anlage, Stand, Bildung, Umgebung und
Stimmung beeinflussten Eigentümlichkeiten entnommen gewesen sein. Vielmehr hat
der Geist Gottes eben in der Absicht verschiedene und verschieden geartete
Werkzeuge in seinen Dienst genommen, dass die verschiedenen Bücher der Schrift,
je nach den Eigentümlichkeiten dieser Werkzeuge, auch ein verschiedenes Gepräge
tragen sollten. Hebr. 1,1; 1. Kor. 12,4. (Lehre und Wehre 32,284: „Was sagt die
Schrift von sich selbst?“) Auch zeigt die Erfahrung, dass die Verschiedenheit
der einzelnen Schriften dazu dient, verschiedenen Lesern und Zuhörern, je nach
den Eigentümlichkeiten, die Wahrheiten und Wirkungen des Wortes Gottes nahe zu
bringen. (Paulus-Johannes; Jesaja-Amos; Hiob; Hebräerbrief; Luther über den
118. Psalm und den Galaterbrief.)
Anmerkung
3: Da besonders nach der Gemütsstimmung eines Schreibers die Wahl des Ausdrucks,
der Satzbau und überhaupt der Charakter der Rede sich entsprechend gestaltet,
so muss der Ausleger, wo sich eine bestimmte Gemütsverfassung des Schreibers
erkennen lässt, entweder aus der Rede selbst oder auch einem Parallelismus oder
anderen angegebenen Gebärden du Handlungen diese bei der Erwägung des Textes in
Betracht ziehen. Jer. 9,1; 2. Kor. 10-13; Galater- und Philipperbrief. Vgl.
Luk. 19,45.46 mit Matth. 21,12.13; Apg. 14,14-17;
Luk. 18,13.
Anmerkung
4: Der Ausleger hat ferner darauf zu achten, ob der Verfasser an einer
Stelle selbst redet, oder ob er die Worte einer anderen Person berichtet. Wo
letzteres der Fall ist, hat er darauf zu achten, wer diese andere Person ist,
wie der Verfasser zu ihrer Rede steht, wo ihre Worte anfangen und aufhören.
Vgl. 1. Mose 16,10.13; Jes. 8,17.18 mit Hebr. 2,13; Ps. 2. Im allgemeinen gilt
als Regel, dass der Verfasser einer Schrift so lange als redend anzusehen ist,
so lange nicht zwingende Gründe vorliegen, eine andere Person als redend
eingeführt zu gelten hat, so lange nicht genügende Gründe vorhanden sind, ihre
Rede als geschlossen und den Verfasser wieder als selbstredend anzusehen. Hebr.
1,2-4.5-11.17; Joh. 3,10-21; nicht bloß 10-15. – Bei den in der Schrift
aufgeführten Reden Gottloser ist zu beachten, dass der griechische Bericht
richtig ist, wenn auch das darin Gesagte falsch oder in falscher Absicht
geredet ist, Ps. 14,1; Joh. 8,48; Mark. 1,24; Joh. 11,49-52, und das öfters in
solchen Reden das Urteil gleich eingeschlossen ist, Jes. 28,15; Jer. 18,12.
Anmerkung
5: Auch die Stimmung des Redenden hat als so lange bestehend und wirkend zu
gelten, als nicht der Text das Eintreten einer anderen erkennen lässt. Vgl.
Phil. 3,18 mit 4,1; Matth. 16,17-19 mit V. 23; Ps.
73.
Anmerkung
6: Die Person des Angeredeten ist ebenfalls für die Auffassung der Rede von
Bedeutung, da sich auch danach Inhalt und Ausdrucksweise gestalten. Vgl. Apg.
17,22-31 und 13,16-41; 22,1-21. Auch hier gilt als Regel, dass eine Rede so
lange als an dieselbe Person gerichtet anzusehen ist, so lange kein genügender
Grund vorliegt, einen Wechsel anzunehmen. Vgl. Röm. 1,18-32 und 2,1-29.
