Ein Evangelist
unter den Lutheranern
Nordamerikas
Von
J. C. W. Lindemann
Neu herausgegeben
von
Roland Sckerl
Inhaltsverzeichnis
W |
yneken kam im Sommer 1838 nach Amerika. Er hatte daheim in
Missionsblättern gelesen, dass die deutschen Lutheraner in Amerika sich in großer
kirchlicher Not befänden, - dass sehr viele von ihnen weder Prediger noch
Schullehrer hätten, ihre Kinder nicht getauft und unterrichtet würden, sie
selbst nie eine lutherische Predigt hörten und das heilige Abendmahl nicht
empfangen könnten, - dass sie in großen Haufen eine Beute der Methodisten oder
anderer Schwärmer würden.
Dieses
große Elend ging ihm zu Herzen; denn er hatte es selbst erfahren, wie übel der
dran ist, der Gottes Wort nicht hat und den Heiland Jesus nicht kennt; wie
glücklich dagegen derjenige ist, der durch den Glauben Frieden mit Gott und
Vergebung der Sünden erlangt hat und durch das Evangelium täglich getröstet
wird. Die Liebe Gottes in Christus Jesus hatte er geschmeckt und erfahren; sie
hatte in seinem Herzen Gegenliebe entzündet, und diese innige Liebe zu seinem
Heiland trieb ihn nun, die alte Mutter, die Brüder und Schwestern, bequemes
Leben und glänzende Aussichten zu verlassen, um in der Ferne den kirchlich
verwahrlosten deutschen Lutheranern in Liebe zu dienen.
Wyneken
war damals 28 Jahre alt – er war am 13. Mai 1810 geboren – und in vieler
Hinsicht vortrefflich geeignet, das schwierige und anstrengende Missionswerk
unter den Deutschen Nordamerikas zu treiben. Gott hatte ihm einen kräftigen
Körper gegeben, in dem ein munterer, lebhafter Geist wohnte. Und dieser war
nicht nur mit einem hellen Verstand, sondern auch mit einem festen Willen
begabt, so dass Geistesgegenwart, ein rascher Blick, Mut und Entschlossenheit
als vornehmliche Charakterzüge bei ihm hervortraten. Dabei hatte Wyneken etwas
Tüchtiges gelernt. Nachdem er nämlich das Gymnasium seiner Vaterstadt Verden
abgeschlossen hatte, hatte er in Göttingen und Halle Theologie
studiert. Freilich hatte er auf diesen Universitäten nur sehr wenig von der
wahren Gottesgelehrtheit in sich aufgenommen; aber er hatte doch immerhin
vieles gelernt, was er im Dienste Christi trefflich verwerten konnte, als ihn
dieser nun zum Vater zog und mit heiligem Missionseifer erfüllte. Besonders kam
es ihm sehr zu statten, dass er der englischen Sprache schon mächtig war.
Schon
in Halle war er durch den Professor A. Tholuck zu Jesus gewiesen
worden; aber als er nach Vollendung seiner Universitätsstudien Hauslehrer bei
einem Beamten wurde, war er noch so wenig in der rechten Erkenntnis des Heils gefördert,
dass er bei Unterweisung der ihm anvertrauten Jungen in der biblischen
Geschichte zunächst mit den Makkabäerbüchern begann. Erst in dem Hause des
Pastors und Konsistorialrats von Hanfstengel, in welches er etwas später
gleichfalls als Hauslehrer eintrat, lernte er Jesus und den Weg des Heils
genauer kennen. Mit der ihm eigenen Entschiedenheit wandte er sich nun völlig
von der Welt ab und suchte mit allem Ernst seinem Heiland auf dem schmalen Weg
nachzufolgen. Als Hauslehrer, als Erzieher eines vornehmen Knaben, mit dem er
einen Teil Frankreichs und Italiens durchreiste, und als zeitweiliger Rektor
der lateinischen Schule zu Bremervörde hatte er vielfach Gelegenheit, in
der Erkenntnis Jesu Christi zu wachsen und seinen Glauben zu bekennen. Die
Bibel war es, aus der er jetzt die wahre Theologie lernte, durch die der
Heilige Geist ihn selbst zu einem rechten Theologen oder Gottesmenschen machte.
Wie
fest Wyneken damals in seinem Glauben gegründet war, und wie entschieden er ihn
bekannte, das beweist sehr schön sein Verhalten bei dem Kandidatenexamen,
welches er nicht lange vor seiner Abreise nach Amerika zu bestehen hatte.
Der
ungläubige Konsistorialrat M., dem Wynekens entschiedenes Christentum wohl
bekannt war, hatte die Lehre von den Wundern gewählt, um diesem auf den Zahn zu
fühlen und ihm eine Verlegenheit zu bereiten. Er leitete das Examen etwa mit
folgenden Worten ein: „Bekanntlich geschehen heutzutage keine Wunder mehr. Es
ist also nur zu fragen, ob es früher wirklich Wunder gegeben hat oder nicht.“
Dann fragte er Wyneken: „Was sagen Sie dazu?“
Dieser
entgegnete ohne weiteres Besinnen: „Gott ist ein Gott, der täglich Wunder tut,
und es wundert mich, dass Sie, Herr Konsistorialrat, das in Abrede stellen.“
Erstaunt
über diese Antwort fragt M. weiter: „Aber Sie wissen doch, was Spinoza über
diese Sache geschrieben hat?“
Wyneken
erwidert mit freundlicher Miene und festem Ton: „Ei, was geht Sie und mich an,
was dieser atheistische Jude daherphilosophiert! Die Schrift, die Schrift, Herr
Konsistorialrat!“
Dem
hohen geistlichen Herrn war eine solche Kühnheit noch nicht vorgekommen, da die
armen Kandidaten sonst eher zu zittern als zu widersprechen pflegten. Er sprang
von seinem Stuhl auf und brachte eine Menge scheinbarer Beweise vor, die seine
Ansicht rechtfertigen sollten.
Als
Wyneken wieder das Wort erhielt, geriet er ebenfalls in Eifer, sprang
gleichfalls auf und widerlegte mit gewandter Rede, was jener vorgebracht hatte.
So
wurde aus dem Examen eine Disputation, zum großen Erstaunen der Herren am
grünen Tisch und der im Vorzmmer versammelten Zuhörer. Das Merkwürdigste aber
war, dass die Bescheidenheit und Freundlichkeit, sowie der gute Humor des
Kandidaten, welche durch all seinen unerschrockenen Widerspruch
hindurchleuchteten, dem Prüfer das Herz abgewannen, dass er ihn öffentlich
lobte und ihm das Zeugnis erster Klasse gab.
Dieser
entschiedene Bekenner des einfältigen Bibelglaubens kam nun nach Amerika, um
die zerstreuten Kinder seiner Kirche wieder zu sammeln. Ihn begleitete ein
anderer Kandidat, mit Namen C.W. Wolf, der zwar in gleicher Absicht kam,
von dem aber nur noch wenig zu sagen sein wird.
Es
war der herzlich fromme und äußerst liebenswürdige Kapitän Stürje, der
unseren lieben Wyneken über den Atlantischen Ozean brachte und in Baltimore
ans Land setzte. Auch dieser teure Mann hatte ein Herz für die amerikanische
Kirche, und eine edle Gabe brachte er derselben in seinem missionsbegierigen
Passagier, der auch ihm und seiner Mannschaft auf der See gepredigt hatte.
In Baltimore
war Wyneken völlig unbekannt. Er wusste weder den Namen eines Pastors, noch den
irgendeines anderen Mannes, bei dem er hätte Erkundigungen einziehen können.
Nach längerem Suchen findet er Leute, die behaupten, dass sie „lutherisch“
seien. Sie führen ihn in ihren Gottesdienst; aber in demselben ist ihm alles so
sonderbar und wunderlich. Er wird gebeten, eine Predigt zu halten, und er
erfüllt diesen Wunsch. Dann fordert ihn „Bruder Numsen“ auf, eine
Gebetsversammlung zu leiten. Wyneken ist auch dazu willig. Er lässt ein Lied
singen, liest einen Schriftabschnitt vor und spricht nun ein Gebet. Während des
Gebets fangen die Leute an zu ächzen und zu stöhnen; bald wird in dieser, bald
in jener Ecke mit schauerlichem Tone „Amen, Amen“ gerufen. Dann wird wieder
gesungen, wie Wyneken es nie zuvor gehört hat; die Leute werden lustig und
lärmen immer lauter. Endlich ist die „Betstunde“ vorüber. Numsen tritt
zu dem höchst erstaunten Fremdling und fragt salbungsvoll: „Na, Bruder Wyneken,
wie hat dir’s gefallen?“ Der aber entgegnet kurz und bündig: „Ich weiß
nicht, ob’s von Gott oder vom Teufel ist! Lutherisch ist es jedenfalls nicht!“
– Nun aber hatte er es mit dem frommen Methodisten verdorben; denn an diese –
an die sogenannten Otterbeinianer – war er geraten, und sie hatten sich für
Lutheraner ausgegeben, um, wenn möglich, einen lutherischen Prediger „zu
bekehren“.
Nun
durchwandert Wyneken die Straßen Baltimores und sucht nach anderen lutherischen
Kirchen. Einen Deutschen, der ihm begegnet, fragt er, ob er nicht wisse, wo ein
lutherischer Prediger wohne. Dieser weist ihn und seinen Kollegen Wolf
zu Pastor Johann Häsbärt, der einige Jahre zuvor die zweite deutsche
evangelisch-lutherische St. Pauls-Gemeinde gegründet hatte. Die Glieder
derselben waren von der älteren Zions-Gemeinde ausgetreten, weil deren Pastor Scheib
den jämmerlichsten Rationalismus predigte und darin von den reichsten und
angesehensten Mitgliedern beschützt und bestärkt wurde. Pastor Häsbärt und
seine Gemeinde meinten damals, sie wären recht lutherisch; aber sie waren
tatsächlich uniert. Es gehörten grundsätzlich Lutheraner und Reformierte zur
Gemeinde, und bei der Verwaltung des heiligen Abendmahls wurde den
Kommunikanten auf dem einen Teller neben den Hostien auch Brot gereicht, so
dass jeder nach Belieben das eine oder das andere wählen konnte.
Bei
Häsbärt angekommen, erklären Wyneken und Wolf, dass sie Missionare seien
und sich aufgemacht hätten, um die deutschen Lutheraner im Westen aufzusuchen
und zu Gemeinden zu sammeln.
Häsbärt
betrachtete sie mit Misstrauen; denn es gab schon damals viele geistliche
Landstreicher, die unter dem Vorgeben, dem Volk helfen zu wollen, nur Geld und
faule Tage suchten. Er fragt, wo sie sich einquartiert hätten. Sie erwidern:
„Beim Pfarrer Rossel.“
„Ei“,
spricht Häsbärt erzürnt, „der ist ja ein Methodist!“ Er war kein Freund der
Methodisten, denn diese hatten ihm auf betrügerische Weise schon manches
Gemeindeglied entführt.
Wyneken
sagt: Er habe das nicht gewusst; sie seien Fremdlinge im Lande; er möge es
ihnen nicht anrechnen, dass sie sich aus Unkenntnis bei den Methodisten
eingemietet hätten.
Sein
offenes, freies und freundliches Auftreten gefällt Häsbärt; er fasst ein
Herz zu den Fremdlingen und behält sie bei sich. Am nächsten Sonntag predigt Wolf
in der St. Paulskirche. In der darauffolgenden Woche erkrankt Häsbärt, und er
bittet nun Wyneken, bei ihm zu bleiben, bis er genesen sei. Die Genesung
verzieht sich aber. Häsbärt muss die Stadt verlassen und aufs Land ziehen, um
die nötige Ruhe zu finden. Wyneken versorgt währenddessen, etwa sechs Wochen
lang, die Gemeinde und besucht den kranken Pastor fleißig. Beide lernen sich
immer besser kennen und werden Freunde, einander in brüderlicher Liebe innig
zugetan.
Als
Häsbärt sein Amt wieder selbst verwalten kann, ließ er den neuen Freund
ungern ziehen. Doch Wyneken wollte und musste fort, wenn er noch vor Eintritt
des rauen Herbstwetters seine Missionsarbeit beginnen wollte. Da sagt Häsbärt
zu ihm: „Sie sollen nicht auf Ihre eigene Faust in den Westen reisen. Ich
schreibe an das Missionskomitee der Synode von Pennsylvanien, die soll Sie als
ihren Missionar aussenden.“ Er tat das, und bald erhielt Wyneken den Auftrag,
nach Indiana zu ziehen, die zerstreuten deutschen „Protestanten“ aufzusuchen,
ihnen zu predigen und sie, wenn möglich, in Gemeinden zu sammeln.
Ehe
wir ihn aber auf seinen Missionsreisen begleiten, müssen wir billig fragen: Wie
konnte denn der lutherische Wyneken die Gemeinde in Baltimore bedienen, die
doch tatsächlich uniert war?
Von
der dort üblichen Abendmahlspraxis erhielt er dort gar keine Kenntnis. Solange
Häsbärt krankt war, wurde das Sakrament nicht verwaltet. Wyneken sah also
nichts, was sein lutherisches Gewissen hätte verletzen können und was ihm den
wahren kirchlichen Stand der Gemeinde gezeigt hätte. Dazu besaß er damals
keineswegs in allen Stücken eine klare Erkenntnis der lutherischen Lehre. Er
hatte manches Irrige in seinem Kopf und auch einzelnes Schwärmerische in seinem
Herzen. Sein Sinn war damals noch nicht so ernstlich auf reine Lehre und
Lehreinheit gerichtet; deshalb konnte es leicht geschehen, dass es ihm bei dem
Verkehr mit Häsbärt entging, wo und in wieweit dieser selbst nicht völlig
lutherisch war. Es waren damals andere Zeiten als heute.1
In jenen Tagen hielt sich mancher für einen tüchtigen Lutheraner, den man jetzt
kaum als solchen anerkennen würde. Im Vergleich mit gar vielen anderen, ja wohl
mit allen damaligen lutherisch sich nennenden Predigern Amerikas besaß
Wyneken eine gute Erkenntnis des göttlichen Worts; aber freilich fehlte
ihm noch viel, wenn man das rechte Maß anlegt.
Es
muss das hier gesagt werden, teils weil es überhaupt wahr ist, teils weil sonst
weder der Mann noch seine Lebensführung richtig verstanden werden könnten. Erst
nach und hat hat er sich durch Gottes Gnade aus seinen verkehrten Anschauungen
heraus-, von seinem damaligen Gefühlschristentum losgearbeitet. Deshalb hatte
er auch später große Geduld mit den Irrenden, solange er Aufrichtigkeit bei
ihnen annehmen durfte; und als er nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich
entschieden gegen die Methodisten und andere Schwärmer aufzutreten begann,
scheute er sich, die Personen zu verurteilen und bekannte demütig: „Ich
habe selbst lange in diesem Schwindelgeist gesteckt und weiß, wie schwer es
ist, herauszukommen.“2
Aber
ein durchaus aufrichtiger und lauterer Mann war Wyneken damals schon. Er kannte
keine Verstellung und war aller Lüge herzlich feind. Er war ja, wie bereits
gesagt, nicht frei von mancherlei Irrtümern in der Lehre; aber er hielt diese
Irrtümer für Wahrheit, und augenblicklich würde er sie weggeworfen haben, wenn
ein Bruder sich gefunden, der ihn eines Besseren überwiesen hätte.
Lauterkeit
war ein herrschender Charakterzug bei unserem Missionar. Dabei war sein Reden,
Denken und Handeln durch die Liebe Christi geheiligt, gleichsam verklärt. Frei
und fröhlich, dabei liebreich verkehrte er mit jedermann.
Im
September 1838 trat denn Wyneken seine Missionsreise an. Bis Pittsburg3 konnte er mit der Eisenbahn fahren
und dann den Kanal benutzen. In Zelienople kaufte er sich ein Pferd „und
trabte nun munter und fröhlich durch das waldige Land“. – Von seiner Reise
schrieb er einige Wochen später: Sie „hat für mich, als einen Fremden, des
Reitens und solcher Buschwege ganz ungewohnt, manches Beschwerliche gehabt;
aber auch viel Angenehmes, namentlich wenn ich mich einmal mit einem
christlichen Bruder erquicken konnte. Obwohl ich in Ohio meine
Missionstätigkeit noch nicht anfangen sollte, so wurde ich doch durch Zufall,
wie die Welt sagt, in Allen und Putnam Counties dazu gezwungen,
indem dort mehrere deutsche Ansiedlungen seit Jahren keine Predigt gehabt und
mich mit Tränen baten, eine Zeitlang bei ihnen zu bleiben. Ich blieb in den
zwei Ansiedlungen acht Tage, predigte jeden Tag, und einmal an einem Tage
zweimal; konfirmierte einen jungen Ehemann, der zwar Unterricht genossen, aber
noch nicht am heiligen Abendmahl teilgenommen hatte, taufte dreizehn Kinder
(zehn davon auf einmal, meistens schon ziemlich erwachsene), eine Mutter von
zwei Kindern und ein erwachsenes Mädchen von achtzehn Jahren, auf welches die
Gnade des Herrn besonders gewirkt zu haben schien. Die Leute waren so erfreut,
einmal das Wort und das Brot des Lebens wieder zu empfangen, dass ich dem Herrn
nicht genug für seine Liebe danken konnte, mir gleich beim Beginn meiner
Amtstätigkeit solche hungrige Herzen zuzuführen.“
Nach
dem ihm übertragenen Auftrag ging er nun nach Decatur in Adams County,
Indiana. Von hier aus wollte er die umwohnenden Deutschen aufsuchen. Im Busch
begegnet ihm ein Amerikaner, den er nach Deutschen fragt, und der von ihm
erfährt, was er bei denen wolle, wozu er ins Land gekommen usw. Da sagt jener
Amerikaner: „Wenn du ein rechtschaffener Pastor bist, dann geh dort in das
Haus, da liegt ein sehr kranker Mann drin. Bist du aber einer wie die meisten,
die von Deutschland kommen, dann geh dort hinüber zum reichen Fuhrmann!“
„Da
will ich doch lieber zuerst zu dem Kranken gehen“, entgegnete Wyneken; tat’s
und trat in Löfflers Haus.
Der
Mann war sehr krank. Als die Frau vernahm, dass der Fremdling ein Pastor sei,
sagte sie zu ihm: „Na, da hätten Sie lieber in Deutschland bleiben sollen!“
Wyneken
fragt sie nun, wie ihr Mann sich befinde.
Sie
entgegnet: „Ach, der hört und sieht nichts mehr; mit dem können Sie nichts mehr
machen.“
Er
lässt sich aber dadurch nicht abhalten, mit dem Kranken zu reden. Er setzt sich
zu ihm, spricht ihm mehrere Trostsprüche ins Ohr und betet dann auch laut für
ihn.
So
trat Wyneken als Missionar auf! – Später bekannte der wieder genesene Löffler,
dass er jedes Wort verstanden habe und reichlich getröstet worden sei.
In
Löfflers Haus fragte Wyneken nach anderen deutschen Ansiedlern. Sie wiesen ihn
zum „alten Buuck“ als zu einem solchen, der viel auf die Kirche und die
Pastoren halte. – Wyneken machte sich auf den Weg.
Etwa
fünfzehn Meilen vom Städtchen entfernt, begegnet ihm im Busch ein kleines
Mädchen. Er bleibt stehen und spricht: „Min lütge Deern, künnst du mi wohl
seggen, wo Buucks-Vader wohnt?“ – Dem Kinde, das den fremden Mann erst mit
einiger Besorgnis betrachtet hat, strahlt auf einmal ein heller Freudenschein
aus den Augen. „O ja,“ erwidert es fröhlich, „dat is ja min Vader.“ Das Kind,
es war Luise, führt nun den Fremdling in das Haus, und „Buucks-Vader“ heißt den
Mann herzlich willkommen, der nicht nur ihm, sondern allen Nachbarn weit und
breit Gottes Wort bringen will.
Nie
vergaß Wyneken die freundliche Aufnahme, die er bei Buucks gefunden. Hier war
fortan seine Heimat, so oft er nach dem „lieben Adams County“
hinauskaum.
Dort
bestand damals schon eine kleine sogenannte lutherische Gemeinde. Dasselbe war
auch in Fort Wayne der Fall, das zu jener Zeit nur ein gar kleines
Städtchen war. Beide Gemeinden hatte bisher Pastor J. Huber, ein
Pennsylvanisch-Deutscher, bedient, der aber nicht lange vor Wynekens Ankunft
gestorben war. Letzterer begab sich deshalb auch alsbald nach Fort Wayne,
besuchte die dortigen Glieder der Gemeinde und wurde von ihnen sofort
aufgefordert, bei ihnen zu bleiben.
Am
1. Oktober schrieb Wyneken von Fort Wayne aus an Pastor Häsbärt:
„Vor
acht Tagen bin ich hier in Fort Wayne angekommen, habe hier und in zwei anderen
benachbarten Ansiedlungen bereits fünfmal gepredigt, getauft und Leichenreden
gehalten, und nun wollen mich die Leute gerne behalten. - - Ich habe dem
Kirchenrat der hiesigen Gemeinde gesagt, sie möchten deshalb an das ausübende
Komitee Ihrer Gesellschaft schreiben; ich aber reise morgen weiter und werde in
vier Wochen wieder zurück sein, um die Antwort hier anzutreffen. Ich will gerne
des Herrn Willen tun, und er mag nun das Herz des Komitees leiten, wie er will.
Ich bin mit allem zufrieden, wenn ich nur gewiss weiß, dass, wo ich arbeite,
ich nach des Herrn Willen arbeite.“
Am
2. Oktober trat Wyneken seine erste größere Missionsreise an. Von Fort
Wayne ging er zunächst „in den westlichen Teil des Ohiostaates“; von dort
„nordwestlich bis nach Michigan City“; dann kehrte er „wieder zurück in die
Gegend von South Bend (nach St. Josephs City und Elkhart), Indiana“; von da
machte er „einen Abstecher nach Michigan, von Mottville bis Niles“, nun wandte
er sich südlich und kam „bis Crawfordsville, Montgomery County, Indiana“; von
da nahm er den Weg „durch Clinton County“ und zog „am Wabash hinauf zurück nach
Fort Wayne“, wo er am 16. November wieder eintraf. Er hatte viele kirchlich
verlassene Deutsche getroffen, hatte an mehreren Orten zur Gründung von
Gemeinden ermuntert und an anderen, wenn es Gott gefiele, Hilfe zugesagt.
Drei
Wochen von dem heiligen Weihnachtsfeste (1838) wollte der in Liebe brennende
Missionar schon die zweite Missionsreise unternehmen; allein sein und
Herrn Rudisills Pferd waren lahm, so dass es nicht geschehen konnte. Am 2.
Januar 1839 reiste er indessen fort, um die Gemeinden bei South Bend und
Elkhart und in Mottville zu besuchen. Er erzählt von dieser Reise: „Schon am
ersten Tage musste ich mein Pferd führen und die ganze übrige Reise zu Fuß
machen. Dies Fußreisen auf den glatten Wegen, noch dazu in großer Eile, weil an
manchen Orten die Kirche bestellt war, dazu das Predigen, machte mich so krank,
dass ich zwei Meilen hinter Elkhart liegen bleiben musste, und ich weder die
Gemeinde auf der Harris-Prärie noch die erst zu bildende besuchen konnte. Es
tat mir unendlich leid; was sollte ich aber tun, da man mich in Fort Wayne und
Benton und an einem anderen Orte unweit Wolf Lake zur bestimmten Zeit zurück
erwartete, und ich mich, obgleich ich mich noch nicht ganz wieder besser
fühlte, auf den Rückweg begeben musste?“
Nachdem
er zurückgekehrt war, schrieb er am 25. Januar an Pastor Fried. Schmidt,
dem Redakteur der „Luth. Kirchenzeitung“:
„Ich
glaube, der einzige Weg, ordentlich in dem Weinberg des Herrn etwas
auszurichten, ist eben der, Missionare in kleineren Kreisen anzustellen. Die
Generalsynode sollte nur einem einen Aufruf an die lutherischen Gemeinden ergehen
lassen. Es ist wahrlich nicht recht, dass zweitausend Kirchen, und
wahrscheinlich noch mehr Gemeinden, nicht mehr Missionare unterhalten können.
Diese bloßen Streifereien und Plänkeleien auf das Gebiet des Satans helfen,
fürchte ich, im Grunde wenig; wir müssen ordentlich fest Fuß fassen und dem
Teufel das Land Schritt für Schritt abnehmen und von dem eingenommenen Land
Vorposten vorschicken. Fehlt es uns hier an Streitern Christi, so habe ich die
gewisse Überzeugung, dass ein ordentlicher Aufruf an die deutschen Brüder in
Europa, namentlich an die dortigen Missionsgesellschaften (denn die
Konsistorien haben nicht immer die rechte Sorte vorrätig), Streiter genug in
unsere Lücken stellen würden. Nun, der Herr helfe; man muss ihm nur die Not auf
den Hals schieben im eifrigen Gebet, oder, wie der alte Luther sagt, ihm den
Bettelsack vor die Füße werfen, so wird der Kirche schon geholfen werden.