Anmerkung
7: Die Berücksichtigung der Zeit, der eine Rede angehört, oder in der eine
Schrift entstanden ist, ist deshalb von Wichtigkeit für den Ausleger, weil
daraus öfters die Gestalt einer Schrift sich erklärt, einzelne Ausdrücke
verständlicher werden, eine Reichhaltigkeit des Inhalts sich erschließt oder
Feinheiten desselben hervortreten, die ohne solche Berücksichtigung unrichtig
aufgefasst oder übersehen werden könnten. Vgl. Röm. 13,1-7, das
Johannesevangelium, den 2. Timotheusbrief, das Buch
Hesekiels und Haggais. Deshalb ist dem Exegeten nicht
nur die Kenntnis der Entstehungszeit der biblischen Bücher von großem Wort,
sondern auch das Studium der politischen, sozialen und religiösen Zustände und
Verhältnisse der betreffenden Zeit sehr dienlich. (Luther VI, 4.8-11.)
Anmerkung
8: Auch der Ort der Abfassung einer Schrift ist nicht ohne Bedeutung für
die Auslegung, da die Örtlichkeit öfters auf die Beschaffenheit und Gestalt der
Schrift Einfluss ausgeübt hat. Vgl. das Buch Esther, Daniel, den Römer- und
Epheserbrief.
Anmerkung
9: Die Kenntnis der Veranlassung einer Schrift ist deshalb von Wichtigkeit
für die Auslegung, weil man daraus die besonderen Interessen bei der Abfassung
der Schrift erkennen und das richtige Verständnis des ganzen Skopus und
einzelner Argumente und Ausdrücke derselben gewinnen kann. Auch wird solche
Kenntnis sehr dienlich und förderlich sein für die Anwendung der betreffenden
Schrift und ihrer Argumente auf ähnliche Verhältnisse und zu ähnlichen Zwecken.
Vgl. die Briefe an die Korinther, Galater, Thessalonicher, das
Johannesevangelium und den 1. Johannesbrief.
[Anmerkung
9: Die oben genannten historischen Dinge mögen Aufhellung über den Gebrauch
bestimmter Ausdrücke, Worte geben, die verwendet wurden. Aber alles, was von
außen zum Text hinzugebracht wird, darf in keiner Weise Skopus, Aussage, Sinn
des Textes in irgendeiner Weise beeinflussen. Vor allem darf die „historische“
Auslegung nicht dazu führen, dass man meint, Zeitgeist, Zeitirrtümer,
Zeitansichten, Weltanschauungen seien in die Bibel eingeflossen und der Text
daher zeitbedingt und in einer anderen Zeit, unter anderen Umständen, anders zu
verstehen. Ebenso wenig heißt „historische“ Auslegung, dass alle Textaussagen,
die Ereignisse oder Umstände früherer Zeit darstellen, damit immer rein
zeitgebunden zu denken seien und nie lehrmäßige, für alle Zeiten gültige
Folgerungen, Lehraussagen zu entnehmen seien (s. Tit. 1,5, eine Stelle, die in
der Wauwatosa-Theologie als rein zeitbedingt
aufgefasst wird, weshalb sie behauptet, daraus ließe sich nicht ableiten, dass
es Gottes evangelische Ordnung sei, dass in den Ortsgemeinden das heilige
Predigtamt aufzurichten ist. Tatsächlich aber stellt sie eine ausdrückliche,
bindende Anweisung des Paulus an Titus dar und drückt damit eine grundsätzliche
Ordnung, keine zeitbedingten Umstände aus). Auch wäre eine solche „historische“
Auffassung falsch, die meint, Ausdrücke als kulturbedingt, zeitbedingt in
Übersetzungen verändern zu können, die tatsächlich etwas anderes aussagen bzw.