Gottlob, dass sie wenigstens erwacht ist und angefangen hat, sich zu regen und
sich die Augen zu reiben; sie wird denn auch wohl einmal um sich sehen und
schauen, wohin sie im Schlafe geraten ist, sich schämen nach innen und nach
außen. Es ist gut, dass der Herr lebt und regiert und nicht schläft noch
schlummert, der treue Hirte Israels.“
Welche
Erfahrungen Wyneken auf seinen Missionsreisen machte, davon soll er uns mit
seinen eigenen Worten ein wenig erzählen. Er berichtet in dem noch immer
lesenswerten Büchlein „Die Not der deutschen Lutheraner in Nordamerika“
so: „Nachdem ich einst bei fortwährendem Regen und Sturm umhergeritten war, um
im weiten Westen eine Ansiedlung, wovon ich gehört, aufzusuchen, begegnete ich
endlich gegen Mittag einem Mann mit der Büchse über dem Arm; es war ein
Deutscher. Ich gab ihm meinen Beruf als Missionar der Pennsylvanischen Synode zu
erkennen, und dass ich bereit sei, in der Nachbarschaft zu predigen. Der Mann
freute sich, nach sieben Jahren einen deutsch-lutherischen Prediger zu hören,
auch hinsichtlich seiner Kinder war es ihm lieb, die nicht getauft waren. Als
ich ihn aber bat, die im Wald umher wohnenden Nachbarn zu verständigen, sie
sollten sich in einem Hause versammeln, fand sich’s, dass es für den Jäger, der
doch eben aus dem Busch kam, im Busch zu nass sei. Als ich in ihn drang, hatte
er keine Zeit, obgleich die nächste Hütte kaum eine halbe Stunde vom Weg ablag;
er wies mich zu einem Hause am Wege. Die Mutter mit sechs oder sieben Kindern,
klein und groß, kam hier vor die Tür; dieselbe Freude, derselbe Antrag,
dieselbe Antwort; ‚aber dort hundert Schritt weiter sei ihr Mann beim
Holzhacken.’ Ich ritt hin, er sah kaum auf von der Arbeit und hatte ebensowenig
Zeit, und ich, weil ich nicht einmal jemanden auftreiben konnte, der mich nur
erst auf den Weg brachte, musste bei einer Ansiedlung vorüber ziehen, die seit
sieben Jahren keine Predigt, keine Sakramente unter sich gehabt! Ein Hamburger,
den ich bald darauf vor seinem Hause beschäftigt fand, ging ruhig mit einem
‚So’ ins Haus, als er hörte, warum ich gekommen sei; er ließ mich im Regen
draußen stehen. In einer Stadt am Wabashkanal musste ich am Sonntagnachmittag
die Männer selbst aus den Schnapsschenken herausholen, welches mir nur nach
langem Hin- und Herreden gelang, obgleich die meisten unter ihnen, solange sie
in Amerika gewesen, noch keine deutsche Predigt gehört hatten und kein Englisch
verstanden.
Ich
habe oft zwölf und mehr Kinder von dem verschiedensten Alter, oft von zehn bis
zwölf Jahren, auf einmal taufen müssen. – In einer Ansiedlung, wohin, wie die
Welt sagt, ich nur zufällig kam, hatte ich freilich die Freude, eine Mutter von
vierzig Jahren, nachdem ihr Manne seine zwei Kinder gebracht hatte, taufen zu
dürfen, weil sie flehentlich und unter Tränen darum bat. – Auch ein junges
Mädchen von achtzehn Jahren taufte ich in derselben Ansiedlung, die gläubig war
an den Herrn, die Wichtigkeit der Taufe aber noch nicht gewusst, auch die
Gelegenheit dazu noch nicht gefunden hatte.
In
dem Kreis, den ich bediente, hatte ich zwei organisierte Gemeinden, die so
ziemlich meine Zeit hinnahmen. Dennoch konnte ich’s nicht lassen, auf die
vielen Aufforderungen auch anderen Ansiedlungen in den Wochentagen zu predigen.
Als Gemeinde konnte ich sie nicht annehmen, teils, weil bei ihnen eine
heidnische Unwissenheit herrschte, die erst überwunden werden musste, teils,
weil ich die spezielle Seelsorge bei ihnen aus Mangel an Zeit nicht zu
übernehmen imstande war. Eine dieser Ansiedlungen bestand aus einem Elternpaar,
das zwar konfirmiert war, von denen aber die Frau nur wenig, der Mann gar nicht
lesen konnte; ferner aus drei oder vier an Ungetaufte verheiratete Töchter,
einem Sohn von zwanzig Jahren, wenigstens zwölf jüngeren Kindern und
Großkindern von sechszehn Jahren und drunter. Kein einziges von den Kindern und
Großkindern konnte lesen. Obgleich ich wenigstens alle drei Wochen dort predigte,
mich auch nach der Predigt mit ihnen von dem Weg der Seligkeit unterhielt,
konnte ich dennoch durchaus nicht Zeit finden, sie zu unterrichten, und so
musste ich eine ganze deutsche Ansiedlung mit ihren Nachkommen vor meinen Augen
in das Heidentum verfallen sehen, ohne helfen zu können. In einer anderen
Ansiedlung lebten wenigstens sechszehn pennsylvanisch-deutsche Familien, die
zwar noch in Pennsylvanien getauft waren, nun aber mit ihren Kindern und
Kindeskindern sichtbar ins Heidentum verfielen aus Mangel an Unterricht. Ebenso
noch drei andere Ansiedlungen, wo die Eltern schon zum Teil nicht mehr getauft,
andere nicht konfirmiert waren, und obgleich die Eltern mich mit Tränen baten,
ich möchte doch kommen, um ihre Kinder, selbst die verheirateten, zum heiligen
Abendmahl durch Unterricht vorzubereiten, musste ich es ihnen ebenso mit Tränen
abschlagen und konnte ihnen nur versprechen, sie dann und wann zu besuchen, und
sie auf das Gebet um Hilfe von Deutschland hinzuweisen.“
So
sah es damals um die kirchlichen Zustände der Deutschen im nördlichen Indiana
aus – solche Erfahrungen machte Wyneken auf seinen ununterbrochen fortgesetzten
Missionsreisen. Er sah auf denselben unsägliche geistliche Not; aber er
predigte auch nicht vergebens. Er wurde vielen ein rettender Gottesbote, und
noch ein halbes Jahrhundert später gedachten Hunderte von Vätern und Müttern in
Allen-, Adams-, Noble-, Kendall-, Whitley- und Marshall-County des
unerschrockenen, liebreichen Mannes, der weder schlechtes Wetter noch schlechte
Wege scheute, um ihnen die fröhliche Botschaft von Christus verkündigen zu
können; - der selbst immer ärmer wurde, um sie reich zu machen; - der die
größten Unbequemlichkeiten und Widerwärtigkeiten erduldete, um sie zum Frieden
mit Gott zu bringen.
Das
Missionskomitee der Pennsylvania-Synode gewährte ihm zwar seine Bitte, es
entließ ihn aus ihrem Dienst und gestattete ihm, die Gemeinden in und bei Fort
Wayne als berufener Pastor zu bedienen; aber es forderte von diesen, „sie
müssten ihm erlauben, von Zeit zu Zeit die zerstreuten Glieder unserer Kirche
in der Umgegend, und wenn sie auch vierzig oder fünfzig Meilen entfernt
wohnten, zu besuchen.“ Für Wyneken war eine solche Bedingung nicht nötig; er
bleib nach wie vor Missionar; nur war er der Verpflichtung enthoben, beständig
umherzuziehen.
In
Fort Wayne waren weder eine Kirche noch ein Pfarrhaus vorhanden. Der Müller Rudisill
nahm den Pastor als Gast in sein Haus auf, so oft er herein kam, und räumte ihm
ein eigenes Zimmer ein; und das tat der nun längst entschlafene wackere Mann
zwei Jahre lang.
Gepredigt
wurde damals bald hier, bald dort, je nachdem der eine oder der andere willig
war, die Versammlung aufzunehmen. Wyneken gab selbstverständlich auch seinen
Konfirmanden Unterricht; aber oft versammelten sich diese um ihn, ohne dass er
nur gewusst hätte, wo er ein Plätzchen finden sollte, sich mit ihnen
niederzulassen. Sein Kämmerchen bei Rudisills war viel zu klein, auch sonst
ungeeignet dazu. Er stand zuweilen mit seinen Kindern im Regen auf der Straße
und suchte erst nach einem trockenen Plätzchen. Zuweilen luden ihn auch
freundliche Nachbarn unaufgefordert ein, für dieses Mal in ihr Haus zu kommen.
Dagegen
räumte Vater Buuck dem Missionar nach einiger Zeit ein eignes Haus ein.
Ein Pfarrhaus, wie dieses war, gibt es heute nicht mehr! Es ist jetzt längst
verschwunden; aber ich habe es noch gesehen; und die Einrichtung, die es damals
hatte, hat ihm der glückliche Bewohner wiederholt beschrieben.
Es war ein kleines Blockhaus,
vielleicht sechzehn Fuß (ca. 5,60 m) lang und acht oder zehn Fuß (ca. 2,45-3,00
m) breit. Die Ritzen zwischen den Blöcken waren nur mit Moss verstopft, und der
Fußboden, aus beschlagenen Baumstämmen bestehend, war rau und uneben. Ein
Fenster war nicht vorhanden, weshalb notwendig die Tür offen bleiben musste,
wenn der Pastor studieren, lesen oder schreiben wollte.
Und nun die innere Einrichtung! In
der einen Ecke stand eine roh gezimmerte Bettstelle mit einem Strohsack und
etwas Bettwerk darauf. – Von ähnlicher Beschaffenheit war der einzige Tisch und
der einzige Stuhl. Aus zwei Baumstämmen waren sie herausgesägt; der Tisch ein
höherer und dickerer, der Stuhl ein kleinerer runder Block ohne jegliche
Bearbeitung und Kunst. – An den Luxus eines Spiegels war gar nicht zu denken.
Wollte Wyneken sich rasieren, so schaute er die Tür an oder höchstens in eine
Schale voll klaren Wassers.
Und in diesem Hause hat der Mann
recht glückliche Stunden verlebt! Doch war er nur selten in ihm zu finden; denn
sein Beruf nötigte ihn, durch Feld und Wald zu ziehen, um die deutschen
Ansiedlungen aufzusuchen und den zerstreuten Kindern seines Volks das
Evangelium zu bringen. Das war damals eine äußerst schwierige und anstrengende
Aufgabe, denn von guten Wegen war noch kaum der Anfang vorhanden; die Ansiedler
hatten bis daher nur eine Sorge gehabt: das unentbehrliche Brot zu beschaffen.
Oft reiste er bei Nacht, verlor
die Wege und musste sich nun seinem Pferd überlasssen, um wieder zu Menschen zu
kommen. Es kam auch vor, dass er im Wald übernachten musste. Das war ihm damals
keine Beschwerde; er litt es gern, weil sein Missionsberuf es so mit sich
brachte.
Als er einst auf einer
Missionsreise war, verirrte er sich im Wald. Es wurde Nacht; er konnte nichts
mehr erkennen und musste sich ganz seinem Pferd überlassen. Plötzlich bleibt
dieses stehen. Er treibt es an; aber das sonst so folgsame Pferd tut keinen
Schritt vorwärts. Er ist überzeugt, dass das Tier ein Hindernis gefunden habe,
das es nicht möglich macht, den Weg fortzusetzen. Welcher Art es aber sei,
konnte er nicht erkennen. In der Hoffnung, dass in der Nähe doch Leute wohnen
könnten, begann er, laut zu rufen. Nach einigen Minuten hört er in ziemlicher
Nähe eine Tür öffnen und ein Licht erscheint ihm gegenüber. Jetzt sieht er,
dass er am Ufer eines Mühlteiches steht; noch ein Schritt des Pferdes hätte ihn
in die Fluten gestürzt! Der Träger des Lichts ruft, was man begehre; und als
ihm Wyneken seine Lage begreiflich macht, bindet der Mann einen Kahn los,
rudert herüber und nimmt den Verirrten auf, während das Pferd nebenher schwimmen
muss. Die Nacht über bleibt er in der Mühle sitzen; am andern Morgen zeigt ihm
der Müller den Weg.
Einmal war er zu Fuß ausgegangen.
Es wurde dunkel; aber er meinte noch immer, die rechte Richtung zu haben.
Plötzlich steht er an einer überschwemmten Ebene; doch im Wasser liegen Blöcke,
und er, der Richtung sicher, hofft, sein Ziel erreichen zu können, wenn er von
Block zu Block springt. Er versucht’s; es gelingt eine Weile; aber er überzeugt
sich bald, dass die Baumstämme nicht auf dem Boden liegen, sondern schwimmen.
Zurück will er aber nicht, obwohl es immer völliger Nacht geworden ist. Jetzt
sieht er einen recht dicken Stamm in der Nähe und jenseits desselben andere,
die ihn wieder auf das Trockene führen werden. Er wagt den Sprung, und richtig,
er steht auf dem großen Block; aber der Stoß hat diesen in Bewegung gesetzt.
Und als Wyneken sich umsieht, ist kein anderer Stamm mehr zu erreichen. Er muss
sich entschließen, auszuharren, bis sich Rettung bietet. Um nicht
herabzustürzen, legt er sich mit dem Bauch auf den Baum und lässt Arme und
Beine seitwärts hinabhängen. Sehr ermüdet, schläft er bald ein und erst der
beginnende Tag weckt ihn wieder. Jetzt gelingt es ihm, dem Sumpf zu entfliehen
und sein Reiseziel zu erreichen.
Sahen ihn die Ansiedler, die ihn
bereits kennen gelernt hatten, von ferne kommen, so begrüßten sie ihn freudig,
versammelten sich bald um ihn und hörten begierig auf seine fassliche, innige,
lebhafte Predigt. Erlaubte es seine Zeit, so wurden auch einige Stunden der
Unterhaltung gewidmet, womöglich im plattdeutschen Dialekt. Er verstand es
meisterlich, mit Alten und Jungen, mit Männern und Frauen von Kühen und
Schweinen, von Welschkorn und Kartoffeln zu reden und doch immer die Rede mit
Salz zu würzen. Er verkehrte mit den Leuten aufs einfältigste und jovialste,
blieb dabei aber aber immer der Pastor.
Auch die Kinder hatten ihn gern,
weil er kindlich mit ihnen verkehrte. Einst predigte er im Hause des alten Fülling.
Er stand vor dem Tisch, der als Altar dienen musste, kehrte diesem den Rücken
zu und verkündigte den Füllings-Leuten und ihren Nachbarn eifrig die Gnade
Gottes. Von ihm unbemerkt steigt ein kleines Mädchen auf den Stuhl, vom Stuhl
auf den Tisch, und auf einmal umschlingt es mit seinen Ärmchen den Hals des
Predigers und schmiegt sich an ihn. Die Eltern hatten wohl bemerkt, dass das
Kind auf den Tisch gestiegen war, aber sie hatten seine Absicht nicht geahnt
und hatten nicht stören wollen. –
Für den gottesdienstlichen
Gebrauch suchte Wyneken einen anständigen schwarzen Anzug zu bewahren, der aber
meistens mancherlei Spuren von zunehmendem Alter oder von dem Leben im Busch
zeigte. Auf seinen Reisen trug er, was er gerade sein nennen konnte, einerlei,
welche Farbe es haben, welcher Mode es entstammen mochte. Bei Regenwetter kam er
wohl folgendermaßen angezogen: den Oberkörper deckte ein großer Mantel von
grünem Tuch oder Flaus, und die Beine steckten in gelben Hosen.
Zu diesen gelben Hosen war er auf
folgende Weise gekommen. In dem benachbarten Städtchen Decatur kehrte
er, um verschiedenes einzukaufen, in dem Laden eines katholischen Mannes ein,
der ein Säufer war. Der ist gerade dabei, einem anderen ein Stück starkes
gelbes Zeug, sogenanntes „englisches Leder“, zuzumessen. Wyneken, dessen Hosen
zu jener Zeit sehr jämmerlich aussahen, schaute zu, und vielleicht verrieten
seine Augen den Gedanken: Eine Hose von solchem Stoff würde auch mir gut tun.
„Willst du auch ein Stück haben?“ fragt auf einmal der Kaufmann. Wyneken sagt:
„Nein, ich habe kein Geld!“ „Nun, wenn ich dir eine Hose schenkte?“ „Ich will
von Ihnen nichts geschenkt haben!“ „So? Warum denn nicht?“ „Weil mir dann der
Mund gestopft wäre und ich ihr Saufen nicht mehr strafen könnte!“ „So? Haha!
Ist’s das? Nun, hier ist das Zeug; und nun strafe, was du Lust hast!“
Wyneken nahm die Gabe als eine
Wohltat von Gott an, dem er seine Armut schon geklagt hatte. Er brachte das
Zeug heim und ließ sich eine Hose daraus machen. Als aber seine Vorsteher das
neue Kleidungsstück sahen, fragten sie erstaunt: „In aller Welt, wo hat denn
use Pastor de gäle Böxen her?“ Sie hatten’s bald heraus, wollten aber nicht,
dass jener katholische Säufer sich rühmen solle, ihren Pastor beschenkt
zu haben. Sie luden gemeinschaftlich einen Wagen voll Welschkorn; einer fuhr
vor jenes Mannes Haus und lud es dort ab. Nun war das Verwundern bei dem. „Was
machst du?“ fragte er erstaunt. „Ich habe dein Korn nicht gekauft!“ Jener aber
sagte: „Da hast du dein Geld für unsern Pastor seine Böxe! Du – Kerl, sollst
nicht sagen, dass du uns unsern Pastor erhalten müsstest!“ –
Mit herzlicher Freude dachte
Wyneken später an diese Zeiten und nannte sie die „schönsten seines Lebens“.
Er war damals arm, sehr arm, denn alle Unterstützung, die er erhielt, gab er
schnell wieder an noch Ärmere; aber er war zufrieden und heiteren Sinnes. Er
aß, was ihm Gott durch die armen Ansiedler bescherte; er schlief, wo man ihn
bettete, - auf Heu und Stroh ebenso süß wie in einem Bett, das ihm je zuweilen
und nicht selten unter den sonderbarsten Umständen angeboten wurde.
Wenn er dann müde und matt, vom
Regen durchnässt, oder ganz durchfroren nach Hause kam, besorgte er vor allen
Dingen immer zuerst sein Pferd, begab sich dann in sein Stübchen, aß und trank,
was er vorfand, gewöhnlich nur Brot und kalten, schwarzen Kaffee, und war dabei
so zufrieden und in seinem Gott vergnügt, dass er sich gar nichts anderes und
Besseres wünschte.
Im Sommer 1839 sandte die
Pennsylvania-Synode wieder einen Missionar nach Indiana. Es war das Herr Johann
Joseph Nülsen. Er traf am 2. August in Fort Wayne mit Wyneken zusammen und
hielt sich kurze Zeit bei ihm auf. Sehr wichtig ist für uns, was er über ihn
nach Baltimore berichtete. Am 16. August schrieb er an Pastor Häsbärt
unter anderem folgendes: „Ich begrüßte Bruder Wyneken schon nach einigen
Stunden, als er von seiner Wohnung, die etwa eine Meile östlich von der Stadt
bei einem Müller, Herrn Rudisill, ist, zum Unterricht der Kinder in die Stadt
ritt. Ich begleitete ihn in eine seiner Gemeinden in Adams County, wo er
gleichfalls drei Tage Schulunterricht erteilt, und wo er vormittags, ich
nachmittags predigte. Die Leute scheinen mit viel Liebe an ihm zu hängen, und
der Herr hat ihn überhaupt zum Segenswerkzeug schon an manchen Herzen
gebraucht. Wir kehrten auf dem Wege in ein Haus ein, wohin alsbald die
Nachbarn, aus zwei anderen Familien bestehend, kamen. Das war ein Kreis von
etwa acht Seelen, die mehr oder minder durch sein Wirken zum Herrn bekehrt
sind. Er geht überhaupt sehr einfach und kindlich mit den Leuten um. Auch hat
er vor, eine Kirchenzucht einzuführen, um wenigstens äußere Zucht
herbeizuschaffen und das raue Betragen vieler Deutscher zu ändern, die seiner
Gemeinde sich anschließen wollen. Er ist ganz dafür, dass deutsche Schullehrer
hierher kommen, und ich denke auch, dass hier, wo mehrere Ansiedlungen sind,
die fast nur aus eingewanderten Deutschen bestehen, einige plaziert werden
könnten, und wenn sie beides, in englischer und deutscher Sprache unterrichten
könnten, auch in gemischten. Außerdem wünscht er, bald nach Deutschland
zurückreisen zu können, um noch mehr Kandidaten herüber zu holen, von denen
freilich hier, in den von ihm bereisten Orten, etwa sechs beschäftigt werden
könnten, wenn sie so genügsam wie er eben mit Kleidung und Nahrung zufrieden
wären. Bruder Wyneken weiß aber auch nicht einmal, ob er das hat; er ist
in dieser Hinsicht so unbekümmert, dass er nichts Bestimmtes hat, sondern
zufrieden ist, wenn er etwas bekommt, auch wenn er nichts bekommt. Er hat mich
in diesem seinem Glaubensleben recht beschämt.“
Und nun mag hier auch ein Wort
Platz finden, welches Pastor Häsbärt am 26. August 1839 an Pastor Fr.
Schmidt in Pittsburg schrieb. Es ist das folgende: „Wyneken ist ein
Glaubensheld, wie man sie nur in alten, längst verflossenen Zeiten zu suchen
gewohnt ist. O, wie beschämend ist sein Beispiel für so viele unter uns, die in
aller Ruhe und Gemächlichkeit, in Hülle und Fülle dasitzen und dem Herrn auch
nicht das geringste Opfer in seinen armen Brüdern darbringen mögen!“ (Luth.
Kirchenz. II, 12)
Am 10. September 1839 konnte
Wyneken selbst an Pastor Schmidt schreiben: „Hier in Fort Wayne hat der
Herr uns so viel Gnade gegeben, dass wir eine kleine Kirche, ein Framegebäude,
so weit aufgebaut haben, um Gottesdienst darin zu halten; auch ist ein Bauplatz
für ein Pfarrhaus angekauft.“
Dieses Pfarrhaus wurde erst viel
später erbaut und bestand aus einem kleinen Zimmerchen, welches Dr. Sihler
später als Küche benutzte.
Und nun hielt Wyneken auch, wenn
er daheim war, sonntagnachmittags Christenlehre; denn er erkannte sehr
lebendig, dass man sich namentlich der Jugend annehmen müsse, wenn bessere
kirchliche Zustände geschaffen werden sollten.
Einst begannen die jungen Burschen
im Besuch der Christenlehre saumselig und nachlässig zu werden. Er ermahnte
öffentlich, er tat es privat; aber es half nichts. Er erkundigte sich, wo sie
ihre Zusammenkunft hätten und was sie da trieben. Leider musste er hören, dass
sie Karten spielten und unnütze Geschwätze führten. Am nächsten Sonntag ließ
er, als die Christenlehre beginnen sollte, die Gemeinde ein wenig warten und begab
sich in jenes Haus, wo seine jungen Pfarrkinder versammelt waren. Plötzlich und
unerwartet stand er unter ihnen, hielt ihnen eine ernstliche Strafpredigt,
ermahnte sie dann freundlich und führte sie mit sich zur Kirche.
Auch in anderer Weise trat er
entschieden gegen die Sünde und das weltliche Wesen auf. Das Tanzen hasste er
von Herzen, weil es aus dem Fleisch kommt und zu mancherlei Sünden Gelegenheit
bietet. Hörte er, dass die jungen Leute zum Tanzen gewesen waren, so betrübte
ihn das sehr und er ruhte nicht, bis ihm die Betreffenden versprochen hatten,
sich künftig nicht dabei zu beteiligen. Dagegen war er einer erlaubten und
anständigen Fröhlichkeit keineswegs abhold; ja, er sah es gern, wenn es in
seiner Gegenwart heiter und munter zuging.
Einmal ließ er in Fort Wayne einen
Mann ins Loch stecken, weil derselbe seine Frau misshandelt hatte; und er
duldete es nicht, dass derselbe befreit würde, bis er mit Tränen Besserung
gelobte.
Die Irrenden und Verkehrten konnte
er recht eindringlich ermahnen, den Weg der Sünde zu verlassen und sich in die
Arme Jesu Christi zu werfen. Er pflegte wohl dabei die Hand dessen zu
ergreifen, zu dem er sprach; oder er fasste ihm beim Rock- oder Westenknopf,
als wollte er seine Flucht verhindern; oder steckte gar seinen Finger in ein
Knopfloch und hielt so den Angeredeten fest. Dabei sprach er herzlich,
eindringlich, schaute mit seinen freundlichen Augen warm und innig in die Augen
dessen, den er gewinnen wollte, und drang dabei auf schnelle Entscheidung. – Er
war überall ein ebenso eifriger wie liebreicher und freundlicher Seelsorger.
Zuweilen trat er jedoch in einer
Weise auf, dass es schien, als wäre er hart und lieblos; aber der Erfolg
rechtfertigte meistens sein Verfahren, das er nur eingeschlagen hatte, um den
Betreffenden zur Besinnung zu bringen, - einen kräftigen Eindruck auf sein
Gemüt zu machen.
So kam in Fort Wayne einmal ein
Mann zu ihm und meldete sich zum heiligen Abendmahl an. Wyneken schaute ihn
einige Sekunden scharf an und sagte dann kurz: „Sie können nicht zum heiligen
Abendmahl gehen!“ „Weshalb nicht?“ fragte jener. „Weil Sie ein Säufer sind!“
antwortete Wyneken ebenso kurz und bestimmt. „Was? Ich ein Säufer?“ spricht der
Mann nun beleidigt. „Woher wissen Sie das? Wer hat Ihnen das gesagt? Dem
schändlichen Lügner soll’s schlecht gehen! Ich will wissen, wer Ihnen das
gesagt hat!“ „Nun“, sagt Wyneken in aller Ruhe, „das hat mir ein Mann gesagt,
der’s am besten weiß, und dem Sie nicht widersprechen werden!“ – „So, wer ist
es denn?“ „Kommen Sie her; Sie sollen ihn sehen!“ entgegnete Wyneken, steht
auf, ergreift des Mannes Hand und führt ihn vor – den Spiegel. Dann spricht er
in seinem warmen Ernst: „Nun sehen Sie mal hin! Dieser Mann da mit dem
aufgedunsenen Schnapsgesicht, mit der roten Nase, mit den triefenden Augen und
zitternden Händen, der hat mir’s gesagt! Nun sehen Sie dem Mann mal fest in die
Augen und sagen Sie ‚Nein’, wenn Sie können!“ –
Dann aber setzt er mit bewegtem
Herzen hinzu: „Sehen Sie, lieber Mann, Sie sind ein Geschöpf Gottes; er hat Sie
nach seinem Ebenbilde erschaffen; durch das teure Blut des Sohnes Gottes sind
Sie erlöst; und Sie – den Gott so geehrt und wert geachtet – Sie werfen sich
wie eine Sau in den Kot der Sünde und wälzen sich drin ’rum!“
Der Mann wird bleich, zittert und
bebt, bekennt seine Sünden und fragt erschrocken, ob für ihn noch Hilfe
vorhanden, Vergebung zu hoffen sei. „Ja!“ sagt Wyneken jetzt; „setzen Sie sich;
auch Ihnen kann noch geholfen werden.“ Er predigt ihm die Gnade Gottes in
Christus und zeigt ihm, wie er sich dieselbe aneignen müsse. Als der Mann
endlich aufsteht und nach Hause will, ruft Wyneken ihm nach: „Bald hätt’ ich’s
vergessen; Sie können zum Abendmahl gehen!“ –
Zu einer anderen Zeit hatte
Wyneken einen Menschen, der sich unflätig betragen, einen „Schweinigel“
genannt. Das wurmte den Mann, und er drohte öffentlich, er wollte den Pastor
dafür verprügeln. Einige Tage später begegneten sich beide auf der Straße.
„Sieh“, sagte Wyneken, „das ist ja gut, dass ich Sie treffe; Sie wollen mich ja
durchprügeln, dazu wäre nun Gelegenheit!“ – „Ja, das will ich“, entgegnete
jener halb verlegen, halb zornig; „Sie haben mich einen Schweinigel genannt!“
„Ganz recht, und das sind Sie ja auch!“ – „Was? Kein Mensch kann das von mir
sagen!“ entgegnet zornig der Mann. Indessen haben sich etliche zwanzig Zuhörer
um die beiden gesammelt, um zu sehen, wo das hinaus will. „Das wollen wir
einmal sehen“, sagt Wyneken auf jene allzu dreiste Rechtfertigung. Er wendet
sich an die Umstehenden und spricht: „Leute, ihr alle kennt diesen Mann schon
lange Zeit. Was sagt ihr? Wer der Meinung ist, dass er ein Schweinigel sei, der
sage ‚Ja’!“ – „Ja, ja!“ ruft die ganze Versammlung. Und der Mann? Er ging still
von dannen. Wyneken aber eilte hinter ihm drein, redete freundlich und
ermunternd mit ihm und hatte bald die Freude, ihn als einen gebesserten
Menschen rühmen zu können.
Wyneken besaß eine große
Geistesgegenwart und einen erstaunlichen, stets fertigen Witz, so dass er
leicht das rechte Wort fand, fast nie in Verlegenheit kam und auch dem Spötter
das Maul stopfen konnte. Davon hier nur einige Beispiele.
Einmal war er auf seinen Reisen in
einem Gasthause eingekehrt, wie sie damals existierten, saß ruhig am Tisch und
verzehrte sein einfaches Mahl. Da trat ein junger Laffe herein, erblickte den
Prediger und fragte ihn mit unverschämtem Ton: „Na, Sie sind gewiss ein
Pfaffe?“ – „Ja“, erwiderte Wyneken schnell besonnen, „und dem Umstand allein
haben Sie es zu danken, dass ich Sie nicht zur Tür hinaus werfe!“
Eine ähnliche Anekdote mag auch
gleich hier Platz finden, obwohl sich die Szene viel später ereignet hat. Als
Wyneken einst nach längerer Abwesenheit wieder nach Fort Wayne gekommen und in Meyers
Apotheke eingetreten war, traf er dort einen alten Bekannten. „Hallo, Mr. Wyneken“, sagte dieser, „how do you do? Bist du
immer noch der alte Pietiste?” „Ja“, erwiderte Wyneken; „bist du denn immer
noch der alte Geizhals?“ Der hatte genug und ging. –
Als er ein andermal in derselben
Apotheke war und eben im Begriff stand, sie zu verlassen, trat ein Mann zu ihm,
der je zuweilen seine Predigt hörte, und sagte mit wichtiger Miene: „Sagen Sie
einmal, Herr Pastor, glauben Sie das wirklich, was Sie predigen? Ich
glaube es nicht!“ – „Dabei bleiben Sie nur!“ entgegnete Wyneken sofort. „Und
wenn der Teufel Sie schon am Kragen hat und in die Hölle zieht, so schreien Sie
nur fort und fort: Ich glaub’s nicht, ich glaub’s doch nicht!“ Damit schwang er
sich auf sein Pferd und ritt davon. Auch der Klügling ging; aber schon nach
einigen Tagen kehrte er in die Apotheke zurück, fragte nach Wyneken und sagte:
„Der Mann hat mich unruhig gemacht; ich muss ihn sprechen.“ Es geschah auch und
– er wurde gläubig. - -
So arbeitete der teure Wyneken in
Fort Wayne und in der Umgebung. – Zu derselben Zeit aber stand er mit den
christlichen Freunden in der Heimat in stetem Briefwechsel, dessen Hauptzweck
war, noch mehr Arbeiter für den Weinberg seines Herrn zu bekommen. Auf diese
Weise gelang es ihm, in Bremen Herrn F.W. Husmann zu gewinnen, der im
Mai 1840 nach Fort Wayne kam und Pastor in Marion Township wurde. Wynekens
Briefe hatten ihn überzeugt, dass er in Amerika nötiger sei als in Bremen. –
Vornehmlich auch durch Wynekens Einfluss bildete sich zu derselben Zeit ein
Verein in Bremen, der sich die Aufgabe stellte, Kirchendiener für Amerika zu
gewinnen und hinüber zu senden.
Längst hatte Wyneken gewünscht,
nach Deutschland hinüber reisen zu können, um Hilfe für seine deutschen Brüder
zu holen. Seine Briefe, die er hinüber gesandt, waren nicht recht verstanden worden
und hatten nicht den beabsichtigten Erfolg gehabt. Selbst wollte er hin, um
durch das mündliche, überzeugende Wort Herzen und Hände in Bewegung zu bringen.
Am 4. März 1841 schrieb Pastor Schmidt
in seiner Kirchenzeitung (III, 87): „Bruder Wyneken gedenkt, wie wir aus
sicherer Quelle vernehmen, nächstes Frühjahr nach Deutschland zu reisen, um
Anstalten zu treffen, aus verschiedenen Missionsschulen Missionare für den
Westen zu erhalten.“
Doch ganz unerwartet schrieb
Wyneken am 20. April, dass er nicht nach Deutschland gehen werde
(Kirchenz. III, 124). Er konnte ja nicht fort, ohne seine Gemeinden vorher mit
einem Vikar versorgt zu haben.
Ganz unvermutet aber erhielt
Wyneken dennoch Hilfe, so dass er seine Reise antreten konnte, die auch für ihn
selbst notwendig geworden war, indem eine schmerzhafte Halskrankheit ihm fast
alles Predigen unmöglich machte.
Schon im Mai traf ein von Goßner
gesandter Missionar, Knape, bei ihm ein, dem er eine seiner Gemeinden
übergeben konnte; und im Juni landeten in Baltimore noch drei andere
Missionare, C.F.W. Drude, G. Bartels und G. Jensen, von denen der
letztere nach Fort Wayne kam. Er war vom Stader Verein herübergesandt;
vertrauensvoll übergab ihm Wyneken seine Gemeinde in Fort Wayne für die Zeit
seiner Abwesenheit (Kirchenz. IV, 87).
Nun machte sich dieser, von seiner
jungen Frau begleitet, auf die Reise. Im Oktober 1841 schiffte er sich in
Philadelphia ein, wo Pastor Demme, damals Sekretär der Synode von
Pennsylvanien, ihn noch mit Empfehlungsschreiben an verschiedene Missionsvereine
in Deutschland versehen hatte.
In der Heimat angekommen, suchte
er freilich zunächst ärztliche Hilfe gegen das Leiden, das seine gesegnete
Wirksamkeit unterbrochen hatte; aber bald begann er auch für die Brüder in
Amerika zu wirken und damit eine Tätigkeit zu entfalten, die mit großem Erfolg
gekrönt weden sollte.
Zunächst schrieb er nämlich an
viele einflussreiche Personen, schilderte ihnen die kirchliche Not in Amerika
und bat dringend, auf Mittel und Wege zu sinnen, derselben abzuhelfen. Er
begehrte vornehmlich Männer, die bereit wären, um Christi willen die mühsame
Missionsarbeit in Amerika zu übernehmen.
Sodann suchte er dasselbe Ziel
auch durch mündliche Vorträge, Darstellungen und Bitten zu erreichen. Nicht nur
in seiner Heimat und in den benachbarten Provinzen suchte er das Interesse für
die Kirche Amerikas zu wecken; nein, er unternahm auch mehrere weite Reisen, um
sich teils mit einflussreichen Männern über die Abhilfe der geistlichen Not zu
besprechen, teils ganzen Vereinen und Gesellschaften die Sache ans Herz zu
legen.
So eilte er zu Löhe nach
Neuendettelsau in Bayern, dessen Wort damals im Kreise der Gläubigen bereits
eine gewisse Bedeutung erlangt hatte; und es gelang ihm auch, diesen Mann
völlig für seine Absichten zu gewinnen. Derselbe versprach Hilfe in jeder
möglichen Weise, mit Rat und Tat, mit Geld und Leuten.
In Nürnberg war Wyneken der
Gast des Fabrikanten Volk, durch den er auch mit dem Kaufmann Fabricius,
in dessen Hause damals die Missionsstunden gehalten wurden, bekannt wurde. Von
da ging er nach Fürth und hielt in der Schule einen Vortrag über die
kirchlichen Zustände Amerikas. Pastor F. Lochner, der damals ein junger
Mann, Augen- und Ohrenzeuge war, beschreibt Wynekens Auftreten folgermaßen:
„Ich eilte mit dem noch abends
abgehenden Eisenbahnzug nach Fürth. Bei meiner Ankunft war das
Schullokal schon gedrückt voll. Um acht Uhr erschien Wyneken in Begleitung der
Fürther Pastoren. Nachdem der damalige Pfarrer, jetzige Konsistorialrat Kraußold
einige Verse zum Singen vorgesprochen hatte, begann Wyneken. Seinen lebendigen
Schilderungen der amerikanischen kirchlichen Zustände, den miteinfließenden
anschaulichen Darstellungen seiner Missionswirksamkeit, den originellen
Bemerkungen, die teils die Anwendung und Erläuterung eines Bibelwortes
betrafen, teils den Unterschied in der Lehre und Praxis zwischen der
rechtgläubigen Kirche und den Schwärmern zeichneten, folgten alle mit größter
Spannung. Besonders verweilte er bei dem Treiben der Methodisten. Den Glanzpunkt
seiner Schilderung bildete die Beschreibung einer Lagerversammlung. Bei dem
bekannten Moment angelangt, wo die Einzelnen aufgefordert werden, an die
Bußbank heran zu kommen, trat Wyneken auf einmal an die ihm zunächst und sehr
nahe Sitzenden heran, ergriff einige derselben bei der Hand und fragte sie:
‚Willst du dich nicht auch bekehren?’ Noch sehe ich, wie manche den Redner
erschrocken anblickten, einige sogar scheu zurück wichen, als fürchteten sie,
es sollte allen Ernstes eine methodistische Bekehrung stattfinden! – Am Schluss
seiner Rede, in der er um Hilfe für die verlassenen Glaubensgenossen flehte,
ging er auch den damals so zahlreichen Kandidaten Deutschlands zu Leibe, welche
acht bis zehn Jahre auf Anstellung warteten, während überm Meer drüben die
Hungernden in der Wüste verschmachteten. – Es war nachts elf Uhr geworden, als
die Missionsstunde schloss; man wusste nicht, wo die Zeit hingekommen war.“ –
In Erlangen gewann er Professor Karl
von Raumer, der gleichfalls zusagte, der Kirche Amerikas Herz, Mund und
Hand zuzuwenden. Mit wahrer Begeisterung erzählte er später von der
freundlichen und herzlichen Aufnahme, die er bei diesem erfahren, und von dem
wahrhaft christlichen Geiste, den er in dessen Familie gefunden.
Im April 1842 war Wyneken in
Dresden, wo es ihm gelang, einen „Verein zur kirchlichen Unterstützung der
Deutschen in Nordamerika“ ins Leben zu rufen, der es sich zur Aufgabe
machte, teils durch Zusendung von zum Schul- und Kirchendienst geeigneten
Personen, teils durch Bücher und Geldbeiträge der Not in Amerika abzuhelfen.
Später, zum Missionsfest, ging Wyneken noch einmal nach Dresden und hielt vor
einer großen Versammlung eine feurige und ergreifende Ansprache.
Das ev.-luth. Missionskomitee
gestattete es, im Missonshause auch junge Leute für Amerika auszubilden, und
Herr Wilhelm Hattstätt war der erste Seminarist, der zu diesem Zweck in
die Anstalt eintrat.
Auch in Leipzig trat Wyneken für
sein lieben Missionsfeld auf; und hier bildete sich gleichfalls ein Verein zur
Abhilfe der Not, der mit dem Dresdener in Verbindung trat.
Unter Löhes und Raumers
Mitwirkung hatte Wyneken ein kleines Büchlein geschrieben, das nun unter dem
Titel gedruckt erschien: „Die Not der deutschen Lutheraner in Nordamerika.
Ihren Glaubensgenossen in der Heimat ans Herz gelegt von Fr. Wyneken.“ Er
schildert in demselben ein Fünffaches, nämlich: 1. wie sie (die deutschen
Lutheraner) großenteils die Wohltaten der Kirche ganz entbehren; 2. welche
gefährlichen Feinde sie haben an den vielen Sekten und an der römischen Kirche;
3. an welchen Mängeln die amerikanische Kirche in ihrem Innern leide; 4. wie
gefahrdrohend diese Zustände für die Zukunft seien, und 5. was geschehen müsse
und wie geholfen werden solle. (Siehe „Lutheraner“ I, S. 31)
Das Büchlein, anschaulich und in
Wynekens lebendiger Sprache abgefasst, erregte in den kirchlichen Kreisen
Deutschlands großes Aufsehen und verschaffte seiner Sache viele und angesehene
Freunde.
Löhe begann sofort, geeignete
junge Männer zuzurüsten, um sie als Missionare nach Amerika senden zu können;
und noch im Jahr 1842 kamen A. Ernst und J. Burger herüber, an
der Missionsarbeit teilzunehmen.
Jener Notschrei Wynekens war auch Dr.
Sihler zu Ohren gekommen und zu Herzen gegangen, und er entschloss sich
bald, nach Amerika zu gehen, um der dortigen Kirche seine Kräfte zu widmen. Er
kam 1843 und mit ihm P. Baumgart, der zunächst (1845) Lehrer in
Baltimore, später Pastor in Ohio wurde. (Vergl. „Lutheraner“ I, S. 31)
Und noch ein anderer teurer Mann
schloss sich Wyneken an und kam 1843 mit ihm herüber. Das war Herr A.
Biewend, der freilich wohl nicht geeignet war, in der Weise seines Freundes
zu missionieren, der aber bei einer liebenswürdigen Zartheit und Bescheidenheit
ein eminentes Wissen besaß und dadurch der Kirche Dienste erweisen konnte, die
ihr, sobald sie sich zu ordnen begann, vom größten Werte sein mussten. Er wurde
zunächst Pastor zu Washington im District of Columbia.
Gleich hier wollen wir noch
erwähnen, dass Löhe 1845 „im Namen und Auftrag gleichgesinnter Brüder in
verschiedenen Gauen Deutschlands“ einen „Zuruf aus der Heimat an die
deutsch-luth. Kirche Nordamerikas“ drucken ließ und herübersandte. Er trägt
außer der seinigen etwa noch 950 Unterschriften, Namen von Männern aus allen
Ständen und allen Berufsarten: Gewiss ein sicherer Beweis, dass Wynekens Wort
nicht vergeblich erschollen war.
Es ist unmöglich, mit kurzen
Worten zu sagen, wie überaus segensreich Wynekens Aufenthalt in Deutschland für
die amerikanische Kirche gewesen ist. Es sei nur daran erinnert und damit einer
späteren Zeit überlassen, es gebührender zu schildern.
Doch den größten und herrlichsten
Nutzen dieses Aufenthalts in Deutschland haben wir noch gar nicht erwähnt.
Wie bereits mitgeteilt, kam
Wyneken im Sommer 1843 wieder nach Amerika. Er landete in New York, reiste aber
von da nach Baltimore, wo er, wie auch sein Gefährte Biewend, abermals
in Häsbärts Kirche die Kanzel betrat. Seine Predigt hat damals auf viele
Zuhörer einen unvergesslichen Eindruck gemacht; es war ihnen, als predigte er
jetzt noch viel feuriger, ernster und klarer, entschiedener lutherisch, als er
es früher getan.
Und in der Tat, Wyneken hatte sich
während seines Aufenthaltes in Deutschland zu Besseren entwickelt. Er
war noch derselbe offene Charakter wie früher; er hatte noch dieselbe Liebe zu
seinem Heilande und zu seinen Brüdern; aber es war ihm drüben manches klar
geworden, was er früher nicht so erkannt hatte; er hatte an Erkenntnis der
lutherischen Lehre zugenommen, - er war viel mehr kirchlich gesinnt als zuvor.
Der lebendige Verkehr mit Männern
wir Löhe, Raumer, Graul, Trautmann und andern, der völligere Einblick in den
Kampf der Lutheraner gegen die Union, die Mitteilungen über Stephans
Auswanderung und über das Ergehen der von ihm Betrogenen im weiten Westen
Amerikas und anderes mehr hatten ihm die geistlichen Augen völliger geöffnet,
das kirchliche Gewissen geschärft und den heiligen Mut gemehrt, gegen alle
Feinde der lutherischen Kirche zu kämpfen und an seinem Teile dieser zum Siege
zu verhelfen. Dass nur die lutherische Kirche die volle Wahrheit besitze, dass
sie die in Wahrheit zur apostolischen Lehre zurückgekehrte Kirche sei, das war
ihm klarer und lebendiger geworden; deshalb wollte er nun auch noch
entschiedener als bisher seinem Heilande zur Ehre und seinen Miterlösten zum
ewigen Gewinn der lutherischen Lehre Geltung verschaffen und ihre bewährten
kirchlichen Ordnungen erhalten oder wieder aufrichten.
Was er einmal als Wahrheit erkannt
hatte, was seine Seele durchdrang, das sprach er denn auch frei und offen aus,
- das machte sich in all seinen Handlungen geltend.
Er tat es zunächst innerhalb
seiner Gemeinden. Diese hatten während seiner Abwesenheit in Gefahr gestanden,
auf ganz verkehrte Wege geführt zu werden; und nur der Wachsamkeit und treuen
Arbeit des Pastors F.W. Husmann hatte er es nächst Gott zu
danken, dass sie noch als „lutherische“ Gemeinden bestanden4.
Mit gewohnter Hingabe und neuem großen Eifer nahm Wyneken seine Arbeit an
denselben wieder auf; aber noch mehr als früher wirkte er dahin, ihnen einen
wahrhaft lutherischen Charakter zu geben. Hatten schon zuvor die, welche zur
Gemeinde gehören wollten, das Augsburgische Bekenntnis unterschreiben müssen,
so drang er jetzt noch viel mehr auf Erkenntnis der Unterscheidungslehren, - strafte
noch ausdrücklicher die Irrtümer der Reformierten und anderer Schwärmer, - ließ
es sich noch ernstlicher angelegen sein, die Gnade Gottes in Christus, die
Rechtfertigung ohne alles Zutun des Sünders, die Dankbarkeit der
Gerechtfertigten in guten Werken nach apostolischer und lutherischer Weise zu
predigen.
Das gefiel freilich manchem nicht,
und auch Wyneken musste es erleben, dass dieser und jener rückwärts ging, der
einst fein gelaufen war.
Wyneken gehörte, solange er in
Indiana wohnte, zu der alten „Synode des Westens“, welche aus
sogenannten lutherischen Predigern in Indiana, Illinois, Tennessee und Kentucky
bestand. Er war schon vor seiner Reise nach Deutschland bei seinen
Synodalbrüdern als „Altlutheraner“ verschrien, dessen Streben dahin gehe, die
Leute wieder katholisch zu machen.
Bald nach seiner Rückkehr hielt
die Synode ihre Sitzungen in einem Dorfe Kentuckys. Auch Wyneken war anwesend
samt Herrn Rudisill, dem Deputierten seiner Gemeinde. Ersterer fand
Gelegenheit, sich öffentlich gegen jene Verleumdung zu verteidigen; letzterer
jedoch war mit Verdacht erfüllt, als ob es doch wohl mit Wyneken nicht so ganz
richtig sei.
Wyneken lud die Synode ein, ihre
nächstjährigen Sitzungen in Fort Wayne zu halten. Sie ging darauf ein, kam und
konnte nun die „altlutherische“, von vielen als „katholisch“ verschriene
Gemeinde in der Nähe betrachten.
Rudisill war von
seinem Misstrauen noch nicht völlig geheilt; deshalb ermunterte ihn Wyneken
selbst, ihn bei der Synode zu verklagen. Er hoffte auf diese Weise eine herrliche
Gelegenheit zu finden, die lutherische Lehre zu bekennen und die Herren
Synodalen zu veranlassen, ihre Nasen in die Bekenntnisschriften zu stecken, die
den meisten völlig unbekannt waren.
Wie er gehofft, so kam es denn
auch. Das Resultat war aber, dass Rudisill und andere Gemeindeglieder
erkannten, wie sie keineswegs einen heimlichen Katholiken, sondern einen
rechten Lutheraner zum Pfarrer hatten. Mit aufrichtigem Vertrauen schlossen sie
sich ihm nun um so inniger an.
Gerade zu jener Zeit, als Wyneken
Luthers Lehre gegen seine eigene Synode zu verteidigen hatte, erhielt er die
erste Nummer des „Lutheraner“, der seit 1. September 1844 in St. Louis von
Pastor C.F.W. Walther herausgegeben wurde. Er hatte sich
überzeugt, dass er von seiner Synode nichts zu hoffen hatte; deshalb war ihm
jenes Blatt ein Engel des Trostes. Sobald er es flüchtig durchgelesen hatte,
rief er hocherfreut aus: „Gott sei Dank; es gibt noch mehr Lutheraner hier
in Amerika!“ Neue Hoffnung beseelte ihn für die Kirche dieses Landes; er
sah es Tag werden nach finsterer Nacht.
Wyneken hatte schon in Deutschland
von den „Sachsen“ in Missouri gehört; da er aber ihre Adressen nicht hatte
erlangen können, so war bis dahin keine Verbindung angeknüpft worden. Wir
werden später sehen, wie er mit ihnen zusammen kam.
Um dieselbe Zeit fand er
Gelegenheit, in noch größerem Kreise mit einem entschiedenen lutherischen
Bekenntnis aufzutreten. Er hatte schon vor seiner Reise nach Deutschland in der
„Lutherischen Kirchenzeitung“ verschiedenes gegen die Methodisten geschrieben.
In jenem Büchlein: „Die Not der deutschen Lutheraner“ hatte er ihr und
der Albrechtsleute Treiben ganz der Wahrheit gemäß, aber auch recht lebendig
und anschaulich, geschildert, - derber, als es je zuvor geschehen war. Einige
Exemplare dieser Schrift wurden bald nach Amerika gesandt und erbitterten die
Methodisten, die bereits siegestrunken wähnten, der lutherischen Kirche in
Amerika den Garaus gemacht zu haben, nicht wenig. Sie erhoben ein gewaltiges
Lamento.
Ja, sie schrieben sogar einen
eigenen Traktat gegen ihn: „Warum bist du vom Glauben gefallen?“, in
welchem sie nicht nur Wyneken, sondern auch die ganze lutherische Kirche aufs
schmählichste verleumdeten.
So war Wyneken schon damals ein
mutiger Bekenner seines Glaubens, der kein anderer war als der Luthers und
aller seiner wahren Schüler. Diesen Glauben hatte er in Indiana gepredigt,
bezeugt, mit seinem Wandel geziert. Er war in Wahrheit den Bewohnern jener
Gegend ein „Apostel“ geworden! – Sein Gott wollte ihn nun an anderen Orten als
seinen Zeugen gebrauchen; dahin müssen wir ihn nun begleiten.
Noch einer Sache müssen wir jedoch
gedenken, ehe wir völlig von dem „Missionar“ Abschied nehmen. Obwohl Wyneken
nach seiner Rückkehr aus Deutschland hoffen konnte, dass man dort für Übersendung
von Predigern, Lehrern und Seminaristen nach Amerika möglichst Sorge tragen
werde; ja, obwohl er erfahren durfte, dass bald mehrere derselben eintrafen: So
versäumte er doch nicht, selbst das Seinige zu tun, um Prediger des Evangeliums
in das zur Ernte reife Feld zu stellen. Er unterrichtete zwei junge Männer und
leitete sie an, der Kirche mit Predigt und Katechismuslehre zu dienen. Es waren
das die Pastoren J. Jäbker und C. Fricke. Sie waren also die
Erstlinge des Fort Wayner Predigerseminars, das dann später durch Löhe
unter Dr. Sihlers Leitung eine ganz andere Gestalt bekam. Den Anfang
machte aber Wyneken.
H |
aben wir
den lieben Wyneken bisher vornehmlich als Missionar kennen gelernt, so
wollen wir nun seine Wirksamkeit als Pastor zweier Stadtgemeinden, der
Sankt Paulsgemeinde in Baltimore und der Dreieinigkeitsgemeinde in St.
Louis, zu schildern suchen. Er war ja auch in dem Städtchen Fort Wayne
und in Adams County „Pastor“; aber in jenen großen Städten nahm seine
Arbeit doch vielfach eine andere Gestalt an. Die Missionstätigkeit war vorüber;
es galt nun, ältere Gemeinden zu säubern, zu befestigen, zu neuem Eifer zu
reizen. –
Im
Dezember 1844 legte Pastor Häsbärt in Baltimore plötzlich sein
Amt nieder, verließ die Stadt und ging zunächst nach New Orleans, Louisiana,
später nach Brasilien. Die Gemeinde entschloss sich bald, Wyneken aus Fort
Wayne zu berufen, den sie bereits aus seinen Predigten, die er in ihrer Mitte
gehalten, und aus seinem ernsten und zugleich freundlichen Umgang mit den
Leuten kannte, und zu dem sie ein herzliches Zutrauen gefasst hatte. Wyneken
erschrak, als er den Beruf erhielt. Er schrieb, dass er, falls er den Beruf
annehmen sollte, streng auf lutherische Lehre und Praxis halten müsste; er
würde auf Beichtanmeldung bestehen, bei Erteilung des Segens mit der Hand ein
Kreuz machen usw.; sie sollte es sich deshalb wohl überlegen, ob sie ihn
wirklich brauchen könne und haben wolle.