Ausdruck eines anderen, der Schrift nicht gemäßen, kulturellen oder geistigen
Verständnisses sind. (Z.B. wenn man meint, das Lamm bei Völkern, die noch kein
Lamm kennen, in der biblischen Übersetzung durch ein diesen Völkern bekanntes
Tier zu ersetzen. Oder wenn man sagt, dass die Anrede „Brüder“ im Neuen
Testament ja die Schwestern mit einschließt, was wohl durchaus richtig ist, und
nun meint, nicht zuletzt unter dem Einfluss des Feminismus, den Ausdruck mit
„Brüder und Schwestern“ wiedergeben zu müssen. Aber der Begriff „Brüder“ ist
Teil der von Gott vorgegebenen und in die Sprachen eingeflossenen Ordnung ist,
dass diese geschlechtsneutrale Bezeichnung dennoch männlich ist, um des
Hauptseins des Mannes willen. Eine Änderung der Übersetzung würde damit auch zu
einer falschen Lehre im Blick auf Mann und Frau führen und ist auch wegen der
Verbalinspiration der Schrift unzulässig, da sie einen Eingriff in den Heiligen
Geistes Worte bedeuten würde. Anm. d. Hrsg.]
§ 42
Eine
planmäßige und konsequente Befolgung einer gesunden
grammatisch-historisch-theologischen Methode in der Exegese verbietet ein
voraussetzungsloses Verfahren bei der exegetischen Behandlung einer Stelle oder
Schriftstelle.
Anmerkung:
Nach dem Vorangegangenen wird der Exeget, der nach gesunder Methode arbeitet,
beachten die Wortbedeutung, den usus loquendi, den Kontext, den Parallelismus, die sogenannte analogia fidei und die historischen
Umstände.
§ 43
Die
Richtigkeit einer Auslegung beweist man, indem man entweder die Richtigkeit des
Verfahrens zeigt, wonach man einen bestimmten Sinn gefunden hat, oder
nachweist, dass alle andern möglichen Auffassungen verkehrt sind. Die Wiederlegung
einer falschen Auffassung eines Textes geschieht so, dass man entweder
fehlerhaftes Verfahren in der Exegese nachweist oder eine andere Auffassung als
die allein mögliche beweist.
§ 44
Da
zu dem Inhalt der Heiligen Schrift Vorstellungen von Vorgängen und Zuständen
des geistlichen, inneren Lebens eines Wiedergeborenen gehören, und da der neue
Mensch alles, was geistlich ist, anders ansieht und erkennt als der natürliche
Mensch, 1. Kor. 2,14.15, so kann auch ein theologischer Exeget im rechten,
vollen Sinne nur der sein, an dem das Wort Gottes seine wiedergebärende Wirkung
getan hat. (Vgl. § 2, Anm. 3; § 4, Anm. 2.)
These XIII
Die ev.-luth. Kirche
erkennt das geschriebene Wort der Apostel und Propheten für die alleinige
und vollkommene Quelle, Regel und Richtschnur und für den Richter aller Lehre
an, nicht die Vernunft, nicht die Traditionen, nicht neue Offenbarungen.
These XIV
Die ev.-luth. Kirche hält
fest an der Deutlichkeit der heiligen Schrift.
These XV
Die ev.-luth. Kirche kennt
keinen menschlichen Ausleger der heiligen Schrift an, dessen Auslegung
um seines Amtes willen für untrüglich und bindend anzusehen wäre, nicht einen
einzelnen Menschen, nicht einen besonderen Stand, nicht ein Partikular- oder
Universalkonzil, nicht eine ganze Kirche.
These XVI
Die ev.-luth. Kirche nimmt
Gottes Wort an, wie es sich selbst auslegt.
A.
Die ev.-luth. Kirche lässt den
Grundtext allein entscheiden.
B.
Die ev.-luth. Kirche hält in der
Auslegung der Worte und Sätze am Sprachgebrauch fest.
C.
Die ev.-luth. Kirche erkennt nur den
buchstäblichen Sinn für den wahren Sinn an.