Die
Gemeinde erwiderte, sie sei ja lutherisch, und nur einen lutherischen Pastor
begehre sie; dass er streng auf lutherische Lehre und Praxis halten wolle, sei
ihr sehr lieb, - er möge doch ja kommen.
Er
entschloss sich nun, diesem Beruf zu folgen; und seine Gemeinden willigten in
seinen Abzug, weil sie es als Gottes Willen erkannten, dass „ihr lieber
Wyneken“ nach dem Osten gehe. Er versprach ihnen jedoch, und schrieb dieses
auch nach Baltimore, dass er bleiben wolle, bis ein anderer Pastor berufen sei
und dieser die Vokation auch angenommen habe. Auf seine Empfehlung wurde nun Herr
Dr. W. Sihler, damals Pastor in Pomeroy, Ohio, berufen, der sich denn
auch willig erklärte, in Wynekens Wirkungskreis einzutreten.
In der
ersten Hälfte des Februar 1845 hielt Wyneken seine Abschiedspredigt. Wie
schmerzlich ihm der Abschied von seinen Gemeinden wurde – wie tiefbetrübt diese
waren, das kann nur der nachfühlen, der das innige Verhältnis gekannt hat, das
sich zwischen beiden durch gegenseitige Liebe gebildet hatte. Nur das „Unser
Gott will es so“ konnte sie trösten.
Auf dem
Rücken seines treuen Pferdes, das ihn so oft getragen, trat Wyneken die weite
Reise nach Baltimore an; die Familie blieb einstweilen zurück. Er ritt zunächst
auf Zanesville, Ohio, zu, wo vor etwa einem Jahr sein alter Busenfreund G.
Bartels Pastor geworden war. Er fand bei diesem die herzlichste Aufnahme
und konnte sich einige Tage mit ihm durch Erinnerung an das frühere
Zusammenleben ergötzen. Dann ging’s weiter nach Pomeroy, um Dr. Sihler
zu besuchen. Mit dem musste er reden; denn er war ja sein von Gott erkorener
Nachfolger in Fort Wayne. Beide Männer kannten sich damals nur durch Briefe und
Aufsätze, die in der „Lutherischen Kirchenzeitung“ veröffentlicht worden waren;
von Angesicht hatten sie sich noch nicht gesehen. Es war noch in der zweiten
Hälfte des Februar, als sie sich persönlich kennen lernten und nun einen
innigen Freundschaftsbund eingingen, der bis an Wynekens Tod ungetrübt
fortbestand.
Nun ritt
dieser über die Alleghanies, verkaufte unterwegs sein Pferd und kam am 7. März
mit der Stage in Baltimore an. Hier wohnte er anfangs bei Herrn Franz Bühler
an der Marktstraße, der in der Folge sein sehr lieber Freund und Duzbruder
wurde; als dann im Mai auch die Familie eintraf, bezog er mit derselben ein
kleines Haus in der Fayettestraße, in der Altstadt gelegen, das er später mit
einem anderen in der Parkstraße vertauschte.
Der alte
Dr. Daniel Kurtz, der früher Pastor an der Zionskirche gewesen war und
der, wenn es die Not erforderte, dem Pastor an der St. Paulsgemeinde noch stets
bereitwilligst Hilfe geleistet hatte, führte Wyneken öffentlich nach
lutherischer Weise in sein Amt ein. Es war am 9. März. An demselben Tag hielt
Wyneken seine Antrittspredigt.
Viele
fromme Herzen kamen ihm vertrauensvoll entgegen; aber es gab auch Leute in der
Gemeinde, die misstrauisch waren, - einige, die seine christliche
Entschiedenheit fürchteten, - andere, die seiner Lehre nicht zustimmten. Es
wurde ihm bald klar, dass er manchen Kampf zu bestehen haben würde.
Zunächst bekam
er es mit den Reformierten zu tun, die bis dahin als solche
unangefochten Glieder der „lutherischen“ Gemeinde gewesen waren.
Gleich am
ersten Sonntag nach seiner Einführung sollte das heilige Abendmahl gefeiert
werden. Die Bereitung des Altars hatte der Küster besorgt. Wie erschrak
Wyneken, als er bei der Beichte vor den Abendmahlstisch trat und sofort
erkannte, dass an demselben wohl noch nie das Sakrament in rechter, in
lutherischer Weise verwaltet worden war! Da stand der Wein in einem großen irdenen
Krug, und auf dem Teller lagen Hostien und Brot nebeneinander. Was war da zu
tun?
Sofort
rief er die Vorsteher in die Sakristei und erklärte diesen: Die Gemeinde sei
gar nicht lutherisch; er sei bei der Berufung hintergangen worden; er könne das
Abendmahl nicht austeilen! Die guten Leute waren bestürzt; sagten: Sie hätten
nicht anders gewusst, als dass sie gut lutherisch seien, - er möge nur als
lutherischer Pastor nach bestem Gewissen handeln. Sie baten ihn dann dringend,
das heilige Abendmahl nur dieses eine Mahl noch nach herkömmlicher Weise zu
spenden, weil sonst eine allzu große Unzufriedenheit unter den anwesenden
Kommunikanten zu befürchten sei.
Unter den
obwaltenden Umständen hielt auch Wyneken dieses für das beste und handelte
demgemäß. Nach der Predigt forderte er aber die Gemeinde auf, nach Schluss des
Gottesdienstes zurück zu bleiben. Und dann erklärte er, dass er sie nicht
als eine lutherische Gemeinde vorgefunden habe, dass sie vielmehr uniert sei,
und dass es deshalb wohl am besten sein möchte, wenn sie ihn sofort wieder
entlassen würde; bliebe er, so würden bei einem solchen gemischten Haufen
gewiss viel Unruhen und Störungen vorkommen.
Von seinem
Fortgehen wollte aber die Gemeinde nichts hören; sie begehrte entschieden, dass
er bleiben solle. „Wohlan denn“, erklärte Wyneken, „so werde ich vom nächsten
Sonntag an den Lutherschen und den Heidelberger Katechismus mit auf die Kanzel
nehmen und beide vorlesen und erklären; dann kann jeder sich selbst überzeugen,
auf wessen Seite die volle Wahrheit des göttlichen Worts gefunden wird!“
Das führte
Wyneken nun auch aus. Er erklärte aus beiden Katechismen den Unterschied er
lutherischen und reformierten Lehre; er strafte die bisherige Praxis bei
Austeilung des heiligen Abendmahls und bewies aus der Schrift, dass Reformierte
und Lutheraner unmöglich Glieder einer Gemeinde sein könnten, die ja
stets, wenn sie redlich und christlich handeln wolle, nur ein Bekenntnis
führen könne.
Es gab
einen gewaltigen Sturm in der Gemeinde. Die Reformierten glaubten sich verraten
und die meisten hatten nicht einmal so viel Geduld, Wynekens Erklärungen ruhig
mit anzuhören; sie fanden auch unter den Lutheranern irrende Freunde, die das
Verfahren des neuen Pastors tadelten und die früheren Zustände erhalten wissen
wollten. Nicht nur in den Gemeindeversammlungen, auch auf den Straßen und in
den Häusern wurde lebhaft, oft erbittert, disputiert. Manche Kinder
reformierter Eltern waren lutherisch geworden; andere hatten lutherische
Personen zur Ehe genommen; so kam es, dass Töchter der Mutter, Männern ihren
Frauen entgegen standen. Es war eine Zeit der Heimsuchung; aber die Wahrheit
siegte. Die Reformierten verließen die Gemeinde (an einem Sonntage wurden über
achtzig aus derselben ausgetreten von der Kanzel vermeldet) und bauten eine
deutsche reformierte Kirche in der Calvertstraße. Selbstverständlich
betrachteten sie Wyneken als ihren Widersacher, und es währte noch geraume
Zeit, ehe sich die Aufregung legte.
Einen
anderen Kampf musste Wyneken gegen die falschen Lutheraner in seiner
Gemeinde, in der Stadt, in der Generalsynode führen.
In dem
„Fells Point“ genannten Stadtteil bestand eine deutsche Gemeinde, die vorgab,
gleichfalls evangelisch-lutherisch zu sein. Ihr Pastor, C.G. Weyl,
ein Schwiegersohn des Vater Schmucker, war ein charakterloser Schwätzer.
Er war ganz den „Neuen Maßregeln“ zugetan, hatte von lutherischer Lehre kaum
einen Begriff und war in seiner Praxis schwärmerisch, uniert, eigentlich ganz
grundsatzlos. Wyneken gehörte damals, als bisheriges Mitglied der „Synode des
Westens“, mit ihm zur Generalsynode; aber das hindert den „lieben Bruder“ Weyl
nicht, gegen ihn zu arbeiten. Er verbreitete das Gerückt, Wyneken sei ein
„Altlutheraner“, ein verkappter Jesuit, der auch seine Gemeinde dem Papste
wieder zuzuführen gedenke, wie ja das daraus hervorgehe, dass er einen Chorrock
trage und bei Erteilung des Segens ein Kreuz mache. Das Übrige, sagte er, werde
schon nachkommen, bis die Gemeinde ganz katholisch sei. Mündlich und
schriftlich suchte er die Glieder der St. Paulsgemeinde gegen ihren Pastor
aufzuhetzen und diesen bei ihnen verdächtig zu machen. Einzelne schenkten ihm
auch Glauben und wurden misstrauisch gegen Wyneken.
Weyl gab
damals „Die Hirtenstimme“ heraus, ein Blatt, das lutherisch sein
sollte, aber nur das jüngst erfundene Neumaßregel-Christentum der Generalsynode
vertrat. Schon deshalb hätte es billig „Wolfsstimme“ heißen sollen. Eine
weitere Berechtigung zu diesem Namen erwarb es sich dadurch, dass es in
unverschämtester Weise gegen den treuen Zeugen Wyneken auftrat.
Dieser
hatte bei Gelegenheit der dreizehnten zweijährigen Versammlung der
Generalsynode, die am dritten Donnerstag im Mai und in den folgenden Tagen 1845
in Philadelphia, Pennsylvania, stattgefunden, ein überaus vortreffliches
Bekenntnis abgelegt. In den ersten Tagen hatte er der Versammlung nicht
beiwohnen können. In seiner Abwesenheit hatte die Synode beschlossen: das
Komitee für die auswärtige Korrespondenz zu beauftragen, die Generalsynode
gegen die in Deutschland ausgestreuten (Wyneken zur Last gelegten und
angeblich) falschen Beschuldigungen, als sei sie nicht rechtgläubig
usw., zu verteidigen, und die dortigen lutherischen Vereine zu bitten, ihre
etwa vorhandenen Missionare ihr zuzusenden. Als nun Wyneken auf der Synode
erschien und von jenem Beschluss hörte, machte er am letzten Tag der Sitzung
den Vorschlag: „Dr. Schmuckers und Dr. Benj. Kurtz’ Schriften, auch einen
Band des ‚Lutheran Observer’ und der ‚Hirtenstimme’ und andere Bücher und
Zeitungen, worin die Lehre und Praxis der Generalsynode dargestellt sei, nach
Deutschland an Dr. Rudelbach, Prof. Harleß und andere Herausgeber vorzüglicher
lutherischer Zeitschriften zur Prüfung zu übersenden und damit vor der
lutherischen Kirche Deutschlands die Rechtgläubigkeit der Generalsynode zu
beweisen.“
Die Synode
legten diesen, für sie so gefährlichen Vorschlag auf den Tisch. Wyneken aber
erhob sich aufs neue und sagte: Er habe nichts anderes als dieses erwartet und
hätte deshalb zum voraus gleich einen zweiten Vorschlag formuliert und
eingesteckt. Diesen zog er nun mit aller Ruhe aus der Tasche und las ihn vor.
Er forderte: „Die Generalsynode solle die vorher vermeldeten Schriften von
Dr. Schmucker und Dr. Kurtz, wie auch den ‚Lutheran Observer’ und die
‚Hirtenstimme’ öffentlich missbilligen und verwerfen als ketzerisch und
abweichend von dem Vorbilde der heilsamen Lehre!“
Eine
solche Sprache war bisher bei den Sitzungen der Synode unerhört gewesen. Man
ensetzte sich über eine derartige tolle Forderung und dachte nicht im
entferntesten daran, ihr nachzukommen.
Was tat
aber der elende Weyl? Um Wyneken bei den Leuten, die nicht besser
unterrichtet waren, moralisch totzuschlagen, berichtete er folgendes in seiner „Lutherischen
Hirtenstimme“: „Pastor Wyneken von Baltimore sprach sich zu verschiedenen
Malen gegen die Lehre und Gebräuche, Bücher und Zeitschriften der lutherischen
Kirche aus und drohte, gegen dieselben zu zeugen.“
Aber er
erreichte mit seinen Lügen doch den beabsichtigten Zweck nicht, auch in
Baltimore nicht. Die Aufrichtigen forschten der Sache nach, und so dienten die
Weylschen Verleumdungen nur dazu, die Wahrheit desto heller ans Licht zu
bringen. Wyneken selbst veröffentlichte in der „Lutherischen Kirchenzeitung“
(Band 7, S. 92) eine wahre Darstellung jener Vorgänge auf der Synode, die
zugleich eine wohlverdiente Züchtigung Weyls war.
Im
folgenden Jahr nahm er Gelegenheit, im „Lutheraner“ gegen das Weylsche
Luthertum zu schreiben, als dieser in der „Hirtenstimme“ die „Gesetze seiner
Gemeinde“ abdruckte, die voller Irrlehren und falscher Grundsätze waren. Aber
Weyl dachte nicht im geringsten daran, wegen seiner Verleumdungen und falschen
Lehren Buße zu tun; er fuhr vielmehr fort, Verdächtigungen und Lügen über
Wyneken zu verbreiten. Es war ihm gelungen, die Feindschaft der Unlauteren
gegen denselben zu stärken, so dass es etliche derselben wagten, in den
Zeitungen zu schreiben, letzterer wolle seine Gemeinde wieder römisch
machen. Selbst Weyl gab seine „Hirtenstimme“ dazu her, diese boshaften Lügen zu
verbreiten; Wynekens Kirchenrat sah sich deshalb genötigt, ihn im „Lutheraner“
(III,32) zu rechtfertigen.
Auch in
diesem Kampfe blieb er Sieger. Denn obwohl die Generalsynodler nicht aufhörten,
ihn heimlich und öffentlich zu verleumden, so hatte er doch die Wahrheit auf
seiner Seite, und es fanden sich immer mehr Leute, die dieser zufielen. Seine
Gemeinde lernte ihn immer besser schätzen und schenkte ihm immer größeres
Vertrauen; ja, selbst viele Nichtlutheraner, die ja seine theologische Richtung
nicht billigten, mussten doch sagen, dass Wyneken ein ganzer Mann, ein lauterer
Charakter, eine grundredliche Seele sei.
Wir wollen
gleich hier erwähnen, dass Wyneken mit der Generalsynode völlig brach. Da
dieselbe von rechter Lehre und gesunder kirchlicher Praxis nichts wissen wollte,
so schloss er sich nun inniger an die „Sachsen“ in Missouri, an die „Franken“
in Michigan, an Dr. Sihler und die mit demselben aus der Ohiosynode
Ausgetretenen an, mit denen er bereits in lebhaftem Briefwechsel stand.
Er war mit
anwesend bei der Versammlung dieser Prediger, die im September 1845 in
Cleveland, Ohio, zusammengekommen waren, um ihren Austritt aus der Ohiosynode
und die Gründung einer neuen rechtgläubigen lutherischen Synode in Erwägung zu
ziehen (vergl. „Lutheraner“ II, S. 42).
Nachdem
dann im April 1847 die „Deutsche evangelisch-lutherische Synode von Missouri,
Ohio und anderen Staaten“ gegründet worden war, und Wyneken die im „Lutheraner“
veröffentlichte Verfassung dreselben gewissenhaft geprüft und sie mit seiner
Gemeinde durchgesprochen hatte, reiste er im Sommer 1848 nach St. Louis, wo
jene Synode vom 21. Juni bis 1. Juli ihre Sitzungen hielt. Er schloss sich
derselben gliedlich an, und dasselbe tat gleichzeitig seine Gemeinde, die durch
Herrn Franz Bühler vertreten war.
Es
forderte damals viel Zeit und Anstrengung, um zwischen Baltimore und St. Louis
hin und her zu reisen; es waren mehrere Wochen dazu erforderlich; aber wohl
selten ist Wyneken freudiger heimgekehrt als damals, da er in St. Louis eine
ansehnliche Versammlung ihm gleichgesinnter, wahrhaft einiger Lutheraner
gefunden, sich an ihrem Glauben gestärkt und an ihrer brüderlichen Liebe
erquickt hatte. Oft bezeugte er mit Freuden, dass er Gott von Herzen danke,
dieses erlebt zu haben.
Auch seine
Gemeinde hatte durch den Anschluss an die Synode neue Freudigkeit und frischen
Mut bekommen. Sah sie doch, dass ihr Pastor, der so viel verleumdet und
verdächtigt wurde, nicht allein stand, sondern viele Kampfgenossen hatte, denen
es ähnlich erging. Sie hatten diese Ermunterung auch nötig; denn es waren
bereits neue Feinde gegen sie aufgetreten, nachdem die größte Hitze des Kampfes
gegen die Reformierten und falschen Lutheraner kaum vorüber war.
Das
Unwesen der geheimen Gesellschaften [Logen oder Freimaurer] war schon
damals in Baltimore weit verbreitet und tief eingesessen. Namentlich war es der
Orden der „Red Men“ (d.i. der „Roten Männer“), dem sich die Deutschen
anschlossen und mehrere Logen derselben organisierten. Doch auch der Orden der
„Odd Fellows“ (d.i. der „Sonderbaren Brüder“) war sehr angesehen, und auch
seine Logen wurden von den Deutschen nur allzu häufig aufgesucht. Einige
Mitglieder der St. Paulsgemeinde gehörten leider auch diesen Logen an. Wyneken,
der das heidnische, abgöttische Treiben der Orden bald durchschaute, begann
sofort gegen sie zu zeugen. Er zeigte das Gefährliche derselben für Kirche und
Staat; er bewies, dass sie Feinde der Kirche Christi wären, da auch Juden in
dieselben aufgenommen würden, mit denen dann die Christen zusammen beten und
wirken müssten, und zudem eigene Kapläne (Propheten) hielten, die ihre
vorgeblichen gottesdienstlichen Handlungen zu leiten hätten usw. Er redete auch
mit jenen Gliedern seiner Gemeinde besonders und forderte sie auf, die Logen zu
verlassen. So war er wohl der erste Pastor in Amerika, der öffentlich
entschieden gegen die geheimen Gesellschaften auftrat und ihre Werke der
Finsternis strafte.
Was er in
der Gemeinde gegen die Logen redete, was er Einzelnen auf seinem Zimmer sagte,
das wurde natürlich in den Logensitzungen entstellt wieder berichtet.
Namentlich die deutschen Geheimtuer wurden ihm deshalb feind, verhöhnten und
verlästerten ihn. Und nicht nur heimlich und in kleineren Kreisen taten sie
das; nein, auf offener Straße, wenn sie in „feierlicher“ Prozession
einherzogen.
So stand
er eines Tages vor Bühlers Haus und redete mit einigen Freunden.
Plötzlich bog eine Loge der „Roten Männer“ in vollem Ornat um die Ecke und
marschierten in Prozession vorüber. Alle nahmen den Hut ab und grüßten
höhnisch, sobald sie an Wyneken vorbeizogen, der heiter lächelnd diese
Ungezogenheit betrachtete. Ähnliches passierte öfter.
Nun hat
Wyneken weder die Logen zerstört, noch hat er alle seine Gemeindeglieder aus
denselben gerettet; aber der Sieg war doch auch hier wieder auf seiner Seite.
Die Gemeinde als solche erkannte den Gräuel der geheimen Gesellschaften und
beschloss bald, dass niemand mehr als Mitglied aufgenommen werden solle, der
einer Loge angehöre und bei derselben zu bleiben gedenke. Einige, z.B. H. Hn.,
ließen sich auch überzeugen und verließen die Gesellschaft; andere, z.B. A.
Hg., zogen weg, um ferner Ruhe zu haben. Und wie segensreich ist dieser Kampf
Wynekens gegen die Logen für viele andere Gemeinden geworden! Er begann ihn im
Eifer für Gottes Ehre und für das Wohl seiner Gemeinde; die anderen sind ihm
später nur nachgefolgt.
Allen
Widersachern bot er unerschrocken eine mutige Stirn und doch meistens auch ein
freundliches Gesicht. Auch im härtesten Kampf verlor er nie seinen guten Humor,
- vergaß nie, einen Unterschied zwischen den Schwachen und den Boshaften zu
machen. Ihm blieb das immer gegenwärtig, dass die menschlichen Feinde nur
Werkzeuge des Teufels waren, und dass eigentlich diesem der Kampf galt. Den
Teufel aber verachtete er, so gut das ein rechtschaffener Christ nur
vermag, weil er glaubte, dass sein Heiland Christus ihn überwunden habe.
Er sah deshalb nichts verloren, wenn von allen Seiten Widersacher aufstanden
und sich gebärdeten, als wollten sie ihn fressen. Er hätte dazu lachen können,
wenn ihn die Leute nicht gedauert hätten, die sich vom Teufel verführen ließen!
Haben wir
nun seine Kämpfe nach außen kurz erwähnt, so müssen wir weiter sehen, was er
tat für die eigentliche Erbauung der Gemeinde, für die geistliche Versorgung
derselben.
Mit der Predigt
nahm es der selige Wyneken sehr gewissenhaft. Zwar hat er sowohl in Baltimoere
als auch in St. Louis wohl nur wenige Predigten vollständig ausgeschrieben und
wohl nie eine geradeso gehalten, wie er sie geschrieben hatte; aber er
bereitete sich aufs Gewissenhafteste für die Predigt vor, und nur eigene
Krankheit oder nötige Krankenbesuche konnten ihn davon abhalten.
Die Angst
und Sorge um die Predigt machte ihn regelmäßig jeden Sonnabend fast krank. Da
schmeckte ihm kein Essen und Trinken, da seufzte und ächzte er, da sah er
traurig und elend aus, da glaubte er so gewiss, dass er krank sei, und redete
so ängstlich, dass ein Fremder, der seine Weise noch nicht kannte, wirklich
verleitet werden konnte, eine ernstliche Erkrankung zu fürchten.
Bis elf,
zwölf Uhr nachts saß er und schrieb, nachdem er zuvor Luther oder andere „Alte“
gelesen hatte. Jetzt war die Predigt halb fertig; aber auf einmal wird sie
zerrissen und in den Papierkorb geworfen; denn – sie war verfehlt! Die Arbeit
beginnt aufs neue. Vielleicht wird das Konzept nochmals verworfen; vielleicht
findet es Gnade. Nach Mitternacht sucht der fleißige Mann sein Lager, um einige
Stunden unruhig zu schlafen. Am Sonntagmorgen ist er noch „krank“ und lässt
sich nicht gern stören. Die Predigt, die Predigt liegt ihm im Gewissen und im
Gemüte. Wie soll er dieses Mal durchkommen! Wie wird er vor Gott und vor der
Gemeinde bestehen!
Endlich
steht er auf der Kanzel. Er beginnt mit etwas unsicherer Stimme; er hustet – er
verspricht sich – es scheint, als könnte er keine Worte finden, um seine Gedanken
auszudrücken; dazu macht er ein Gesicht, als hätte er schon die Hoffnung
aufgegeben, dieses Mal in rechten Fluss zu kommen. Auf einmal aber entfährt
seinem Mund ein kräftiges Wort, z.B.: „Wir stecken alle bis über die Ohren im
Geiz“, oder: „All unser Christentum ist eitel Heuchelei, wenn wir Christus
nicht auch im Leben nachfolgen“, oder: „Alle Sonntage kommt der Pharisäer und
der Zöllner in die Kirche“ und nun fließt’s aus seinem Munde wie ein brausender
Strom über ebene Flächen und über zackigen Fels. Jede Spur von Ängstlichkeit
ist verschwunden; seine Augen leuchten; jede Muskel im Gesicht, jede Bewegung
der Hände, die ganze Haltung bezeugt’s, dass er von einer Sache redet, die ihm
am Herzen liegt, die er selbst erfahren, die er in die Herzen seiner Zuhörer
hinein predigen, für die er alle gewinnen möchte! Jedermann fühlt es: Der sagt
keine Predigt her, die nur im Kopfe steckt, - der zeugt von dem, was er selbst
erfahren, was er selbst erlebt, was Gottes Wort im eigenen Herzen gewirkt hat.
Er predigt
das Gesetz scharf, dass der Sünder erschrickt, innerlich erbebt und ängstlich
fragt: Wo soll’s mit mir hinaus? Ich bin verloren!
Aber nun
hebt er an, von der Gnade Gottes in Christus Jesus zu lehren. Er beweist, dass
alle Menschen erlöst sind, – dass auch der gröbste Sünder nicht verzweifeln
soll, – dass der versöhnte Vater im Himmel allen helfen kann – allen helfen
will. Er schildert die große Liebe Gottes zu den Sündern; er beschreibt das
Verlangen Gottes, jeden Verlorenen zu erretten; er ermuntert, diese Gnade mit
gläubigem Herzen anzunehmen; er schilt die, die es nicht wagen wollen, die
Gnade zu ergreifen; er bittet und fleht, sich doch mit Gott versöhnen zu
lassen, – er tut im besten Sinne des Wortes das Werk eines evangelischen
Predigers. Er zeigte die himmlischen Schätze nicht bloß von ferne; nein, er
brachte sie nahe, er legte sie den Sündern vor und machte diesen Mut, sie
getrost und fröhlich zu ergreifen. – O, mancher, gar mancher hat erst nach
seiner Predigt Mut gefasst, sich mit allen seinen Sünden in Gottes
Gnadenarme zu werfen und sich der vollen Vergebung um Christi Gerechtigkeit
willen zu trösten.
Die Gnade
Gottes in Christus Jesus gegen alle Menschen, das war der Hauptinhalt aller
Predigten des seligen Wyneken. In jeder derselben konnte ein Sünder lernen, wie
er selig würde. Von keinem Werke Gottes predigte er lieber als von der
Rechtfertigung; aber er vergaß dabei auch die Heiligung nicht. Er forderte
ernstlich einen rechtschaffenen christlichen Wandel, Hausandacht,
Barmherzigkeit, Mitleid mit den Schwachen usw. Aber nur aus Dankbarkeit gegen
Gott wollte er von den Christen gute Werke getan wissen; nie hörte man aus
seinem Munde eine Rede, die dahin lautete, dass ein Mensch sich die Gnade
verdienen müsse. Ja, mit allem Ernst, mit nachdrücklichen, kräftigen Worten,
strafte er die falschen Lehren der Schwärmer und Papstleute, weil dieselben
gegen den Artikel von der allgemeinen und freien Gnade Gottes verstießen.
Solche
Predigten waren redlichen Leuten sehr nützlich und tröstlich; aber nicht jedermann
möchte sie hören. Die „deutschen Jäger“, die, um die Gemeinde zu ehren, sonst
jährlich einmal in ihrer Paradeuniform in die Kirche gekommen waren, taten
dieses bei Wyneken nur einmal und nicht wieder; denn er hatte gar keine Notiz
von ihnen genommen, ja, er hatte sogar „weidlich gescholten“.
Die „Odd
Fellows“ und „Red Men“ hörten ihn gleichfalls nicht gern; denn wenn sie einen
„Bruder“ begruben, der zu Wynekens Gemeinde gehört hatte, so litt er nicht,
dass sie ihre schönen Schürzen und anderes Puppenspiel zur Schau trugen; ja, er
hatte die Unverschämtheit, ihnen Buße zu predigen und zu behaupten, dass sie
nur durch Jesus Christus selig werden könnten.
Auch gab
es sonst große Heilige in der Gemeinde, die über Wynekens Predigten die Zähne
zusammenbissen; aber alle armen Sünder, alle, die an sich selbst verzagten,
fielen ihm zu und dankten Gott, dass er diesen „Evangelisten“ nach
Balitmore gesandt hatte. Er war der erste (Pastor Brohm in New York
ausgenommen), der im Osten dieses Landes die Posaune des Evangeliums wieder
rein, deutlich, kräftig und nachdrücklich erschallen ließ. Tausende segneten
noch nach Jahrzehnten den Mann dafür, dass er sie aus Schwärmerei, Unionisterei
und falschem Luthertum durch seine Predigt befreit hatte.
Hatte der
gute Wyneken dann sonntags die Predigt hinter sich, so war alle Krankheit
verschwunden. Sein Gemüt war heiter; er war lustig und vergnügt, da er Gottes
Hilfe erfahren, und konnte mit seiner Familie oder näher stehenden Freunden
lieblich scherzen.
Die
Predigtkonzepte pflegte er damals gar nicht aufzubewahren; sie wurden bald
vernichtet. Nur das Thema und die Hauptteile schrieb er in ein Buch, um nach
einem Jahr sehen zu können, was er vordem bei Gelegenheit einer jeden Perikope
[Bibelabschnitt] gepredigt hatte. Anders hielt er es in späterer Zeit.
Seine
Predigten waren frisch, kräftig und, namentlich in der Zeit, von der wir jetzt
reden, in vieler Hinsicht derb. Er redete allezeit gern „deutsch“, einerlei, ob
er es nun plattdeutsch oder hochdeutsch sagte. „Statt auf der Straße herum zu
gaffen, steckt die Nase in den Katechismus, denn den könnt ihr noch nicht“,
konnte er nicht bloß den Jungen, sondern auch den Alten sagen. Aber wenn er
auch derb wurde, konnte man ihm nie zürnen; denn man fühlte ihm ab, dass er das
nicht aus Gehässigkeit sagte, sondern es seinem wohlmeinenden Wesen entsprach,
sich in der Weise auszudrücken.
Am
wenigsten konnten die zarten Generalsynodler5
diese Derbheit vertragen. Anfangs kamen sie in Baltimore noch ab und zu in
seine Kirche, um den sonderbaren Mann zu hören; namentlich geschah das
mittwochs. Als Wyneken einmal so unhöflich war, in der Predigt zu reden von
„Säuen, die den Weinberg des Herrn zerwühlen“, erschienen sie nicht wieder.
Es kam
vor, dass dieser und jener nach der Predigt zu ihm lief, um sich über seine
Behauptungen und Ausdrücke zu beschweren. So hatte er einmal am elften Sonntag
nach Trinitatis „Von den beiden Kirchgängern“ gepredigt und gezeigt,
dass mit den „armen Sündern“ noch immer „Pharisäer“ in die Kirche kämen; die
letzteren hatte er dann tüchtig hergenommen und in seiner Weise abgemalt. Nach
der Predigt kommen zwei alte Gemeindeglieder und äußern ihre Bedenken darüber,
ob es bei ihnen wirklich wohl solche Pharisäer gäbe. Wyneken aber überführt sie
bald, dass sie den Pharisäer nicht in weiter Ferne, sondern in nächster Nähe zu
suchen hätten. Sie gingen und kamen sobald nicht wieder, um an der Predigt zu
mäkeln.
Desgleichen
waren seine Predigten bilderreich. Immer standen ihm schöne Vergleiche zu
Gebote, die den Zuhörern die Sache, die er vortrug, veranschaulichen sollten.
So redete er einst (es war in Adams County) vom Unterschied des Evangeliums und
des Gesetzes. „Seht“, sagte er, „das ist ungefähr so, wie bei einem Pferde mit
der Peitsche und mit dem Hafer. Wenn ich dem Pferde die Peitsche und Sporen
gebe, das ist ein ganz ander Ding, als wenn ich ihm die Krippe voll Hafer
schütte. Das Gesetz ist die Peitsche; das Evangelium ist die Krippe voll
Hafer.“
Großen
Fleiß verwandte Wyneken auch auf den Konfirmandenunterricht und auf die Christenlehre.
Er katechisierte einfältig, munter, war dabei immer freundlich und bewies eine
große Sehnsucht, den lieben Kindern die Milch des Evangeliums ans Herz zu
bringen. Er gebrauchte nur den kleinen Lutherschen Katechismus, auf dessen
Erklärung er sich aber vollständig vorbereitete. Im Auftrag der Synode schrieb
er auch ein „Spruchbuch“ zu demselben, das 1849 im Druck erschien und
später wiederholt aufgelegt wurde.
Eine
seiner Konfirmandinnen, Dortchen S., war fast taub und hatte dazu ein sehr
schwaches Fassungsvermögen und Gedächtnis. Wyneken war anfangs ratlos, was er
mit ihr beginnen sollte; bald aber fand er den rechten Weg. Er ließ sie den
Winter hindurch jede Woche mehrere Male in sein Haus kommen und schrie ihr den
Katechismus, ein Stücklein nach dem andern, in die Ohren, bis sie endlich so
viel davon gefasst hatte, dass er sie mit gutem Gewissen konfirmieren konnte.
Seine
Schule lag ihm sehr am Herzen, und wenn er sie auch nicht gerade häufig
visitierte, so sorgte er doch für sie aufs gewissenhafteste. Fleißig verkehrte
er mit dem Lehrer, fragte nach allem, schärfte ihm das Gewissen, tröstete ihn
und hielt auch gern für ihn Schule, wenn er krank war oder gern einem einen
Besuch in Washington, D.C., oder an andern Orten machen wollte. Dabei war er
stets mehr brüderlich als väterlich, selbst gegen junge Lehrer. Sie hatten an
ihm in Wahrheit einen Vater.
Im Besuch
der Kranken war er fleißig und unermüdlich. Zu jeder Stunde des Tages,
mitten in der Nacht, war er bereit, ihnen zu dienen. Dass er viele Kranke auch
leiblich pflegte, soll später erzählt werden.
Die
ekelhafteste Krankheit war ihm kein Hindernis, einen Menschen zu besuchen, zu
heben, zu legen. Er war deshalb bei den Kranken ein sehr willkommener
Seelsorger, nach dessen Eintritt sie sich sehnten, dem die Augen
entgegenleuchteten, dem die Arme entgegengestreckt wurden.
Den
sündlichen Unarten der Kranken gab er jedoch niemals nach und gestattete
denselben keinerlei Berechtigung. In St. Louis hatte er eine Kranke, die sich
einbildete, dass sie selbst nicht beten, nicht einmal seufzen könne, und die
deshalb begehrte, Wyneken solle mit ihr beten. Er erklärte sich dazu gern
bereit, sobald sie nur einen Versuch gemacht hätte, ein Seufzerlein zu
Gott zu senden. Das wollte sie jedoch nicht können; so wollte denn auch Wyneken
nicht mit ihr beten. Er kam mehrere Tage; fragte, ob sie gebetet habe;
musste aber gehen, ohne seine Absicht zu erreichen. Endlich brach sie ihren
Eigensinn und betete; nun entsprach auch Wyneken ihrem Wunsche.
In den Gemeindeversammlungen
war Wyneken ebenso vorsichtig wie mutig. Häufig war er heftigen Angriffen
ausgesetzt, aber sie prallten ab an seiner Ruhe, an seiner Geistesgegenwart und
Klugheit. Er wich nicht einen Schritt breit; er war bei den unerwartetsten und
listigsten Fragen, Anklagen, Beschuldigen nie um eine gute Antwort verlegen.
Vortrefflich verstand er es, den boshaften Gegner zu nötigen, in die ihm
gestellte Falle zu laufen, seine eigene Schande zu offenbaren.
So hatte
er einst einem Mann das Abendmahl verweigert, weil dieser in Ehebruch lebte.
Die Sünde war noch nicht offenbar; ja, die Umstände waren derartig, dass, wenn
der Sünder hätte leugnen wollen, es Wyneken kaum möglich gewesen sein würde,
die Sache genügend zu beweisen. Darauf rechnete der stolze, bisher so
angesehene P. Er griff Wyneken in der Gemeindeversammlung an und begehrte, er
sollte den Grund angeben, weshalb er ihm das Abendmahl nicht geben wolle.
Wyneken entgegnete: Er, P., wisse ja diesen Grund; es sei deshalb nicht nötig, denselben
hier anzugeben. Aber der Ehebrecher bestand auf seinem Willen, und etliche
seiner Freunde unterstützten seine Forderung heftig. Wyneken fragte ihn, ob er
nicht wisse, was er ihm bei der Anmeldung gesagt. P. sagte: „Ja!“ Wyneken fragt
weiter, ob er leugnen könne, dass sich die Sache so verhalte, wie er gesagt.
Darauf will P. nicht antworten; er will nur wissen, weshalb er nicht zum
Abendmahl gehen könne! Wyneken bleibt dabei, er hätte es ihm ja gesagt; wenn P.
aber wolle, dass die Gemeinde es erfahre, so möge er selbst es ihr erzählen. Da
platzt P. heraus: „Sie haben gesagt, ich sei ein Ehebrecher!“ „Ganz recht“,
entgegnet Wyneken, „so habe ich Ihnen unter vier Augen gesagt; Sie
selbst haben es nun ausgeplaudert und haben die Folgen davon zu tragen. Nun
muss ich der Gemeinde erzählen, warum ich das gesagt habe.“ Wyneken erzählte;
unerwartet fanden sich Zeugen, die um das Verbrechen wussten; P. stand da in
seiner Schande, hoffärtig und ungebrochen; grimmig verließ er die Versammlung,
um nicht wiederzukehren.
Gegen
Gefallene, die ihre Sünde erkannten, war Wyneken sehr erbarmend und freundlich.
Nichts verdross ihn mehr als harte, lieblose Urteile über Leute, die aus
Schwachheit gefehlt hatten, oder über solche, denen es noch an Erkenntnis
fehlte. Er konnte dann die „Gerechten“ weidlich schelten und auch die „Klugen“
zurecht weisen, die bei der Aufnahme neuer Glieder in Selbstgefälligkeit sagen
konnten: „Es fehlt ihm nur sehr an der rechten Erkenntnis!“
Wie sehr
es Wyneken bald gelang, in seiner Gemeinde zu Baltimore die Opferwilligkeit
für kirchliche Zwecke zu wecken, das beweisen die Quittungen im
„Lutheraner“, z.B. aus dem Jahre 1847.
Nicht
wenig Not machten Wyneken die übereifrigen Lutheraner in seiner Gemeinde. Bei
der Einführung von Zeremonien, auch wenn sie ihm selbst sehr lieb waren, war er
sehr langsam und vorsichtig. Lieber wollte er sie nie eingeführt haben, als
dass irgend jemand durch Gebrauch derselben betrübt werden sollte. Nicht so
dachten manche seiner „lutherischen“ Gemeindeglieder. Sie meinten, zum
Luthertum gehöre notwendig ein Kruzifix und Lichter auf dem Altar. Sie
forderten diese Dinge, sie baten um ihre Anschaffung, sie erboten sich, sie zu
schenken – es half alles nicht, Wyneken ließ sie nicht auf den Altar kommen,
weil noch Leute da waren, namentlich alte, die desgleichen nicht gewohnt waren
und nicht wohl leiden konnten. Einmal wagten es einige Brüder, Leuchter „zu
schenken“ und „im stillen“ auf den Altar zu stellen; aber da kamen sie schön
an. Sie erhielten privat und öffentlich einen derben Verweis, und ihre Leuchter
sind nie auf diesen Altar gekommen. – Schlechten Dank verdiente sich
auch Pastor H., als er in Wynekens Abwesenheit den liturgischen Gottesdienst
einführen wollte. Er blieb, solange Wyneken in Baltimore war, uneingeführt.
Wir haben
schon früher gehört, dass Wyneken von Pastor Weyl unter anderem beschuldigt
wurde, er wolle die Gemeinde zum Papsttum zurückführen. Wyneken hasste dieses
von Grund seines Herzens, weil es dem Sünder den Gnadenstand ungewiss macht,
Menschenwerk als zur Versöhnung Gottes genügend preist, die Schrift verkehrt
und Gott die Ehre raubt usw.
Bemerkenswert
aber ist, dass wirklich einmal ein römischer Priester den Versuch machte,
unsern Wyneken zu bekehren. Er wohnte ja in der Nähe der schönen Alphonsuskirche,
so dass die an derselben angestellten Priester ihn bald von Angesicht zu
kannten und nur über die Straße zu treten brauchten, um sein Haus zu erreichen.
Sie mussten wohl von Wynekens angeblicher „Absicht, katholisch werden zu
wollen“ gehört haben, und einer der Herren hatte die Kühnheit, ihn zu besuchen.
Wyneken behandelte ihn selbstverständlich, wie jeden Fremden, mit seiner
Höflichkeit, sagte ihm aber dabei seine Meinung über die gräulichen päpstlichen
Lehren so deutlich, dass sich der Herr bald sehr enttäuscht verabschiedete und
nicht wiederkam.
Lachen
musste Wyneken zuweilen über den schändlichen Geiz der Leute. So z.B., als er
ein Paar getraut hatte, der Bräutigam nun fragte, was er schuldig sei, und auf
Wynekens Entgegnung: „Das steht ganz in Ihrem freien Willen“, nur ein
25-Cent-Stück darreichte, während er wenigstens noch eins verlegen zwischen den
Fingern versteckte.
Ärgerlich
aber war es ihm, wenn Gottes Wort und kirchliche Handlungen nur zur Erreichung
weltlicher, irdischer Zwecke benutzt wurden. So gehörte zu seinen Pfarrkindern
ein alter Junggeselle namens Wolf, der einst reich gewesen, jetzt aber
verarmt war. Er war einige achtzig Jahre alt. Die Wirtschaft führte ihm eine
Nichte von fast 70 Jahren, der eine sehr gut Deutsch redende Schwarze zur Hand
ging, die einzig übriggebliebene von einer zahlreichen Sklavenschar, die nach
und nach verkauft worden oder entlaufen war.
Ganz
unerwartet erhielten die Leute die Nachricht, dass ein reicher Verwandter
gestorben sei und ihnen ein großes Vermögen hinterlassen habe; sie sollten nach
Deutschland kommen und es in Empfang nehmen. Doch, so sagte eine Klausel des
Testaments, sie konnten die Erbschaft nur antreten, wenn sie Beweise brächten,
dass sie verheiratet wären. Beide hatten schon lange miteinander gehaushaltet
und wohl nie an eine Verheiratung gedacht; jetzt aber musste eilig die
Kopulation geschehen; es wäre ihnen ja sonst die Erbschaft entgangen. Sie
ersuchten Wyneken, die Trauung zu vollziehen, und versprachen ihm große Schätze
als Dank dafür. Es kostete ihm einen harten Kampf, ehe er zusagte; er hätte
viel darum gegeben, wenn diese Brautleute die Kopulation bei einem andern
nachgesucht hätten; aber endlich musste er sich doch bequemen, sie zu
verrichten. Er tat’s mit Widerwillen. Von den großen Schätzen ist nie ein Cent
in seine Hände gekommen. –
Zu Anfang
des Jahres 1850 erhielt Wyneken eine Berufung von der Dreieinigkeitsgemeinde in
St. Louis. Er schwankte einige Zeit, ob dieselbe wirklich ein Gottesruf sei und
er sie annehmen müsse, zumal alle ernsten Lutheraner in Baltimore ihn baten,
bei ihnen zu bleiben; aber nach gewissenhafter Prüfung aller Umstände erkannte
er es als Gottes Willen, nach St. Louis zu gehen. Seine liebe Gemeinde entließ
ihn denn auch in Frieden; doch musste er ihr versprechen, für einen treuen
Nachfolger sorgen zu wollen. Die Wahl fiel auf P. Keyl, der damals in
Milwaukee wirkte.
Als
Wyneken endlich abreisen musste, wurde P. Schaller zum Vikar berufen,
der das Pastorat verwaltete, bis P. Keyl eingeführt wurde. Er selbst
hielt am 14. Februar 1850 seine Abschiedspredigt über 1. Sam. 7,12 und reiste
dann über Fort Wayne, wo er seine Familie abholte, nach St. Louis. Am Sonntag
Jubilate 1850 hielt er dort seine Antrittspredigt und pastorierte fortan in
ganz ähnlicher Weise, wie er es in Balitmore getan, bis seine Erwählung zum
Präses der Synode ihm andere Pflichten auferlegte.
Es sei
hier noch erwähnt, dass er in St. Louis die Freude hatte, seinen Neffen H.C.
Schwan wiederzusehen, der sieben Jahre als Pastor in Brasilien gewirkt und
dem Onkel einst versprochen hatte, zu ihm zu kommen, um gleichfalls der
nordamerikanischen Kirche zu dienen.
I |
n
demselben Jahre, da Wyneken nach St. Louis übersiedelte, wurde er auch zum
Synodalpräses gewählt. Er hatte sich also innerhalb von zwei Jahren ein solches
Vertrauen erworben, dass ihm die Synodalgemeinden dieses höchst wichtige Amt
übertrugen. Nach demselben war er damals nicht nur verpflichtet, bei den
Synodalversammlungen den Vorsitz zu führen und während der drei Jahre, für die
er gewählt war, mancherlei sehr wichtige Geschäfte, die er an seinem Wohnort
verrichten konnte, zu vollziehen; sondern es lag ihm auch ob, in derselben Zeit
„jedes Kirchspiel des Synodalbezirks wenigstens einmal zu besuchen“. –
Durch die Übernahme dieses so nötigen und wichtigen Aufseheramtes war Wyneken
ungefähr ein solcher „Superintendent“ geworden, wie er denselben schon 1841
gewünscht; nur dass sein Bezirk viel größer war, als es ihm damals vor Augen
geschwebt hatte.
Nach der
Teilung der Synode in vier Bezirke wurde Wyneken 1854 wiederum gewählt, und
zwar nun zum „Allgemeinen Präses“. Obwohl die Synode sehr zugenommen
hatte und die Gemeinden in den Vereinigten Staaten und in Kanada weit umher
zerstreut lagen, blieb dem Präses die Pflicht, binnen drei Jahren alle
Parochien zu besuchen, Gemeinden, Pastoren und Schulen und visitieren [das ist:
beaufsichtigen, prüfen], „womöglich in jeder Gemeinde selbst eine Predigt zu
halten“ und auch außerdem „möglichst ohne Verzug persönlich zu erscheinen, wenn
dies in irgendeiner Gemeinde des Synodalsprengels zur Hebung eingetretener
Missverhältnisse usw. begehrt“ wurde. Dazu sollte er die Pastoralkonferenzen
und die Versammlungen der Bezirkssynoden besuchen, auf Begehren „Rat und
Antwort erteilen“ usw. Es war viel, was die Synode von ihrem Allgemeinen Präses
begehrte; aber Wyneken versuchte es ernstlich, ihr diese wichtigen Dienste zu
leisten; und er tat es so sehr zur Zufriedenheit derselben, dass sie ihn 1857
abermals wählte. Doch die Synode war nun so groß geworden, dass es einem Mann,
auch bei bester Gesundheit und stetiger Tätigkeit, nicht möglich war, innerhalb
von drei Jahren alle Gemeinden, Konferenzen und Bezirkssynoden zu besuchen. Es
wurde deshalb damals beschlossen, dass die vorgeschriebenen Visitationen
innerhalb von sechs Jahren zu geschehen hätten.
Da es
Wyneken unmöglich war, bei seinen vielen Präsidialgeschäften auch noch als
Pastor der Dreieinigkeitsgemeinde in St. Louis in irgendwelcher Weise zu
amtieren, zumal er durch Krankheit sehr gelitten hatte, so verleiß er 1859
diese Stadt und zog mit den Seinen nach dem lieben Adams County, wo er in
Pastor Jäbkers Gemeinde, für den er je zuweilen predigte, den folgenden
Winter verlebte. Im Frühjahr 1860 bezog er dann ein kleines Landgut in der Nähe
von Fort Wayne, das ihm einige wohlhabende Freunde geschenkt hatten, und wohnte
auf demselben bis 1864. Er blieb jedoch nach wie vor Pastor der
Dreieinigkeitsgemeinde in St. Louis; denn Pastor G. Schaller, den
dieselbe 1854 berufen hatte, sollte nur der Vikar Wynekens sein, den sie über
kurz oder lang wiederzuerlangen hoffte.
Als die
Generalversammlung der Synode im Jahr 1863 zu Fort Wayne abgehalten wurde,
wünschte Wyneken sehr, des Präsidiums enthoben zu werden. Die übermäßige
Anstrengung, die vielen Reisen usw. hatten ihn vor der Zeit alt gemacht;er
sehnte sich nach Ruhe und bedurfte ihrer auch. Dennoch ließ er sich durch die
Bitten der Synode bewegen, das wichtige Amt noch ein Jahr zu verwalten. Erst
1864 wurde sein Wunsch erfüllt, indem die Synode wieder Professor Walther
zum Allgemeinen Präses wählte und dessen Funktionen in einer anderen Weise
regelte.
Vierzehn
Jahre lang hat also der teure Wyneken das überaus wichtige Amt eines
Synodalpräses verwaltet.
Wie er
selbst sein Amt ansah, das bezeugen nicht nur viele seiner Briefe (namentlich
an die Synodalgemeinden), sondern auch und vornehmlich die Reden und die
Berichte, die er bei Eröffnung der Allgemeinen Synodalversammlungen hielt und
vorlegte. Sie sind und bleiben liebliche und kräftige Zeugnisse von dem
lauteren Sinn, von der herzlichen Liebe, von dem großen Ernst und Eifer, von
der durchweg evangelischen Richtung unseres teuren Wyneken.
Der Segen,
den Gott durch ihn, solange er Präses war, der ganzen großen Synode hat
zufließen lassen, ist in dieser Kürze nicht zu erkennen, viel weniger zu
schreiben. Dass die Missouri-Synode die evangelische Richtung eingeschlagen
hat, die sie jetzt vor vielen anderen kirchlichen Körperschaften so vorteilhaft
auszeichnet6, das hat sie in einem
ganz bedeutenden Maße ihm zu verdanken. Bei Synoden und Konferenzen, auf
Studierstuben und in Gemeindeversammlungen hatte er hundertfältige Gelegenheit,
vor gesetzlichem Wesen zu warnen, evangelische Praxis zu zeigen und auf sie zu
dringen. Wie oft ist er als ein Zeuge Gottes bei Synodalversammlungen
aufgetreten und hat mit wenigen, oft derben, aber stets kräftigen und wirksamen
Worten das rechte Ziel, den rechten Weg gezeigt! Der Herr hatte auch ihn als
sein Werkzeug in diese zahlreichen Konzilien gestellt, um das Wort laut und
deutlich erschallen zu lassen, – um der amerikanischen Kirche das ewige Licht
seines Wortes hell und klar wiederzugeben!
Und viel
öfter noch als auf Synoden hat er in Gemeindeversammlungen tapfer gegen die
Sünde, gegen den Geiz, das Saufen, die Selbstgerechtigkeit gezeugt, – die
Wahrheit bekannt und verteidigt, – der Gesetzestreiberei einen Todesstoß
gegeben, – die evangelische Freiheit gezeigt, gepriesen und ihr zum Siege
geholfen, – die Mutlosen ermuntert, die Traurigen getröstet und – die großen
Heiligen zu Boden geworfen. Mit großer, sehr großer Geduld konnte er den
Schwachen, den Unwissenden, den Gefallenen helfen und sie zurecht bringen; da
scheute er weder Zeit noch Mühe, weder Hitze noch Frost. Mit gewaltigem Ernst
aber trat er den Klugen, den Hoffärtigen, den Selbstgerechten, allen
mutwilligen Sündern entgegen. Dabei kannte er kein Ansehen der Person. Ob
jemand reich oder arm, von der Welt geehrt oder verachtet war, das war ihm
alles gleich; jeder bekam die Wahrheit zu hören, die ihm zur Zeit, nach
Wynekens Überzeugung und bei seinem großen Scharfblicke, am heilsamsten und
nötigsten war.