D.
Die ev.-luth. Kirche hält fest, dass
der buchstäbliche Sinn nur einer ist.
E.
Die ev.-luth. Kirche richtet sich in
der Auslegung nach dem Zusammenhang und Zweck.
F.
Die
ev.-luth. Kirche erkennt an, dass der buchstäbliche Sinn sowohl der
uneigentliche wie der eigentliche sein könne; sie geht aber von der
eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Satzes nicht ab, es zwinge sie denn
die Schrift selbst dazu: entweder nämlich die Umstände des Textes selbst oder
eine Parallelstelle oder die Ähnlichkeit des Glaubens.
G.
Die ev.-luth. Kirche legt die
dunklen Stellen nach den den klaren aus.
H.
Die
ev.-luth. Kirche nimmt die Glaubensartikel aus denjenigen Stellen, in welchen
dieselben ihren Sitz haben, und beurteilt hiernach alle beiläufigen Aussprüche
über dieselben.
I.
Die
ev.-luth. Kirche verwirft von vornherein jede Auslegung, die mit der
Ähnlichkeit des Glaubens nicht im Einklange steht. Röm. 12,7.
These XVII
Die ev.-luth. Kirche nimmt das
geschriebene Wort Gottes (als Gottes Wort) ganz an, achtet nichts darin
Enthaltenes für überflüssig oder gering, sondern alles für notwendig und
wichtig, und nimmt auch alle die Lehren an, welche aus den Schriftworten
notwendig folgen.
These XVIII
Die ev.-luth. Kirche gibt
jeder Lehre des Wortes Gottes die Stellung und Bedeutung, die dieselbe in
Gottes Wort selbst hat:
A.
zum Grund
und Kern und Stern aller Lehre macht sie die Lehre von Christus oder von der
Rechtfertigung.
B.
Die
ev.-luth. Kirche unterscheidet streng Gesetz und Evangelium.
C.
Die
ev.-luth. Kirche unterscheidet streng in der Schrift enthaltene fundamentale
und nichtfundamentale Lehrartikel.
D.
Die
ev.-luth. Kirche scheidet streng, was in Gottes Wort geboten und freigelassen
ist (Adiaphora, Kirchenverfassung).
E.
Die
ev.-luth. Kirche scheidet ebenso streng wie vorsichtig Altes und Neues
Testament.
These XIX
Die ev.-luth. Kirche nimmt
keine Lehre als eine Glaubenslehre an, die nicht als in Gottes Wort enthalten unwidersprechlich gewiss erwiesen ist.
These XX
Die ev.-luth. Kirche hält
die Gabe der Schriftauslegung hoch, wie sie Einzelnen von Gott gegeben ist.
These XXI
A.
Die ev.-luth. Kirche ist
gewiss, dass die in ihren Symbolen [Bekenntnissen] enthaltene Lehre die pur
lautere göttliche Wahrheit sei, weil dieselbe mit dem geschriebenen Wort Gottes
in allen Punkten übereinstimmt.
B.
Die
ev.-luth. Kirche verlangt von ihren Gliedern und besonders von ihren Lehrern,
dass auch sie sich zu ihren Symbolen ohne Rückhalt bekennen und darauf
verpflichten lassen.
C.
Die
ev.-luth. Kirche verwirft jede brüderliche und kirchliche Gemeinschaft mit
denen, die ihr Bekenntnis, sei es ganz oder teilweise, verwerfen.
Von Pastor Karl Eikmeier
These I
Alle lutherische Schriftauslegung geht von der festen Glaubenszuversicht
aus, dass die heilige Schrift in allen ihren Teilen
als das vom Heiligen Geist inspirierte Wort Gottes die alleinige Quelle,
Richtschnur und Meisterin in allen Sachen des Glaubens und der Lehre ist. Ihre
Stellung zur heiligen Schrift ist daher die in den Worten 1. Sam. 3,9
bezeichnete: „Rede, Herr, dein Knecht höret.“ Sie erfordert darum auch vor
allem ein vom Heiligen Geist erleuchtetes, gläubiges Herz.
These II
Die lutherische Schriftauslegung wird demgemäß von der Überzeugung
geleitet, dass die heilige Schrift vollkommen klar und genügend ist, um alles, was zur Seligkeit nötig
ist, aus ihr richtig und sicher zu erkennen.
These III
Dabei hält die lutherische Schriftauslegung genau die Grenzen dessen inne,
was uns klar und deutlich im Worte Gottes geoffenbaret
ist, und bleibt sich daher bewusst, dass die menschliche Vernunft sich weder
vermessen darf, die göttlichen Geheimnisse zu erklären, noch in ihrer
gegenwärtigen Beschränktheit imstande ist, alle sprachlichen, geschichtlichen
und geographischen Schwierigkeiten und andere scheinbare Widersprüche zu lösen.
These IV
Die lutherische Schriftauslegung hält streng an dem Grundsatz fest, dass
die heilige Schrift nur aus sich selbst auszulegen
ist und also alle dunklen Stellen und Sprüche der heiligen Schrift aus den
klaren und hellen und der aus letzteren geschöpften Glaubensanalogie zu
erklären sind, dergestalt, dass Christus allein Kern und Stern alten und neuen
Testamentes ist und bleibt.
These V
Desgleichen geht lutherische Schriftauslegung bei Begründung jeder Lehre
immer auf die darüber vorhandenen klaren Hauptstellen, den eigentlichen Sitz
der Lehre, zurück.
These VI
Die lutherische Schriftauslegung erkennt nur den buchstäblichen Sinn der
heiligen Schrift als den eigentlichen und wirklichen, vom Heiligen Geist
beabsichtigten Sinn der heiligen Schrift an, sie weiß von keinem Geist
außerhalb des Wortes und Buchstabens der heiligen Schrift und verwirft alle
bloß bildlichen, allegorischen Deutungen dieses Sinnes, weiß aber dabei von
diesem einen und eigentlichen Sinn der heiligen Schrift eine erlaubte allegorische
und erbauliche Nutzanwendung wohl zu unterscheiden.
These VII
Um den buchstäblichen oder eigentlichen Sinn der heiligen Schrift zu
erkennen, sind die Regeln der Grammatik, der Sprachgebrauch, der Zusammenhang,
die geschichtlichen und anderen Verhältnisse und Umstände wohl zu beachten.
These VIII
Doch ist der Buchstabe derselben immer der (aus den klaren Stellen der
heiligen Schrift geschöpften) Analogie des Glaubens unterzuordnen, daher ist in
diesem Sinne die Dogmatik die Königin über die Grammatik, wie Luther sagt, und
ist nicht im Sinne der neueren Theologie einer sog. grammatisch-historischen
Auslegung zuliebe die göttliche Wahrheit zu verleugnen oder gar die heiligen
Apostel des Irrtums zu beschuldigen.
These IX
Ein falsches Festhalten am Buchstaben der heiligen Schrift ist es
desgleichen, wenn man auch da eine bildliche, allegorische Redeweise abweist,
wo die heilige Schrift selbst oder die Analogie des
Glaubens nötigt, eine solche anzunehmen.
These X
Nach lutherischen Grundsätzen ist die Übereinstimmung der rechtgläubigen
Kirche, der Symbole und der Väter ein Zeugnis für die richtige Auslegung der
heiligen Schrift und ist darum für uns glaubensstärkend, in dem richtigen
Verständnis der heiligen Schrift uns fördernd, versichernd und befestigend;
aber dasselbe kann an und für sich nicht maßgebend sein, sondern letzteres ist
immer nur die heilige Schrift.
Franz Pieper
(aus: Gebrauch
und Missbrauch der Analogie des Glaubens, Lehre und Wehre, 50/1904, S. 26 f.)