Ganz so
hielt er es auch mit den Pastoren und Schullehrern. Gern erkannte er Fleiß,
redliches Streben, gelungene schwache Versuche an, – bereitwilligst
entschuldigte er, was aus Schwachheit gefehlt war; aber er strafte auch
ernstlich alle falsche Gesetztreiberei in den Predigten, alles unevangelische
Wesen in der Gemeinderegierung, in der Sammlung von irgendwelchen Geldbeiträgen
usw. Den Pastoren, welche nicht fleißig studierten, die Gemeinden
tyrannisierten, sich der Welt gleich stellten usw., war er ein scharfer, ein
unwillkommener Präses; aber den Betrübten ein Tröster, den Verzagten eine
Stütze, den Angefochtenen ein Berater. Ihm waren fast alle Pastoren und Lehrer,
die in jener Zeit zur Synode gehörten, durch seine Visitationen bekannt; er war
in ihren Häusern gewesen, hatte ihre Familien kennen gelernt; er kannte ihre
Freuden und Leiden, ihre Kämpfe, Niederlagen und Siege. Bei allen (wohl nur
ganz wenige ausgenommen) war er als ein Vater willkommen; wo sie mit ihm
zusammentrafen, war auf beiden Seiten herzliche, innige Freude. Wahrlich, eine
solche, auf rechten Glauben und wahre Liebe gegründete Verbindung, wie sie
zwischen Wyneken und den Synodalen bestand, ist nach der Apostelzeit nur im
Zeitalter der Reformation auf Erden gewesen! Das sage ich nicht, um irgendeinen
Menschen, auch Wyneken nicht, ungebührlich zu ehren; das sage ich dem großen
Gott zu Ehren, der uns den teuren Mann gegeben und uns durch ihn so reichlich
gesegnet hat.
Und auch
die allermeisten Gemeinden, die Wyneken als Präses besucht hatte, gedachten
seiner in größter Liebe und Hochachtung. Freilich hat man ihn an einigen Orten
nicht gern gesehen, weil er die Zustände, die er fand, mit rechtem Namen nannte
und Übelstände, wenn es not war, schonungslos aufdeckte. Im allgemeinen aber
war er überall willkommen, weil auch der wenig Geförderte, der noch
Erkenntnisarme, der Bedenkliche, der Misstrauische bald erkennen musste, dass
der Mann es gut meinte, nur den wahren Nutzen, das ewige Heil der Gemeinde
wollte, – dass er nicht herrschen, sondern nur dienen wollte.
Besonders
waren es die Alten, die sich bald in brüderlicher Liebe zu ihm hingezogen
fühlten und die mit Vergnügen vom „alten Präses“ erzählten, der „plattdeutsch“
mit ihnen geredet, sie auf die Schulter geklopft, bei der Hand ergriffen und
ihnen dann gehörig die Wahrheit gesagt, sie mit lachendem Munde gescholten und
ihnen einen Stachel ins Gewissen geschoben hat. – Solange Leute lebten, die den
„alten Präses“ in ihren Gemeindeversammlungen und auf ihren Kanzeln gesehen
hatten, sagte man auch von ihm: Er war ein würdiger Knecht des großen Gottes
und ein treuer Diener seiner Synode.
An allen
Kämpfen der letzteren hat er redlich teilgenommen. Er war, nach der Art der
Gaben, die ihm Gott verliehen, immer unter den Vordersten im Kriege des Herrn.
Er hat auch nach außen hin den Namen seines Heilandes treu und tapfer bekannt
und willig die Schmach getragen, die um deswillen auf ihn fiel.
Im Jahr
1851 reiste er mit Prof. Walther nach Deutschland. Beide sollten als
Delegaten der Synode es versuchen, den bisherigen Freund und Wohltäter
derselben, Herrn Pfarrer W. Löhe, von seinen romanisierenden und
judaisierenden Irrtümern abzubringen und für die volle evangelische Wahrheit zu
gewinnen. Löhe ließ zwar damals eine Prachtnummer seiner „Kirchlichen
Mitteilungen“ „Zum Gedächtnis der Anwesenheit der ehrwürdigen Brüder Walther
und Wyneken in Deutschland“ erscheinen, und gab in derselben auch
anscheinend der Hoffnung Raum, dass die frühere Einigkeit wiederhergestellt
werden würde; aber im Grunde blieb der Riss ungeheilt, trotz aller Arbeit und
Mühe, die beide Delegaten anwendeten.
Nachdem
beide zurückgekehrt waren, kam zu dem alten Streit mit Grabau, der immer
heftiger entbrannte, noch der mit den Iowaern7.
Durch mündliches und schriftliches Zeugnis hat Wyneken die göttliche Wahrheit
mannhaft verteidigt, seine Mitstreiter gestärkt und an seinem Teile die
Widersacher überwinden helfen. Er war auch in der Hinsicht ein rechter
Synodalpräses.
Wie er
zuweilen bei Synodalversammlungen aufgetreten, bei Konferenzen und Visitationen
mit den Leuten umgegangen ist, was er da erlebt, gelitten, gesagt hat, das
veranschaulichen am besten einige Andekdoten aus jener Zeit.
So
ziemlich zu Anfang seiner Präsidialzeit visitierte Wyneken eine weit im Westen
gelegene Gemeinde. Die Versammlung währte bis nachts zwölf Uhr. Die Leute
redeten sehr heftig, es ging fast tumultarisch zu, und vergeblich bemühte sich
Wyneken, den Streit zu schlichten. Ohne eine Versöhnung zustande gebracht zu
haben, musste endlich die Versammlung vertagt werden. Während der Pastor der
Gemeinde, als der zuletzt Herausgehende, die Lichter in der Kirche auslöschte,
stand der Präses in der dunklen Vorhalle. Da hört er, wie einige der heftigsten
Gegner, meist junge Männer, auf der anderen Seite der Straße gewaltig über ihn
räsonnieren und davon reden, ihn durchprügeln zu wollen. Ohne sich weiter zu
besinnen, tritt Wyneken plötzlich vor sie und sagt: „Jungens, ick will ju
mal wat seggen: Ick fürchte mi vor den Düvel nich, un ji meent, dat ick mi vor
ju fürchten scholl! Ji sin ja ganz erbärmliche Kerls“ usw. Er hält ihnen
eine derbe Strafpredigt und geht dann ruhig hinweg. Verdutzt schauen die Männer
einander an; sie hatten Respekt vor dem plattdeutschen Präses bekommen und
bewiesen diesese in der Nächsten Versammlung damit, dass sie sich ruhig fügten.
Einer von ihnen wurde später ein wackeres Mitglied der Gemeinde.
Im Jahr 1860
oder 1861 war er in K., um in den folgenden Tagen einen Versuch zu machen, den
Beichtstreit in F. beizulegen. Auf dem Hofe eines Gemeindegliedes ging er mit
Pastor J. auf und ab, die traurigen Vorgänge in der Gemeinde erwägend. Dabei
schnitzte er mit seinem Messer an einem Stückchen Holz. B., ein
Hauptbeichtstreiter, mit dem kurz zuvor schon gehandelt worden war, lief ihm
hier nach und schrie: „Pastor J. hat falsche Lehre von der Privatbeichte
geführt!“ Wyneken ging, ohne sein Schnitzen zu unterbrechen, ruhig weiter und
sagte nur: „Sie lügen!“ B. wurde darüber noch eifriger und schrie
erbittert: „Pastor J. hat dennoch von der Privatbeichte falsch gelehrt!“
Wyneken wiederholte ruhig und kurz: „Sie lügen!“ Der hochmütige B. wurde
nun zornig und polterte: „Ich glaube, sie fürchten sich vor mir, denn Sie
bleiben nicht einmal stehen!“ Da drehte sich Wyneken, elastisch wie ein
Jüngling, rasch um und sagte nachdrucksvoll: „Hören Sie, B., ich fürchte
mich vor dem Teufel nicht; viel weniger vor seinen Schuppen!“ Der eben noch
so mutige B. erschrak und zog sich eilig zurück.
Als nun
die Verhandlungen in F. beginnen sollten, hatte Wyneken selbst eine solche
Angst, dass ihm sein Herz laut pochte. Im Begriff, zur Kirche zu gehen, sagte
er zu Pastor J.: „Nehmen Sie Luthers Büchlein von der Beichte, sowie Feder und
Tinte mit. Ich werde Ihnen zunächst drei Fragen diktieren. Diese lege ich dann
den Leuten vor, und daran sollen sich die Kerle entweder das Leben holen
oder den Tod fressen!“ – Nachdem die Gemeindeversammlung eröffnet war,
legte sich Wynekens Angst und er war wieder der unerschrockene Held. Er
diktierte die drei Fragen und begehrte nun Antwort auf die erste derselben: ‚ob
Luther recht von der Beichte gelehrt habe?’ Die Widersacher der
Privatbeichte merkten bald, wo das hinaus wollte, und der obenerwähnte B. rief
grimmig: „Leute, der Fuchs will uns fangen.“ Aber nun verlas Wyneken Luthers
Lob der Privatbeichte und hielt dann eine solche Herz und Mark durchdringende
Rede, dass alle Widersacher hinaus liefen und für immer draußen blieben. Der
Friede war nun hergestellt.
Im Jahr
1863 war eine Pastoralkonferenz in Kirchhayn, Wisconsin, versammelt, an der
auch Dr. S. und mehrere norwegische Brüder teilnahmen. Präses Wyneken hatte
gleichfalls sein Kommen in Aussicht gestellt; aber am Abend vor Beginn der
Verhandlungen fehlte er noch. Es dunkelte bereits, und schon meinten die
Versammelten, sie würden dieses Mal die Freude nicht haben, den vielgeliebten
Präses in ihrer Mitte zu sehen. Da klopft’s auf einmal ans Fenster und eine
Stimme ruft: „Ist noch Platz im Camp?“ Alle erkannten die Stimme sofort,
sprangen auf und riefen: „Unser Präses ist da!“ Mit einem „Hurra, da seid
ihr ja!“ trat er ein und ward mit Jubel begrüßt.
Bei einer
Visitation lief ihm ein aufgeblasener Mensch nach und rief: „Herr Präses, ich
bin auch einer von denen, die in Deutschland so wider die Union gekämpft
haben!“ Wyneken drehte sich um und sagte ruhig: „Wollte Gott, Sie hätten
recht wider Ihren alten Adam gekämpft!“ Der tapfere Unionsbekämpfer zog mit
einem langen Gesicht ab.
In einer
Gemeinde hatte er sehr über den Geiz der Leute zu klagen. Wie sie sagten, so
hatten sie kein Geld, um für Arme etwas aufzubringen, für allgemeine kirchliche
Zwecke beisteuern zu können; sie konnten nur kleine Kollekten aufbringen und
mussten sich damit trösten, dass der Herr auch das Scherflein der Witwe
angesehen hatte. Wyneken kannte sie aber. Um sie zu beschämen, sagte er: „Nu,
dann lasst’s beim Cent! Gebt meinetwegen einen halben Cent; und wenn ihr halbe
Cente nicht habt, so können ja immer zwei in Kompagnie einen ganzen Cent
geben!“
Bei einer
anderen Visitation waren in einer alten Gemeinde mancherlei Streitigkeiten zu
untersuchen, die zwischen einzelnen Gliedern und Parteien in derselben schon
längere Zeit Unheil gestiftet hatten. Es stellte sich je länger desto mehr
heraus, dass es nur erbärmliche Lumpereien waren, über welche die Brüder
miteinander haderten. Wyneken sagte ihnen, dass es läppisch und kindisch sei,
nur überhaupt über solche Dinge zu streiten; noch läppischer und kindischer
aber, sie gar vor den Präses zu bringen. Er ermahnte sie, die Sachen zu
begraben und sich zu vertragen. Aber, o weh! Da waren die Leute beleidigt;
jeder wollte „sein Recht“ haben und „die Sünde des Nächsten“ bestraft wissen.
Eine schreckliche Selbstgerechtigkeit offenbarte sich immer deutlicher. Da
sagte Wyneken endlich entrüstet: „Ich wollte, ihr großen Heiligen tätet
einmal eine rechtschaffen große Sünde, damit ihr lerntet, was eigentlich Sünde
ist; so aber ersauft ihr in eurer großen Frömmigkeit!“
Bei einer
Visitation in H.C., Ohio, begleitete ihn L. aus C. Nach vollendetem
Gottesdienst wurde die Predigt rezensiert, wobei alle Beteiligten im Grase
lagen und sich die Sonne, die lange versteckt gewesen war, auf den Rücken
scheinen ließen. L. meinte dann, das Gesetz sei doch wohl ein bißchen zu
scharf gepredigt worden. „Ei, beileibe nicht!“ rief Wyneken aus. „Nein,
nein; das Gesetz kann man gar nicht scharf genug predigen! Ja, nur recht
scharf, damit die Leute aufwachen und aus ihrer Sicherheit herauskommen! Aber
freilich, danach muss man auch allen Fleiß anwenden, das Evangelium recht voll,
lieblich und freundlich zu predigen, damit die Sünder einen Mut fassen und
sich, wie sie sind, in Gottes Gnadenarme werfen!“
Auch die
Schulen visitierte er sorgfältig. Gern lauschte er auf den Gesang der Kinder;
und sangen sie ein Lied nach seinem Gefallen, so bat er auch wohl, es zu
wiederholen. So tat er einst in der Schule des Pastors Str. Die Kinder hatten
fein und andächtig gesungen: „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“
usw. Er begehrte das herrliche Lied noch einmal zu hören; mit Freuden wurde
seine Bitte erfüllt.
Öfters
hatte er Ursache, mit der Schulzucht nicht zufrieden zu sein. Alle
Unordnung, alles liederliche, leichtfertige Wesen war ihm verhasst; dagegen
liebte er Pünktlichkeit, Ordnung und stramme Disziplin. – Noch mehr aber
verlangte er Barmherzigkeit gegen die Kinder von den Lehrern. Er sagte wohl,
auf seine reiche Erfahrung gestützt: „Mir ist selten ein barmherziger
Schulmeister vorgekommen!“ Dabei klagte er aber auch sich selbst an und
bedauerte, dass es ihm so sehr an der barmherzigen Geduld und tragenden Liebe
fehle. –
War die
Visitation vorüber, so konnte er den Gemeinden und Pastoren die ungeschminkte
Wahrheit sagen, ohne dadurch zu verletzen. So erzählte zum Beispiel Pastor I.
folgendes von ihm: „Als Wyneken die erste Visitation bei mir hielt, war ich
noch ein junger Prediger. Nachdem Gottesdienst und Gemeindeversammlung vorüber
waren, nahm er mich beim Arm und sagte: ‚Jetzt wollen wir ein wenig in den
Busch gehen.’ Dort angelangt, setzte er sich auf einen am Boden liegenden
Baumstamm, legte dann die Hand auf mein Bein und sagte: ‚Mein lieber I.,
jetzt bin ich Präses und hobele Sie; wenn sie einmal Präses sind, dann hobeln Sie
mich.’ Und nun hielt er mir mit väterlichen Worten dieses und jenes
Verkehrte vor und gab mir in solch einer Weise Anleitung, es besser zu machen,
dass ich ihn mit jedem Augenblicke lieber gewinnen musste.“
Bei einer
anderen Visitation sagte er einem jungen Prediger nach dem Gottesdienste: „Mein
lieber L., über die Predigt habe ich mich gefreut; nur der Schluss war
schrecklich! Wissen Sie, wie mir derselbe vorkam? Gerade so, als wenn jemand
den Säuen das beste Futter in den Trog schüttet und sie dann herbeilockt, dass
sie fressen sollen. Sobald sie aber kommen und die Schnauze in den Trog stecken
wollen, haut er mit dem Knüppel über dieselbe, dass sie erschrecken und
schreiend davon laufen. Sehen Sie, man muss den Sündern nicht bloß die
himmlischen Schätze zeigen; man muss sie auch ermutigen, dass sie dieselben
ergreifen und mit nach Hause nehmen!“
Auf der
Synode in I. war viel vom Beisteuern zu kirchlichen Zwecken die Rede. Es wurde
manches gesagt, das so lautete, als könnte und wollte man das Geben der Christen
kontrollieren. Wyneken sprach sich entschieden dagegen aus, wollte jedermann
die Freiheit gelassen wissen, nach eigenem Ermessen zu geben, und schloss
endlich mit den Worten: „In meinen Geldbeutel lasse ich niemand
hineingucken!“
Lehrreich,
ermunternd, tröstlich und behaltenswert sind viele seiner treffenden
Aussprüche, deren er sich auf Synoden und Konferenzen, in Gesellschaften und im
Privatgespräch bediente, und die ungesucht und ungeahnt, ganz ursprünglich, aus
seinem Herzen entquollen.
Einst hatte
er eine recht fröhliche und tröstliche Predigt gehalten. Nach derselben kam S.
und klagte ihm, wie es ihm so schwer falle, das Evangelium recht einfältig zu
glauben. „Ja,“ sagte Wyneken seufzend, „es geht mir gerade so!“ „Wie?“
entgegnete S., „Sie haben ja eben ganz fröhlich gepredigt!“ – „Ei, denken Sie
denn, dass ich das so fest glaube, was ich eben gepredigt habe?“ sagte Wyneken;
und setzte hinzu: „O, wer doch allezeit so recht fest glauben könnte!“ –
So war er sich seiner Schwachheit stets bewusst.
Ein
anderes Mal sagte er traurig: „Ich darf gar nicht mehr zur Beichte gehen.
Ich verspreche immer Besserung; aber es wird nichts daraus.“
Oft
überfiel ihn plötzlich eine große Angst und Betrübnis.
Einmal kam
er nach A., um während der Vakanzzeit eine Predigt zu halten. Lehrer B. holte
ihn vom Bahnhof ab und brachte ihn in Herrn P. Haus, wo die Vakanzprediger ihr
Quartier hatten. Dort saßen sie auf der Bank vor dem Hause und redeten von
diesem und jenem. Als B. dabei gewisse Besorgnisse ausspricht, fängt Wyneken
an, ihn vortrefflich zu trösten. Als er das getan, sagt er unerwartet: „So, nun
trösten Sie mich; ich weiß mir selber nicht zu raten und zu helfen! Sagen
Sie mir wenigstens ein Sprüchlein.“ B., erst etwas überrascht, den Präses
trösten zu sollen, sagt ihm dann: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes,
macht uns rein von aller Sünde.“ Und dann war er wieder beruhigt.
Im Umgange
mit den Leuten ließ er jedoch selten merken, was sein Herz beschwerte; da trat
mehr das Gemütliche, der treffende Witz hervor.
Einst
hatten er und Professor C. Herrn Pastor I. bei Fort Wayne besucht. Auf dem
Rückwege kehrten sie bei dem Farmer Konrad T. ein. Es war um die Erntezeit, und
T. Leute klagten, dass sie mit der vielen Arbeit nimmer fertig werden könnten.
Professor C. tröstete sie damit, dass es ihm geradeso ginge. Da lachte Wyneken
und sagte: „Ja, so geht es euch Bauern und Professoren; ihr wollt eben alles
selbst tun und Gott gar nichts tun lassen!“
Als P.
Lindemann im Oktober 1864 in Fort Wayne Abschied von ihm nahm, sagte er
freundlich: „Nun will ich Ihnen zuguterletzt auch noch einen prächtigen Rat
geben. Wenn Sie nach A. kommen, so werden Sie da viele dicke Steine finden,
vielleicht auf Ihrem Wege. Wenn Sie die nicht heben können, so lassen Sie
sie liegen und gehen Sie hübsch drum ’rum!“ Ein vortrefflicher Rat eines
alten erfahrenen Mannes. Sein Andenken sei uns gesegnet.
W |
ir haben
bisher den lieben Wyneken nur in seiner amtlichen Wirksamkeit, als Missionar,
Pastor und Präses, kennen gelernt; es wird Zeit, dass wir auch einmal in sein
Haus hinein schauen und sehen, was er als „Hausvater“ gewesen.
Am 31.
August 1841 hatte er sich mit der Jungfrau Maria Sophie Wilhelmine Buuck,
der zweitältesten Tochter jenes „Vater Buuck“, der ihn in Adams County zuerst
aufgenommen, verehelicht. Die Trauung vollzog Pastor Knape. Gleich nach
der Hochzeit trat Wyneken seine Reise nach Deutschland an, wohin seine junge
Frau ihn begleitete. Dort wurde ihm auch am 23. Mai 1842 seine älteste Tochter,
Luise, geboren, der dann im Laufe der Jahre noch zwölf Kinder folgten.
Am 15.
Dezember 1844 schenkte ihm Gott zwei Knäblein auf einmal, Martin und Henry.
Nachdem dieses Ereignis bekannt geworden war, kam ein armer Mann in sein Haus,
um ihn wegen des starken Familienzuwachses zu trösten. „Wat schall man maken,“
sagte er treuherzig, „man mot dat Krüz wol drägen. De leeve God ward se ja nich
umkommen laten!“ Wyneken lachte laut auf, als er diesen unerwarteten Trost
bekam. Wahrlich, er bedurfte eines solchen nicht; denn er hielt sich gerade
durch die Geburt dieser Kinder für unermesslich beglückt und reich. Seiner
teuren Mutter schrieb er damals: „Nie war ich glücklicher als heute! Nie
ward ich zu einem Weihnachtsfeste reichlicher beschenkt! Der treue Gott hat mir
zwei gesunde Knäblein beschert, und diesem Ereignis zu ehren lasse ich auch
etwas drauf gehen: Auf meinem Tische brennen zwei Talglichte!“
Mit
innigster Liebe hing Vater Wyneken an all seinen Kindern. Sie waren sein
Reichtum und seine Freude. Er sah in ihnen lautredende Beweise der Vatergüte
seines Gottes, und mit großem Ernst und Fleiß suchte er sie auch zur Ehre
desselben zu erziehen. Die moderne läppische Süßtuerei mit den Kindern hasste
er; aber er war stets freundlich und gütig gegen sie. Gern machte er ihnen eine
kleine Freude, scherzte und spielte auch mit ihnen, solange sie klein waren.
Ein Schaukelpferd, von Herrn Bosse gefertigt, stand den Knaben nebst
anderen Spielgeräten zu Diensten, und jede Christbescherung wenigstens
vermehrte dieselben.
Als zu
Weihnachten 1848 ein Hausfreund seinen Kindern einen „Christgarten“ mit einer
„Krippe“, mit den Hirten im Felde und den drei Weisen gemalt und aufgestellt
hatte, freute er sich selbst ganz kindlich darüber. Er erklärte den Kleinen die
einzelnen Figuren, erzählte die Weihnachts- und Epiphaniasgeschichte und war
mit ihnen fröhlich wie ein Kind am Christfest. Als nachmittags englisch redende
Besucher kamen und meinten, eine solche Darstellung sei „katholisch“, lachte er
sie aus und sagte: „Mit dem Ding ziehe ich in der Welt umher und lasse es
sehen, wenn ich einmal nicht mehr predigen kann!“
Mit Ernst
und Nachdruck forderte Wyneken Gehorsam von den Kindern, namentlich auch
Gehorsam gegen die Mutter; er litt keinen Widerspruch und strafte auch mit der
Rute, wenn der alte Adam auf Anerkennung und Berücksichtigung pochte. War aber
der Zweck erreicht, dann war auch der Papa wieder gut, und er hielt sich nun
umso freundlicher gegen das gestrafte Kind, damit es ihm im Herzen nicht etwa
entfremdet würde.
Ein
treuer, liebevoller Vater war Wyneken allezeit gegen seine Kinder, wie er denn
auch stets gegen seine Frau ein überaus herzlicher Mann war. Die Ehe dieser
beiden Leute war in mehr als einer Hinsicht eine sehr glückliche. Man wusste
oft nicht, was sich in ihrem gegenseitigen Verhalten am meisten geltend machte,
die Liebe oder die Hochachtung. Gewiss war beides in hohem Maße vorhanden, und
das eheliche Glück, welches der teure Mann genoss, trug viel dazu bei, dass er
bei steten Anfechtungen, großen innerlichen Kämpfen und vielem äußerlichen
Streit immer heiter blieb. Er bekannte das auch zuzeiten, dass er Gott nicht
genug für die Gehilfin danken könne, die er ihm beschert. Gern scherzte er mit
seiner Gemahlin; oft hörte man ihn in guter Laune sagen: „Weib, dein Name ist
Widerspruch“; aber nie hat man ihn albern und tändelnd oder hart und unzart
gesehen. Er war auch in der Familienstube ein Charakter, seinen Hausgenossen
und der Gemeinde ein Vorbild.
Alle
Morgen hielt er mit den Seinen Hausgottesdienst. Erst wurde ein Lied
gesungen, wozu in Baltimore eine Anzahl der kleinen Raumerschen Gesangbücher im
Familienzimmer bereit lagen. Dann las er einen Abschnitt aus der Heiligen
Schrift, und nun knieten alle nieder, um Gott zu danken, um Fürbitte für Kirche
und Staat, für Synode und Gemeinde, für Arme, Kranke usw. zu tun. Er sprach
damals das Gebet frei aus dem Herzen; aber es war einfältig und kräftig.
Wyneken war überhaupt ein ernster Beter, der seine Gemeinde, die Kirche, die
Obrigkeit auf betendem Herzen trug und aus Erfahrung den Gott kannte, der
Gebete erhört.
Bei Tisch
betete er vor und nach dem Essen; aber das Verlesen eines Schriftabschnittes
nach der Mahlzeit begann er erst später.