1. Unter Analogie oder Regel des Glaubens
verstehen wir mit unserem Bekenntnis die „klare Schrift“ selbst.
2.
„Klare Schrift“ in Bezug auf die Artikel des christlichen Glaubens haben wir in
den Stellen der Schrift, welche von den einzelnen Lehren ausdrücklich
handeln, also in den sogenannten sedes doctrinae.
3.
Eine richtige Zusammenstellung oder Summa der christlichen Lehre kann daher nur
so gewonnen werden, dass man die einzelnen Lehren aus den sedes doctrinae nimmt und
beurteilt.
4.
Jede Lehre, die nicht aus den Schriftstellen genommen ist, die ausdrücklich von
dieser Lehre handeln, ist nicht eine Schriftlehre, sondern ein Menschengedanke.
5.
Bei dem Verfahren, wonach man die einzelnen christlichen Lehren lediglich den
Schriftstellen entnimmt, die von diesen Lehren handeln, kommt nie ein Widerspruch
zwischen den einzelnen Lehren oder Teilen der Analogie des Glaubens heraus,
weil die Schrift in allen ihren Worten Gottes Wort ist, das sich nicht
widersprechen kann.
6.
Was den Zusammenhang der einzelnen Lehren untereinander betrifft, so ist
dieser nicht von den Theologen unter Absehung von der Schrift zu konstruieren,
sondern ebenfalls der Schrift zu entnehmen, soweit er daselbst offenbart
ist.
7.
Die Heilige Schrift offenbart, dass der Artikel von der Rechtfertigung, das
heißt, die Lehre, dass wir aus Gnaden durch den Glauben, ohne Werke, gerecht
und selig werden, der Skopus und der kurze Inhalt der ganzen Schrift
sei. Apg. 10,43: „Von diesem (Christus) zeugen alle Propheten, dass
durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen
sollen.“ Apg. 20,27. Vgl. mit 1. Kor. 2,2; Joh. 5,39.
8.
Jede Schriftauslegung, welche gegen den Artikel von der Rechtfertigung verstößt,
ist falsch und erweist sich bei näherer Prüfung nicht als Auslegung,
sondern als Verkehrung der Worte der Schrift.
9.
Obwohl der Artikel von der Rechtfertigung der Zentralartikel der christlichen
Lehre ist, so sind doch die anderen Artikel des Glaubens nicht aus dem Artikel
der Rechtfertigung zu konstruieren, sondern lediglich den
Schriftstellen zu entnehmen, welche von den einzelnen Lehren handeln.
10.
Es gibt keine einzige Stelle der Schrift, die man erst durch menschliche
Auslegung mit anderen Schriftstellen stimmen machen müsste, da die Schrift ohne
jede Zurechtstellung von Seiten der Theologen frei von allem Widerspruch ist.
Die recht gebrauchte Analogie des Glaubens ist nicht ein Wächter für die Schrift,
sondern für die Ausleger, die in dunkle Stellen, manchmal auch in klare
Stellen der Schrift ihre eigenen Gedanken einzutragen geneigt sind.
Zusatz aus der
Stellungnahme der Synodalkonferenz gegenüber Iowa und Ohio:
Der
klare Wortlaut einer Schriftstelle ist der Sinn der Stelle, welcher
durch die Worte unmittelbar nach der durch die Sprachgeschichte gegebenen
lexikalischen Bedeutung und grammatischen Verbindung vermittelt wird im
Zusammenhang der unmittelbaren Darstellung. Wenn ich die einzelnen Wörter so
nehme, wie sie sich mir in der Sprachgeschichte darbieten und ebenso auch ihre
grammatische Verbindung ohne viel künstlich daran herum zu deuteln und wenn
sich das dann ebenso einfach in den unmittelbaren Zusammenhang einfügt, ist das
der klare Wortlaut.