Im Essen
und Trinken war Wyneken sehr einfach und mäßig. Stets waren die sorgfältig
bereiteten Speisen in hinreichender Menge vorhanden, um alle Tischgenossen zu
sättigen; aber Leckerbissen gab es nicht. Als Getränk gab es jahraus, jahrein
nur Wasser. Erst nachdem er Synodalpräses geworden war und als solcher
mancherlei Gäste zu beherbergen hatte, wurde sein Tisch öfter etwas
reichhaltiger besetzt, und es kam auch wohl eine Flasche Wein auf denselben. In
den letzten Jahren seines Lebens bedurfte er des Weins zu nötiger Stärkung;
aber stets begnügte er sich mit kleinen Mengen. Er war kein Antialkoholiker, aber
im Genuss geistiger Getränke hielt er sich sehr mäßig und vorsichtig. Nie
bemerkte man bei ihm die geringste unordentliche Wirkung des Weins; und er trat
entschieden auch öffentlich auf gegen den Besuch öffentlicher Trinklokale
seitens der Pastoren und Lehrer.
Außer der
Familie waren in Baltimore eine Zeitlang regelmäßige Kostgänger am Tisch. Der
eine derselben war seit 1847 Pastor A. Hoyer. Er missionierte in
Maryland, hatte einige kleine Gemeinden gesammelt und gab sich viele Mühe,
dieselben zu bedienen. Seine Station hatte er damals bei Wyneken, und auch
später noch, als er bereits in Catonsville eine eigene
Junggesellenwirtschaft begründet hatte und „sich selbst kochte und speiste“,
sprach er sehr häufig vor. – Der andere Kostgänger war der Schullehrer L. in
den Jahren 1848 und 1849. Beide bewohnten ein Dachzimmer miteinander, benutzten
ein Bett und freuten sich königlich, dass sie mit Wyneken unter einem Dach
leben durften.
Über dem
Essen wurde meistens von göttlichen Dingen oder geschichtlichen Ereignissen
geredet; gewöhnliche Stadt- und Straßenneuigkeiten fanden keine Beachtung.
Hoyer war
vielfach nur zum Essen da; dann gab’s aber desto mehr zu erzählen, und bei
Tisch wurden Reisepläne, Missionserfolge, Abenteuer usw. bunt durcheinander zum
Besten gegeben. Auch viel Sprachliches wurde verhandelt; denn Hoyer studierte
mit Eifer das Englische und hatte immer tausend Fragen über Ableitung und
Bedeutung der Wörter, wie über deren Ähnlichkeit mit gutem Plattdeutsch.
Einmal
erzählte Wyneken mittags, wie roh und grob ein Prediger in Amerika oft
behandelt werde, und zwar nicht bloß von Einzelnen und auf der Straße, sondern
selbst in Gemeindeversammlungen. L. war darüber empört und äußerte in
jugendlichem Eifer: „Ei, dem muss man doch steuern und wehren können! Das muss
anders werden!“ Da lachte er und sagte: „Ja, als ich so alt war, wie Sie jetzt
sind, da dachte ich, ich könnte in das Weltrad hineingreifen und ihm eine
Richtung nach meinem Wunsche geben; jetzt lasse ich es schnurren, wie es will; und
Sie werden das auch lernen müssen!“
War nun
schon für gewöhnlich das Leben in Wynekens Hause äußerst angenehm und der
tägliche Umgang mit ihm anregend, fördernd, interessant, so war dieses noch
viel mehr der Fall, wenn „Fremde“ hinzukamen, die fast ständig ab- und
zugingen. Und nicht allein Lutheraner kamen, sondern auch Reformierte, der
Episkopalkirche Angehörige und noch andere. Obwohl Besucher dieser Art Wynekens
kirchliche Stellung und seine lutherische Entschiedenheit gar wohl kannten, so
wollten sie doch entweder den wackeren Zeugen Christi einmal sehen und
sprechen, oder sie kamen wieder, weil seine herzliche Freundlichkeit, sein
offenes, männliches Wesen ihnen Liebe und Hochachtung abgenötigt hatte. Auch
Leute, die der Kirche noch ferne standen, besuchten ihn, und keiner derselben
ging wieder fort, ohne von ihm ein ernstes Wort gehört zu haben.
Zu den
vorsprechenden „Fremden“, die wohl der Kirche dienten, aber doch Wynekens
Überzeugung nicht teilten, gehörte z.B. Dr. Schaff aus Mercersburg,
Pennsylvania, Past. Fliedner aus Kaiserswerth in Deutschland, Prof. Fisk,
der an einer amerikanischen Anstalt wirkte, aber Griechenland durchforscht
hatte und das, was er gesehen, prächtig schildern konnte. – Der in Baltimore
angestellte Judenmissionar Neuhaus sprach öfter vor; ebenso Dr.
Morris, Pastor der englisch-lutherischen Gemeinde. Die übrigen Herren in
Baltimore aus dem Lager der Generalsynode scheuten den ernsten Bekenner der
Wahrheit und suchten seine Nähe nicht.
Mit
Professor Biewend aus Washington, District of Columbia, wurde ein
freundschaftlicher Verkehr mit Fleiß gepflegt; wenigstens einmal des Jahres war
die ganze Familie anwesend, und Vater Wyneken konnte dann auch nach Herzenslust
wieder einmal von dem Französischen Gebrauch machen, das er sehr geläufig sprach.
Zusammenfassend:
Wynekens Haus war ein sehr offenes, und er in demselben ein sehr zuvorkommender
Wirt, der von seiner Armut gerne gab und das Geringe, was er zu bieten hatte,
in solcher Weise präsentierte, dass man es gerne annahm, mit Vergnügen zulangte
und sich bald ganz heimisch fühlte.
Mit allen,
die sein Haus betraten, auch mit redlichen Gegnern, verkehrte Wyneken sehr
frank und frei, wie auch sehr liebenswürdig. Keineswegs wurden stets
theologische Dinge besprochen, man kam von einem Gebiete auf das andere, jeder
gab zum Besten, was ihn bewegte; Wyneken selbst trug stets das meiste zur
angenehmen Unterhaltung bei. Mehr noch als seine Studien hatten seine Reisen in
Euorpa und Amerika und seine mannigfachen Erlebnisse ihn geschickt gemacht,
stets Altes und Neues in lieblicher, anziehender Weise mitzuteilen. Und wie er
selbst einen feinen, treffenden Witz besaß und davon Gebrauch machte, so sah er
es auch gern, wenn seine Gäste heiter waren, ihren Witz sprudeln ließen und
ihre neckische Laune an ihm selbst erprobten.
Gern
erinnerte Wyneken sich an seine Jugendzeit. Von der (damals noch lebenden und)
noch immer innig geliebten und hochverehrten Mutter, von ihrem strengen
Hausregiment, von dem großen Respekt, den „wir Jungens“ vor ihr hatten, redete
er mit innigem Vergnügen. Auch von den Brüdern, ihren Studien und
Kriegsdiensten, und von den Schwestern, wie sie z.B. in Gegenwart fremder
Offiziere arbeiten mussten, wusste er gar manches in unterhaltendster Weise zu
erzählen.
Dann
wusste er auch aus seinen Studenten- und Kandidatenjahren gar vieles zum Besten
zu geben. So z.B., wie er seine erste Predigt gehalten habe. Nachdem er sie
wochenlang dem Gedächtnis eingeprägt hatte und sie fast ebenso gut rückwärts
wie vorwärts hersagen konnte, sollte er sie endlich in einer kleinen Dorfkirche
auch halten. Zitternd betritt er die Kanzel und wird sofort inne, dass er
unmöglich von seinem Konzept Gebrauch machen könne, denn die Emporkirchen
reichten fast bis dicht an die Kanzel heran, und die Bauern können ihm nicht
bloß ins Buch gucken, nein, sie können ihm das Konzept wegnehmen. Zagend
beginnt er. Jetzt kommt ein Bibelspruch; da – was ist das? – die ganze Gemeinde
fällt ein und sagt den Spruch mit her. Er hat das noch nie gehört; es
überrascht ihn; aber er weiß, wo er fortzufahren hat. Er predigt weiter, bis
wieder ein Spruch kommt; wieder fällt die ganze Gemeinde ein; aber es ist ihm
nun schon nicht mehr so störend; - und kommt endlich glücklich zu Ende und –
hat von da an Mut und Freudigkeit, öffentlich aufzutreten.
Auch seine
Reise nach Frankreich und Italien – den ersten Anblick der Alpen, des
Meerbusens von Genua – den Aufenthalt in Nizza und vieles andere, damit
zusammenhängende, wusste er lebhaft zu schildern.
Noch
interessanter aber waren die Mitteilungen aus seinem Missionsleben und seinen
Erfahrungen im Westen. Für alles hatte er Augen gehabt; auch scheinbar geringe
Dinge waren ihm wichtig genug gewesen, sie zu beachten und zu behalten; darum
konnte er nun anziehend und lebhaft erzählen. Vom Wild des Waldes, - von den
vielen Putern, die er beim Reiten fast totgetreten, - von den Wölfen, die ihm
nachgeheult und im Winter das Haus umschnobert hatten, oder wohl gar aufs Dach
gestiegen waren, - von Panthern, die einen jungen Mann aus seiner Gemeinde fast
erhascht hätten, - von Jagdabenteuern, von wunderbaren Errettungen (wie z.B.
eine Frau mit ihren Kindern eingeschneit und dem Verhungern nahe war, und wie
ganz unerwartet ein Jäger einen halben Hirsch vor die Tür warf), - von den
Indianern und ihrer die Schweine zeichnenden Königin, - von einsamen und armen,
aber auch von ungeschickten und dünkelhaften Ansiedlern und von tausend andern
Dingen wusste Vater Wyneken aufs Anziehendste die Seinen zu unterhalten; aber
immer geschah es so, dass es eine Beziehung auf Gott oder auf die Gründung und
Ausbreitung der Kirche hatte.
Mit
innigstem Ergötzen gedachte er der früheren Entbehrungen, seiner Armut, seinen
Reisen bei Tag und Nacht, seines Verirrtseins im Walde, seiner Aufnahme in den
Blockhütten usw. Eine wahre Seelenfreude aber leuchtete aus seinen Augen, wenn
er erzählte, wie damals so viele Leute das Wort Gottes mit großer Begier
aufgenommen; wie sie bis in die Nacht hinein von Gottes Wort miteinander
geredet hätten; wie selbst die Frauen oft bei den schlechtesten Wegen viele
Meilen weit zu Fuß gekommen wären, um die Predigt zu hören; wie die Leute weder
Sturm noch Wetter gescheut hätte, um mit ihm zusammen zu treffen. „O, das war
eine schöne Zeit!“ rief er dann vergnügt aus.
Bei allem
Erzählen, ja selbst bei allem Scherzen fühlte man immer durch: Das ist ein
tiefernster Mensch, der in Gott Frieden hat.
Wie
Wyneken das Wort Gottes: „Ein Bischof soll gastfrei sein“ (1. Tim. 3,2)
wohl beherzigte und übte, so tat er es auch mit dem: „Wohlzutun und
mitzuteilen vergesset nicht; denn solche Opfer gefallen Gott wohl“ (Hebr.
13,16). Das Geben war ihm in Wahrheit ein Vergnügen; er war mit dieser Tugend
in ganz vorzüglichem Maße geschmückt, und er übte sie nicht bloß eine Zeitlang,
sondern von seinem ersten Auftritt in Amerika an bis in sein Alter hinein. Er
gab sich selber arm, um anderen zu helfen. Die Folge war natürlich, dass er nie
Geld hatte und dass seiner Haushaltung – nach menschlichem Urteil – vieles
entging. Aus diesem Grunde reden wir hier davon; sonst hätte es wohl
schon früher geschehen können.
Wie er es
mit dem Geben und Wohltun hielt, das zeigen am besten einige Beispiele.
Wenn ihm,
als er noch in Indiana lebte, die Leute in den umliegenden Siedlungen etwas
aufgenötigt hatten, Geld oder Lebensmittel, so brachte er dies selten heim;
entweder gab er es unterwegs irgendeinem Bedürftigen, der ihn um eine milde
Gabe ansprach, oder er schenkte es armen Leuten, die am Wege wohnten.
Einmal,
als er noch bei Herrn Heinrich Rudisill sein Absteigequartier hatte, kam
er – in Strümpfen angeritten; seine Stiefel hatte er unterwegs einem
armen Mann gegeben, der ihm in zerrissenen Schuhen begegnet war und ihn um ein
Almosen gebeten hatte.
Ein
andermal hatte ihm der Schwiegervater Geld gegeben, sich ein Paar Stiefel zu
kaufen, denn die seinigen waren nicht mehr wasserdicht. Er ging auch, um dieses
zu tun; aber er kam wieder heim ohne Stiefel und ohne Geld. Unterwegs hatte er
arme Leute getroffen, die das Geld nötiger hatten als er.
Von einem
sehr mitleidigen und freigebigen Menschen pflegt man wohl zu sagen: Der gibt
das Hemd vom Leibe her, wenn’s sein muss. Das hat Wyneken buchstäblich in
folgender Weise getan.
Er trat
einst in ein einsam stehendes Haus, in welchem etlicher Männer damit
beschäftigt waren, einen soeben Verstorbenen auszulegen. Den Toten hatte
Wyneken in seiner letzten Krankheit einige Male besucht. Dieser bemerkte jetzt,
wie die Männer etwas suchten, was sie aber nirgends finden konnten, weil es
nicht da war, nämlich ein reines Oberhemd. Sobald Wyneken es inne ward, sagte
er: „Wartet einige Augenblicke; ich weiß, wo eins ist.“ Er trat in den
Holzstall hinaus, und als er nach kurzer Zeit wieder hereinkam, übergab er den
Leuten – ein feines Oberhemd. Sein Rock aber war bis an den Hals zugeknöpft.
Auf seine
Kleidung achtete Wyneken, solange er Missionar war, sehr wenig. Selbst sein
bester Anzug war meist fadenscheinig, hie und da geflickt. Der Gemeinde war es
dann doch unangenehm, dass ihr Pastor in so schlechten Kleidern ging.
Namentlich war ihr die gelbe Hose, von der wir schon früher erzählten, sehr
zuwider. Ihm aber gefiel sie, weil sie „unvergänglich“ war, und er trug sie in
der Stadt ebensowohl als auf dem Lande.
Jedermann
wusste, dass Wyneken nie Geld im Hause behielt, dass er deshalb auch keins
haben werde, um sich bessere Kleider zu kaufen. Der Vorsteher Ernst Voß
kollektierte deshalb einmal vierzig Dollar für ihn (eine damals sehr bedeutende
Summe), brachte das Geld mit großer Freude und bat ihn dringend, sich nun auch
einen ordentlichen Anzug machen zu lassen. Während Voß noch da ist,
kommt eine arme Frau zu Wyneken und klagt diesem ihre Not. Sie sagt: Ihr Mann
liege schon lange krank; die Miete sei seit Monaten nicht mehr bezahlt worden;
der Hausherr wolle nicht länger warten; sie hätte weder Geld noch Lebensmittel;
sie und ihre Kinder litten Hunger; kurz, die Not sei sehr groß. Voß hörte das
noch eine Weile mit an, ging aber, als er merkte, dass er bei dieser Szene
überflüssig sei.
Die
Gemeinde hoffte, ihren Pastor nun bald in neuen Kleidern zu sehen; er ging aber
nach wie vor in den alten. Da kommt dem einen und andern die Sache doch
sonderbar vor, und Voß fragt ihn nach einigen Tagen, ob denn die neuen Kleider
noch nicht fertig wären? „Neue Kleider?“ fragt Wyneken zurück. „Was für neue
Kleider? Woher soll ich Geld für neue Kleider nehmen?“ – „Aber,“ entgegnete
jener, sehr unangenehm überrascht, „habe ich Ihnen nicht vierzig Dollar
gebracht, welche nur für diesen Zweck kollektiert waren? Und nun haben Sie kein
Geld mehr?“ – „Ja,“ sagte Wyneken fröhlich, „sehen Sie, das geht ganz natürlich
zu. Haben Sie denn damals die arme Frau nicht gesehen, die mir mit bitteren
Tränen ihre Not klagte? Der habe ich das Geld gegeben, weil sie es nötiger
brauchte als ich. Sehen Sie doch, mein Anzug ist noch gut genug.“ Voß will widersprechen,
aber Wyneken sagt: „Na, machen Sie nur nicht viel Wesens; der liebe Gott kann
mir das Geld doppelt wiedergeben und eine neue Hose dazu, wenn ich’s brauche!“
– „Ja, das sagen Sie wohl,“ entgegnet Voß etwas mutlos. – „So,“ spricht Wyneken
nun, „daran zweifeln Sie? Sie sind mir ein schöner Christ! Wissen Sie nicht,
dass im ersten Artikel steht: Ich glaube, dass mich Gott mit aller Nahrung und
Notdurft des Leibes und Lebens reichlich und täglich versorgt?“ Voß schweigt
zwar; er macht aber ein Gesicht, als wollte er sagen: Gott hatte dich versorgt;
du hast’s weggegeben; nun siehe zu, wie du durchkommst!
Beide
gehen miteinander in die Stadt. Sie sind noch nicht weit gegangen, da ruft der
Postmeister R.: „Wyneken, hier ist ein Brief für dich!“ – „Woher?“ fragt der
überrascht und erfreut; denn Briefe waren damals eine seltenere Erscheinung als
heute. „Aus Deutschland,“ entgegnet jener. Wyneken nimmt den Brief und sieht
gleich an der Adresse, dass er von seinen Verwandten kommt. Er öffnet ihn, und
das erste, was er aus dem Kuvert zieht, ist ein Wechsel für achtzig Taler, die
ihm die Brüder schicken, „damit er im Urwald nicht verhungere“. Er zeigt Voß
den Wechsel und sagt: „Sehen Sie? – Sie ungläubiger Thomas!“
Sie gehen
weiter und kommen an einem Laden vorbei, dessen Eigentümer, der auch fertige
Kleider hält, in der Tür steht. Sobald er Wyneken erblickt, sagt er: „Parrer, i
bitt dich, komm doch mol hier ’rein.“ Wyneken entspricht seinem Wunsche; Voß
geht auch mit. „Sieh,“ sagt nun der Kaufmann, „da hob i a Hos’, di is for en
Mann gemacht, der wohnt in de Contri; es is a Mann just wie du; du tätst mer a
große Gefalle, wenn du se mal anprobiere tätst, eh ich se fortschick; i könnt
dann sage: Se passt em!“
Wyneken
wird ein bißchen ärgerlich und will das nicht tun; als aber der Mann aufs neue
bittet, geht er in den Winkel, zieht die Hose an und tritt ins Licht vor den
Kaufmann. „Well,“ sagt der, „wie gefallt dir selle Hose? Es is a feine Wier;
just so a Hos’ for a Parrer!“ – „Ja,“ spricht Wyneken, „so etwas ist nichts für
mich. Solange ich Pfarrer bin, hab’ ich eine solche Hose nicht gehabt; jetzt
könnt’ ich sie gar nicht brauchen.“ „Well, Parrer,“ entgegnet jener, „die Hos’
is dein; du sollst se behalte; sie is for dich gemacht und – bezahlt!“
Wyneken
sträubt sich, das Geschenk anzunehmen; er geht in den Winkel, um die alte,
bequeme, gelbe wieder anzuziehen; aber die ist – verschwunden; er muss in den
neuen Hosen heimgehen.
„Na, Voß,
was sagen Sie nun?“ sprach er zu diesem, als er ihm zum Abschiede die Hand
reichte. Dem standen die Tränen in den Augen; er drückte seinem frommen Pastor
die Hand und ging.
Oft leerte
Wyneken seiner Frau den Küchenschrank und das Mehlfass aus. Meistens musste er
sich an das letztere halten; denn es war nichts anderes vorhanden, was er hätte
wegschenken können. Seine gute Frau kam dadurch nicht selten in Verlegenheit
und beklagte sich auch wohl darüber. Er aber sagte dann wohl: „Sei nur
getrost. Der liebe Gott ist unendlich reich, der wird schon sorgen, dass du
wieder etwas zu kochen und zu backen hast. Sei unverzagt! Geben ist seliger als
nehmen!“
Einst
hatte ihm seine Frau einen feinen neuen Tuchrock machen lassen. Da ihm aber
sein alter grauer Kittel bequemer saß, so trug er nach wie vor nur diesen, und
der neue Rock hing längere Zeit unbenutzt im Schrank. Als die nächste Reise zur
Synode angetreten werden soll, will die Frau auch den fast noch nicht
gebrauchten Rock in die Reisetasche packen. Sie öffnet den Schrank, aber er ist
nicht zu sehen. Sie sucht ihn überall, doch er zeigt sich nicht. Endlich fragt
sie ihren Mann, wo er den neuen Rock gelassen habe. „Ja, sieh“, sagt er,
„da kam einmal so ein armer Kerl, ein heruntergekommener deutscher Kandidat,
dem passte das Ding vortrefflich und er ging hocherfreut mit ihm fort.“
Selbstverständlich
ist, dass häufig auch elende Betrüger Wynekens Freigiebigkeit ausbeuteten. So
kam in Baltimore einst ein armer Mann zu ihm, welcher vorgab, in Deutschland
wohlhabend gewesen zu sein; es falle ihm zu schwer, die englische Sprache noch
zu erlernen, deshalb wolle er nach der Heimat zurück und bitte um einen kleinen
Beitrag zur Reise. Wyneken gab ihm den letzten halben Dollar, hatte dann
aber das Verngügen, den Amerikamüden noch recht oft in den Straßen zu sehen. –
Nach solchen Erfahrungen pflegte er wohl zu sagen: „Es ist nur gut, dass ich
ihn nicht betrogen habe“, und gab bei nächster Gelegenheit wieder, was er
hatte.
Ähnliche
Geschichten ließen sich aus seinem Leben noch viele erzählen. Immer hatte er
eine offene Hand und war deshalb, wie gesagt, immer arm. Arm war er in Fort
Wayne; doch da hatte er auch nur ein kümmerliches Einkommen. Dieses stieg in
Baltimore auf fünfhundert Dollar jährlich und einige Akzidenzien; aber er blieb
auch hier arm und besaß nur das Notwendigste.
Herr Friedrich
Schmidt, der Herausgeber der „Lutherischen Kirchenzeitung“, hatte ihm
einmal von Pittsburg aus einen Brief geschrieben. Es dauerte lange, ehe er
Antwort erhielt. Als diese endlich kam, enthielt sie auch eine Entschuldigung
Wynekens: Er habe den Brief nicht aus der Post abholen können, weil er die dazu
nötigen fünf Cent nicht gehabt habe. – Als beide einmal bei Freund E. in B. zu
Besuch waren, neckten sie sich ihrer Armut halben. Schmidt sagte: „Ihnen ist
kein Geld nütze; Sie geben es nur weg!“ „Und Sie?“ entgegnete Wyneken, „können
Sie denn einen Dollar aufweisen?“
In St.
Louis blieb Wyneken gleichfalls arm; und in Cleveland, obwohl da sein
Jahrgehalt fast das Doppelte des bisherigen betrug und manche nicht
unbedeutende Geschenke hinzu kamen, war es dasselbe. – Sein Heiland Jesus aber
wird’s ihm vergelten, was er den Armen Gutes getan; dann wird auch er reich
sein. –
Von
sogenannten Vergnügungen, die manche Hausväter, auch wohl Pastoren,
außerhalb ihres Hauses und Amtes suchen, wusste Wyneken nichts. Sein Beruf und
seine Familie bereiteten ihm viel, sehr viel Vergnügen. Selbst die „Sun“ las er
nur, um über die Vorgänge im Lande einigermaßen unterrichtet zu bleiben; ein Vergnügen
war ihm das Zeitungslesen nicht, noch weniger ein Bedürfnis.
Dagegen
besuchte er gern seine Gemeindegliedeer, namentlich die Alten, und verkehrte
aufs brüderlichste mit ihnen. Zuweilen wurden auch Frau und Kinder zu solchen
Familienbesuchen mitgenommen. – Gern brachte er auch einige Stunden auf dem
Lande zu. Bei dem alten Ebert, einem biederen Elsässer, wie auch bei
dessen verheirateten Töchtern, die allesamt dicht vor der Stadt an der Harford
Road wohnten, war er ein stets willkommener Gast. Ebenso bei Becks.
Zuweilen fuhr er auch nach Horns in Franklin, oder zu anderen Leuten,
bei denen er wieder ein bißchen Landleben sehen und genießen konnte.
So lebte
Wyneken als Hausvater! Als solcher tat er nach seiner Lehre, die er als
Pastor öffentlich führte. Er war daheim derselbe gottesfürchtige, gewissenhafte
Mann, der er auf der Kanzel und im ganzen amtlichen Leben war.
E |
s ist noch
übrig, unsern teuren Wyneken in seinen letzten Lebensjahren zu zeichnen.
Absichtlich nenne ich ihnen jetzt einen „Patriarchen“, denn er war ein besonderer
„Greis“, und es macht mir den Eindruck, als drückte der letztere Name das nicht
genug aus, was ich sagen möchte. Wyneken war ein recht „hochwürdiger“
Greis geworden; ich nenne ihn deshalb mit obigem Namen.
Noch ehe
Wyneken sein Präsidentenamt aufgab, wurde er (am 12. Juni 1864) von der Dreieinigkeitsgemeinde
in Cleveland, deren Pfarrer kurz zuvor in einen anderen Wirkungskreis berufen
worden war, als Hirte und Seelsorger gewählt. Er war damals noch Pastor der
gleichnamigen Gemeinde in St. Louis, und diese hatte bis dahin gehofft, dass er
zu ihr zurückkehren würde. Als er sie nun ersuchte, ihn aus ihrem Dienste zu
entlassen, war sie keineswegs sofort geneigt dazu. Sie meinte, die nächsten
Ansprüche an ihn zu haben. Es bedurfte erst wiederholter brieflicher Bitte
seinerseits und mehrfacher Beratung von seiten der Gemeinde, ehe diese ihn im
Frieden entließ. Der Gemeinde in Cleveland hatte er bereits geschrieben, dass
er wohl geneigt sei, zu ihr zu kommen; aber nun erst konnte er bestimmt
erklären, dass er ihre Vokation angenommen habe. Als er deshalb am 29. Oktober
beim Schluss der Synodalsitzungen zu Fort Wayne den Präsidentenstuhl verließ,
war er Pastor der Dreieinigkeitsgemeinde in Cleveland. Am 7. November (25.