Und
wenn darin Begriffe vorkommen, die nach unserer menschlichen Auffassung selbst
anderen Lehren der heiligen Schrift zu widersprechen scheinen, so darf man
diese Begriffe nicht nach diesen anderen Lehren umgestalten,
vorausgesetzt, dass sie in den betreffenden loces classici klar vorliegen und integrierende
Bestandteile eben jener Lehre sind,
Eine
entsprechende Vergleichung darf nur stattfinden zwischen Stellen, die von derselben
Lehre handeln, und da müssen die dunkleren nach den klareren ausgelegt werden.
[Verworfen
wird damit:] Dass es noch zu einer theoretischen Erwägung kommen müsse, ob
dieser Sinn in einem für uns durchaus erkennbaren Einklang mit anderen
Lehren steht. Ist das nicht der Fall, dann muss sich der Wortlaut,
den die Synodalkonferenz klar nennt, eine entsprechende Umbiegung oder Veränderung gefallen lassen.
Dieser so entstandene Sinn, das ist nach dieser Auffassung der klare
Wortlaut. Das ist es, was damit gesagt ist, dass das Schriftganze noch über dem
Parallelismus der Schriftstellen steht. [Theorie vom „Schriftganzen“ als
zusätzlicher Auslegungsnorm.]
(entnommen aus: Johann Philipp Köhler: Die
Analogie des Glaubens. Theologische Quartalschrift, 1/1904, S. 77.18)
1
Fürbringer wie auch der Herausgeber lehnen
dabei das, was allgemein seit dem 18. Jahrhundert unter dieser „höheren Kritik“
verstanden wird, also die historisch-kritische Methode, als der Schrift völlig
unangemessen, unbiblisch, schriftwidrig grundsätzlich
ab, wie das Fürbringer auch in seinen Einleitungen
zum Alten und zum Neuen Testament dargelegt hat. Die Aufgabe bibeltreuer
Theologen ist es, gerade in den Einleitungen zu den verschiedenen biblischen
Büchern die Authentie dieser Bücher darzulegen, vgl. dazu Wilhelm Möller:
Einleitung in die Bücher der Bibel; Nösgen:
Einleitung in das Neue Testament; Guericke: Einleitung in das Alte Testament.
2
Das
ursprüngliche Heft stammt aus dem Jahr 1929. Im Jahr 1948 wurden die Qumran-Rollen gefunden, die aus dem 1. Jahrhundert stammen
und damit wesentlich älter sind und fast das gesamte Alte Testament umfassen
und den uns überlieferten Text bestätigen. (Anm. d. Hrsg.)
3
Da,
wo die Allegorie nicht durch die Schrift selbst vorgegeben ist, ist die
mystische oder allegorische Auslegung schriftwidrig und verdunkelt den wahren
Schriftsinn, wie dies besonders bei Origenes und im
Mittelalter zu sehen ist. Gegen Origenes wandte sich
schon die antiochenische Schule der Bibelauslegung. (Anm. d. Hrsg.)
4 Aristoteles, Metaphys. 4,3: Τό αυτό άμα
‘υπάρχειν τε
καί μή
‘υπάρχειν
αδύνατον τω
αυτω καί τό
αυτό.
5
Gerade
die römisch-katholische Kirche stellt ja die Kirche über die Schrift, behauptet,
dass gültig und verbindlich nur sei, was der Papst und die Bischöfe aufgrund
von Schrift und Tradition lehren würden und dass nur die Kirche, also ihre
Hierarchie, die Schrift recht auslegen und ihre Aussage wiedergeben könne.
Dieser schriftwidrige Grundsatz ist gerade auch in den Dekreten des Trienter
Konzils ausgedrückt. (Anm. d. Hrsg.)
6
Diese
Hilfswissenschaften können und dürfen aber niemals dazu führen, den Sinn des
Wortes festzulegen oder auch nur zu beeinflussen, sondern können nur zur Illustration
dienen, weil sie sonst zu einer Autorität neben bzw. über dem Wort würden.
(Anm. d. Hrsg.)