Sonntag nach Trinitatis) wurde er durch seinen alten Freund und Kampfgenossen,
Herrn Pastor W. F. Husmann, öffentlich in sein neues Amt eingeführt. Die
Gemeinde, die zwei Monate lang von den benachbarten Predigern bedient worden
war, dankte und lobte Gott, dass sie diesen seinen bewährten Knecht in ihrer
Mitte, auf ihrer Kanzel hatte. Sie kam ihm in der herzlichsten Liebe und mit
dem größten Vertrauen entgegen, so dass er neu Mut fasste, auch ferner mit
Segen wirken zu können.
Wyneken
war damals gebrechlich, matt und fast mutlos. Er hatte schon gefürchtet, ein
Pfarramt gar nicht mehr übernehmen zu können.
Die vielen
anstrengenden Reisen, noch mehr aber mancherlei traurigen Erlebnisse mit
Predigern, Lehrern und Gemeinden, häufige, sehr aufregende
Gemeindeversammlungen und tausenderlei andere, sein Gemüt bedrückende
Erfahrungen, die mit seinem bisherigen Aufsichtsamt notwendig verbunden gewesen
waren, hatten ihn aufgerieben und geistig geknickt.
Hier
erholte er sich jedoch bald zusehends. Die Gemeinde war noch nicht allzu groß;
ihre Glieder wohnten der Mehrzahl nach nicht weit von der Kirche und es
herrschte auch Ordnung und Friede unter ihnen. Dazu war das Klima für ihn sehr
günstig; und, was ihm das Wohnen in Cleveland noch ganz besonders angenehm
machte: Auf der Ostseite der Stadt war sein Neffe, D. H.C. Schwan, seit
1851 Pastor. Dessen erquicklichen Umgang konnte er nun genießen; bei dem konnte
er „seinen heißen Topf hinsetzen“ und hübsch abgekühlt nach der Westseite
zurückwandern.
Wahrlich,
es war dem alten Herrn zu gönnen, dass er, im Vergleich mit seiner bisherigen
Tätigkeit, etwas Ruhe und Bequemlichkeit bekam. Er fühlte sich bald in
Cleveland daheim; sein Gemüt heiterte sich wieder auf, und er versah sein Amt
mit Freuden, anfangs noch allein, und zwar so vollständig, wie es mancher
jüngere Mann nicht getan hätte.
In der
Predigt war er noch lebhaft und kräftig wie in früheren Jahren. Doch stand ihm
jetzt eine Erfahrung zu Diensten, wie sie kaum ein Zweiter besaß. Einem gar
reichen Hausvater gleich, konnte er Altes und Neues zu Nutz seiner Zuhörer
mitteilen. Jeder Satz, den er auf der Kanzel sprach, machte den Eindruck, dass
er aus erprobtem, durchläutertem, erfahrungsreichem Herzen komme. Dabei war er
besorgt, recht einfältig zu reden, damit er ja von jedermann verstanden würde.
Zu Anfang der Predigt war er immer noch von einer gewissen Ängstlichkeit
befangen; war er aber erst warm geworden, dann flossen die Worte wieder frisch
und fröhlich von seinen Lippen. Wie das aber je und je bei ihm der Fall gewesen
war, so bleib es auch jetzt: Er tat wohl nach der Luther’schen Regel: „Tritt
frisch auf; tu’s Maul auf“; aber das dritte, „hör bald auf“, vergaß er häufig.
Er predigte lange, nicht selten allzu lange, und musste dann doch wohl noch
abbrechen, ohne zu Ende gekommen zu sein.
Noch immer
bereitete er sich sorgfältig auf die Predigt vor und benutzte dazu namentlich
die Brenz’sche Postille. Er schrieb die Predigten jetzt in ein Buch und
bewahrte sie auf; doch wage ich nicht zu behaupten, dass sie bis ins einzelne
ausgeführt waren, und noch weniger, dass er sie wörtlich memoriert und
gehalten hätte.
Auch die
übrigen Verrichtungen seines Amtes führte er mit großer Gewissenhaftigkeit und
Sorgfalt aus. Ganz besonders lag ihm die Schule am Herzen. Die Kranken
hatten an ihm einen unermüdlichen, stets trostbringenden Freund und Helfer. Auch
jetzt schlossen sich besonders die Alten an ihn an, und sie verlebten mit ihm,
auch im Privatverkehr, viele selige Stunden. –
Die Kirchenzucht
hielt er ernstlich aufrecht und drang mit großem Eifer auf gute Sitte in der
Gemeinde, auf löblichen Anstand in der Kirche.
Als die
Gemeinde durch Ankunft vieler Einwanderer bald bedeutend zunahm und „Vater
Wyneken“ die zahlreichen Amtsverrichtungen nicht mehr allein ausführen konnte,
berief sie ihm einen Hilfsprediger. Die Wahl traf zunächst Herrn Heinrich
Crämer und, als dieser nach Zanesville berufen wurde, seinen eigenen Sohn Henry,
der bei ihm blieb, bis er zum Professor am Praktischen Predigerseminar berufen
wurde.
Auch auf
bürgerliche Ordnung hielt Wyneken sehr, und das Beste der Stadt lag ihm am
Herzen. Fand er Gelegenheit dazu, so trat er, einerlei wo es sein mochte, für
die Obrigkeit und ihre Verordnungen ein.
Große
Freude verursachte ihm noch die Erhebung Deutschlands. Er war, im guten Sinne
des Wortes, ein Verehrer großer, edler Helden; er lebte in der Geschichte
seines Volkes und hatte ein warmes Herz für das Wohl und Wehe desselben. Seit
vielen Jahren hatte er geklagt, dass es gar keine hervorragenden Männer mehr
gebe, - dass das Geschlecht der alten Recken und Helden längst ausgestorben
sei. Da brachen die Kriege gegen Österreich und Frankreich aus, und es zeigten
sich Männer an der Spitze der Deutschen, die den besten Kämpen alter Zeit
ebenbürtig waren. An Kaiser Wilhelm, an Bismarck, Moltke und Roon hatte Wyneken
seine Freude; es vergnügte ihn innig, die „alten Jungens“ so einig, so
bescheiden und demütig zu sehen. Doch war er weit davon entfernt, ein
politischer Schwärmer zu werden. Die in Deutschland so sehr zunehmende
offenbare Gottlosigkeit ließ ihn nicht dazu kommen, sich großen Hoffnungen betreffs
der Wohlfahrt des neuen Reichs hinzugeben. –
Obwohl
sich Wyneken, seitdem er nach Cleveland gekommen war, von seinen Leiden etwas
erholt hatte, so war und blieb er doch ein „alter gebrochener Mann“, und er
wurde es von Jahr zu Jahr immer mehr. Rheumatismus und Gicht steckten in seinen
Gliedern und plagten ihn sehr; dazu gesellten sich später Atembeschwerden. In
den letzten Jahren legte er beim Predigen die linke Hand auf den Rücken, um das
schwache Kreuz etwas zu stützen; es wurde ihm immer schwerer, sich zu erheben,
wenn er gesessen hatte, und die einst so stramme ritterliche Haltung, das
sichere, feste Auftreten, war einem gebeugten Rücken, einem schwankenden
Schritte, einem mühevollen Daherschreiten gewichen.
Aber
trotzdem er von Jahr zu Jahr hinfälliger wurde, wurde seine Erscheinung doch
immer ehrwürdiger, immer mehr Hochachtung gebietend. Sein Gott schmückte ihn im
Alter mit einer lieblichen Würde, mit einer wunderbaren Hoheit, um nicht
Majestät zu sagen, wie sie nur denen zu teil zu werden pflegt, die in der
Schule des Heiligen Geistes alt und grau werden. Das gefurchte Gesicht zeugte
von großer, zum Teil sehr schmerzlicher Erfahrung. Das blaue, noch immer hell
leuchtende Auge verkündete ebensowohl männlichen Ernst als innigstes, zartestes
Wohlwollen; die hohe und breite freie Stirn verriet natürlichen Verstand und
Mutterwitz; auf ihr thronte auch heller Sonnenschein im Gemüt.
Und dieses
seinem Grundtypus nach echt plattdeutsche Gemüt war von silberweißem Haupt- und
Barthaar umrahmt, das er meistens etwas lang trug. Namentlich wenn er auf der
Kanzel stand, strahlte oder leuchtete dieses ehrwürdige, geistreiche Angesicht,
als läge ein Hauch der Verklärung auf demselben, - als trüge es Spuren des
Umgangs mit dem lebendigen, majestätischen Gott. Ja, der alte Wyneken war in
den letzten Jahren seines Lebens eine Erscheinung, die aufs lebhafteste an
die Patriarchen erinnern konnte.
Und wie
ein ehrwürdiger Patriarch stand er nicht nur auf seiner Kanzel; so ging er auch
über die Straße. Wer ihn täglich sah, achtete darauf nicht; mancher aber, der
ihn zum erstenmal erblickte, blieb stehen, schaute ihm nach und fragte
verwundert: Wer ist der alte Herr? Er selbst hatte davon keine Ahnung; er
wusste nicht, dass man ihn mit herzlicher Hochachtung betrachtete.
Und welche
Stellung nahm er noch immer in der Kirche ein! Zwar bekleidete er kein
Synodalamt mehr; aber war er nicht noch immer der hochverehrte „Vater Wyneken“?
Schätzten ihn nicht selbst die an Jahren älteren Brüder als einen
hochbegnadeten und wohlerprobten Diener des Gottes Himmels und der Erde? Und
sahen nicht Hunderte von jüngeren Predigern, Hunderte von Schullehrern zu ihm
auf als zu einem, der die Malzeichen des Herrn Jesu an sich trug? Nannten nicht
viele, die durch seinen Dienst erweckt oder im geistlichen Leben gestärkt
worden waren, ihn ihren „geistlichen Vater“? Und war nicht die Hochachtung, die
er genoss, eine allgemeine, weit über die Grenzen der Missouri-Synode
hinausgehend?
Und nun
seine Stellung in der Familie! Er war nicht bloß der Sohn eines Pastors, nicht
bloß der Bruder und Schwager von wohl sechs Pastoren und der Onkel und
Großonkel solcher, nein, zwei seiner Söhne und drei Schwiegersöhne
dienten dem Herrn, seinem Herrn, am Wort und Sakrament. Diese Kirchendiener
waren seine Kinder, und schon führten sie ihm eine Schar von Enkeln zu. Auch in
der Hinsicht war Wyneken ein besonders begnadeter Vater; und so mögen wir ihn
in seinem Alter von irgendeiner Seite betrachten, wir müssen sagen: Er war
ein ehrwürdiger Patriarch! - -
Wyneken
war ein Mann der Tat; deshalb auch ein ganz vorzüglicher Ratgeber
bei schwierigen Vorkommnissen im praktischen christlichen Leben, einerlei, ob
diese einen einzelnen oder die Gemeinde oder ganze Kirche betrafen. Wie ihn
selbst vornehmlich die Schule des Lebens gebildet hatte, so wusste er am
besten zu raten und zu helfen auf dem praktischen Gebiet des Christentums. Die
Spekulation lag ihm ferne. Auch war er kein eigentlicher theologischer
Schriftsteller. Er hat überhaupt nur wenig geschrieben, und dieses Wenige
betrifft meistens auch das praktische Christentum. In „Lehre und Wehre“ stehen
nur zwei Aufsätze von ihm: „Eine Erklärung Herrn Pfarrer Löhes nebst
einigen daran hängenden Bemerkungen“ (I, 65 ff.), und „Die Methodisten“
(XII, 78). Der „Lutheraner“ enthält mehr als ein Dutzend Artikel von seiner
Hand. „Die Not der lutherischen Kirche“ ist eine historische Arbeit (XI,
113 ff.), die er aber nicht vollendete. Noch immer interessant und sehr
beherzigenswert sind die Briefe, die er unter dem angenommenen Namen
„Hans“ schrieb (V, 113; VII, 97; X, 97; XII, 115; XXIII, 52); am gelungensten
ist aber seine letzte derartige Arbeit: „Allen Respekt vor dem seligen
Harms! Nur keine Menschenvergötterung und keinen Kultus lebendiger oder
verstorbener Heiliger in der lutherischen Kirche!“ Es ist dies das letzte
öffentliche Wort, welches wir von dem teuren Wyneken haben; ein Wort des
erprobten Mannes, der so reden darf, weil er nicht nur ein Christ und ein
Pastor, sondern auch ein alter bewährter und geachteter Glaubensheld ist. –
Aber hatte
denn dieser Mann gar keine Schwächen? Es ist bisher fast nur lobend über ihn
geredet worden; wie steht es denn um seine Sündhaftigkeit, seine Fehler? – Es
ist nötig, auch von ihnen zu reden, damit es nicht scheine, als hätten wir
dieselben nicht bemerkt, – als sollten sie absichtlich verschwiegen werden.
Hätte er selber sein Leben zu schreiben gehabt, so würde er von seinen Sünden
und Gebrechen ein sehr langes Kapitel gemacht haben; denn er war auch redlich
im Urteil über sich selbst und hatte eine Erkenntnis der Tücken seines Herzens,
wie man sie heute nur bei wenigen findet. Von tiefer Selbsterkenntnis zeugten
seine Predigten, seine Katechesen, seine Ermahnungen, seine Tröstungen, seine
Unterhaltungen. Er war überall ein „armer Sünder“, der von keinem Verdienste
vor Gott, ja nicht einmal von einem Ruhme vor Menschen etwas wusste.
Wyneken
war melancholisch-cholerischen Temperaments, und die natürlichen Schwächen und
Unarten desselben traten bei ihm je nach Umständen bald mehr, bald minder hervor.
Mit Recht sagte schon sein alter Freund H. von ihm: „Er ist ein ritterlicher
Mensch, aber er hat auch ritterliche Untugenden.“ Er konnte je und je
leicht ein bißchen aufbrausen, kommandierend auftreten, rechthaberisch
disputieren und in einem gewissen „frommen“ Zorne Forderungen stellen, Urteile
fällen, die nicht stets aus dem Geiste, sondern zuweilen auch aus dem Fleische
kamen.
Mit
zunehmendem Alter machten sich, zu seinem eigenen sehr großen Leidwesen, diese
Temperamentsfehler immer mehr bemerkbar. Er konnte, namentlich sonnabends, wenn
er die Predigtkrankheit hatte, sehr „kurz angebunden“ sein und die Leute, die
ihm „in den Weg kamen“, besonders den Kirchendiener, ganz gewaltig „abfertigen“
und „heimschicken“. Er war nun öfter wunderlich, gereizt, grämlich, und zwar
nicht bloß in seinem Hause, nicht bloß im Umgang mit Einzelnen, sondern auch in
Gemeindeversammlungen. Er „nörgelte“ gern ein bißchen über alles mögliche, über
Kirche und Staat, über schlechte Fenster und über missratene Kirchturmspitzen.
Er war zuweilen „etwas unangenehm“, und es konnte dann nicht jeder mit ihm
umgehen.
Niemand
verstand das besser als seine Frau. Sie kannte ihn und konnte zu rechter Zeit
schweigen und reden. Sie wusste, die üble Laune währt nur Augenblicke, und dann
tut ihm schmerzlich weh, was seinem Munde entfahren. Ich habe sie nie verletzt
und empfindlich gesehen, wohl aber stets bereit, ihrem Eheherrn freundlich
entgegen zu kommen, zumal dann, wenn Synodal- und Gemeindesorgen ihn ein
bißchen „unwirsch“ machten.
Nächst ihr
war es der „Neffe Heinrich“, der mit dem „alten Ohm“ immer „gut kramen“
konnte. Er hörte oft seine Klagen und brachte ihn dann wohl durch eine
Anekdote, durch einen guten Witz auf andere Gedanken; nicht selten aber hatte
er auch Gelegenheit, ihn ernstlich zu trösten.
Wer den
alten teuren „Vater“ in den letzten Jahren seines Lebens gekannt hat, der wird
sagen müssen, dass diese Zeichnung der Wahrheit entspricht. Würde er selbst sie
sehen können, so würde er sagen: Das ist leider alles wahr, nur ist’s kurz und
gelinde gemacht und vieles ist ganz verschwiegen! – Nie machte er ein Hehl
daraus, ein großer Sünder zu sein; und obwohl seine Schwächen sich in Wort und
Tat kund gaben, so muss man doch sagen, dass er der Regel nach auch ernstlich
und ritterlich gegen seinen alten Adam kämpfte und bereitwilligst Gott und
Menschen um Verzeihung bat, sobald er seinen Fehl erkannte.
Ein
vorherrschender Charakterzug dieses frommen Vaters war die große,
ungeheuchelte Demut, die bei ihm umso mehr anzuerkennen ist, als er nach
seinem Naturell eher zum Gegenteil geneigt war. Er hielt in Wahrheit nichts von
sich selbst; er war in seinen Augen klein und gering, nicht bloß vor Gott,
sondern auch vor Menschen. Er wusste von sich nichts zu rühmen; desto mehr aber
von Gott und dessen Gnade. Mit seinen Pfarrkindern ging er um als mit Brüdern
und Schwestern, wie er denn auch als visitierender Präses bei dem schwächsten
Prediger und Lehrer nur als Freund, als Helfer, als Berater aufgetreten war.
Deshalb verkehrte er auch gern mit den Kindern und mit dem jungen Volke; nahm
selbst gern Rat an, ließ sich strafen und weisen.
Ein Beweis
herzlicher Demut war gewiss auch, dass er, als seine Schwäche ihm nicht mehr
gestattete, als eigentlicher Pastor zu wirken, seines Sohnes Hilfsprediger wurde.
Er selbst trug bei der Gemeinde darauf an, dass man ihm diese Stellung
gestatten möge; sie ging darauf ein, um ihn zu beruhigen und um ihm sein Amt
leichter zu machen.
Weil
Wyneken seine eigenen Gebrechen kannte, hatte er auch Erbarmen mit anderen. Es
ist wahr, die Erbärmlichkeit und die Schufterei so vieler Menschen konnte ihn
empören; aber mit dem gefallenen Sünder hatte er herzliches Erbarmen. Nichts
war ihm verhasster als lieblose Urteile über andere; und wenn er sonst auch zu
mancher verkehrten Rede schwieg, er tat gewiss den Mund auf, wenn ohne
Barmherzigkeit gerichtet wurde. Namentlich bei Ausübung der Kirchenzucht klagte
er öfters, dass er bei den Ermahnungen und Bestrafungen die erbarmende Liebe
vermisse. Ihm selbst war kein Sündenfall zu groß und schwer, um nicht sofort an
Rettung aus demselben zu denken; ihm war kein Sünder zu schlecht, zu verkommen,
um demselben nicht Liebe und Freundlichkeit zu beweisen; er wollte retten,
retten, und nur, um zu retten, strafte und schalt er auch.
Im Winter 1874
bis 1875 war er besonders leidend. Das böse Asthma ließ ihn in den niedrigen
Zimmern des Pfarrhauses nicht genügend Luft finden; und doch konnte er auch
nicht viel draußen sein, denn er war sehr empfindlich gegen Kälte geworden. Die
Seinen merkten wohl, dass er in dem alten Hause nicht noch einen solchen Winter
würde durchmachen können.
Sie
suchten Rat und Hilfe bei Freunden und Ärzten. Endlich wurde es von allen als
das Beste erkannt, dass er zu seinem lieben Schwiegersohn, Pastor J. Bühler,
nach San Francisco in California reise, um in dem dortigen, allgemein als
gesund gerühmten Klima, so es Gott gefalle, zu erstarken, und dann entweder
genesen nach Cleveland zurückkehre, oder, falls das zweckdienlicher erscheine,
dort einen Beruf annehme. Auch die Gemeinde billigte diesen Plan, und so
entschloss sich denn der 65-jährige Greis, die weite, ermüdende Reise zu
unternehmen, obwohl er mit besorgtem Herzen gehen musste. Sein Sohn war als
Professor nach Springfield berufen worden und wurde dort täglich erwartet. Die
Wahl eines neuen Pastors war wohl schon mehrere Male versucht, aber noch nicht
gelungen; er musste also befürchten, dass seine liebe Gemeinde eine Zeitlang
ganz ohne Prediger sein könnte.
Anfang
Oktober verließ er dann das ihm so lieb gewordene Cleveland und zog dem fernen San
Francisco zu. In Chicago kam er am 7. Oktober an und verweilte dort
etliche Tage in der ihm sehr lieben Familie des Kaufmanns L.B. und setzte dann
am elften seine Reise nach California fort.
Wie es ihm
auf derselben und in San Francisco erging, wie auch dort der gute Humor mit
trüben Stunden wechselte, und wie ihm auch dort das Wohl seiner Gemeinde und
der ganzen Kirche sehr am Herzen lag, das mögen folgende Bruchstücke eines
Briefen beweisen, den er dort an einen Freund in I. schrieb:
San Francisco, Cal., den 15.
Dezember 1875.
Mein teurer Bruder X!
-- aber
dem himmlischen Reiche [China] bin ich allerdings einige tausend Meilen näher
gekommen und sehe seine bezopften Bürger täglich in Massen auf den Straßen
hiesiger Weltstadt; -- habe sie neulich in ihrem Stadtviertel besucht. Besser,
man lässt die Nase daheim; denn die Gerüche sind mannigfaltig, und kein Geruch
von Kölnischem Wasser darunter. Obgleich halbgebratene Schweine, Würste
wunderbarer Art und allerlei Gebacknes draußen hängt, so habe ich mich doch
nicht entschließen können, etwas anzubeißen. Will aber das nächste Mal – eine
ihrer nach außen herrlich geschmückten Restaurationen besuchen. Ihren Tempel
habe ich besucht, kann aber keine Beschreibung davon machen. --
Meine
Reise war sehr günstig; der treue Gott und Herr sehr freundlich; prachtvolles
Wetter; kriegte auch immer durch die Freundlichkeit eines jungen Reisegefährten
ein unteres Bett, obgleich ich in der Office immer das Glück hatte, trotz
meiner Vorstellungen von meinem Alter und der Unmöglichkeit, in die oberen
hineinzuklimmen, die oberen Betten angewiesen zu erhalten. Die Reise selbst war
unendlich langweilig. Immer dieselbe baumlose Öde, bis wir den letzten Tag in
die Kordilleren kamen, wo es bis Sacramento interessant war, dann aber wieder
alles trocken und vertrocknet, wüste und öde.
Das Wetter
war bis dahin prächtig; immer den hellsten klaren Sonnenschein, nur oft
plötzlich mit unangenehmen kalten Stunden wechselnd, so dass man sich hier
immer kleiden muss wie in Cleveland im Winter, oder wenigstens immer einen
Oberrock mit sich führen muss. Jetzt haben wir seit drei Tagen das bekannte
Regenwetter, zur größten Freude des ausgedörrten Bodens. Was das Klima für eine
Wirkung auf mein leibliches Befinden haben wird, kann ich nicht sagen; bis
jetzt leide ich an einer ziemlich hartnäckigen Erkältung. Sonst fühle ich mich
im ganzen besser, was ich aber mehr der großartigen Faulenzerei und dem Glücke,
bei meinen Kindern zu sein, zuschreibe als dem Klima. Hart ist’s aber doch, in
meinem Alter so von Weib und Haus sein zu müssen. Hier bleiben werde ich wohl
nicht. Ich bin doch wohl nicht mehr der Mann, um hier noch einmal anfangen zu
können. Probieren konnte ich bis jetzt in den benachbarten Städten nicht; denn
so wohl fühle ich mich nicht, um das wagen zu können. Vielleicht später, wenn
es Gott gefällt, mir meine Erkältung zu nehmen und meine Brust und Stimme zu
stärken. Mir ist alles recht. Er ist sehr freundlich, und das macht eben so
große Freude, dass er’s auch in den kleinsten Angelegenheiten des Lebens ist,
wie ich das wieder in allen Stücken auf der Reise erfahren musste. Dass man
nicht dankbarer ist und an Glauben und Zuversicht nicht zunimmt, zeigt übrigens
das unergründliche Verderben des Menschen. Oder bin ich es allein? Es ist
entsetzlich, dass es der Herr doch nur in wenigen Fällen dahin bringt, das Herz
zu vollem kindlichen Vertrauen zu gewinnen. Deswegen ist das schon seit langen
Jahren mein erwählter Leichentext: O, ich elender Mensch, wer wird mich erlösen
usw.
Dieser
Kleinglaube zeigt sich auch wieder in bezug auf meine liebe Gemeinde, und es
fehlt nicht viel, dass ich mir die heftigsten Vorwürfe mache, sie verlassen zu
haben, ehe ein anderer Prediger wirklich eingeführt war, obgleich ich es nur
tat, da sie in einer Versammlung selbst darauf drang, dass ich fort sollte, und
ich auch nicht dachte, dass Pastor N. den Beruf abschlagen könnte. Wie das noch
werden soll, weiß Gott; und wenn ich’s nur fest glaubte, dass er’s wüsste! –
Nun, der
Herr ist ja treu, geht nach seiner Barmherzigkeit und nicht nach unseren Sünden
und Torheiten. Er erhöre mein dringendes Gebet und gebe der Gemeinde einen
treuen Pastor und Seelsorger. Sie beten auch dafür, das weiß ich; ja, die ganze
Christenheit betet für sie; und da sollte ich mich ruhig zufrieden geben – wenn
ich’s nur besser könnte.
Mit der
Besetzung der Schulstellen ist es auch so. Das alles trubelt mich sehr und
stört mich in dem vollen Genusse meines Glücks, bei meinen Kindern zu sein, und
Zeuge ihres glücklichen Zusammenlebens.
Ihr Brief,
mein teurer Br., war der erste, den ich hier empfing, dafür meinen herzlichen
Dank; ich musste lange warten, ehe ich einen von zu Haus erhielt. –
Ihre, wie überhaupt
alle Anstalten der Synode, wie auch alle gottgefälligen der Christenheit,
bringe ich täglich im Gebet vor Gott. Solange es mit denen gut steht, steht’s
auch mit der Christenheit gut. Das Alter bringt immer viel Befürchtungen mit
sich, obgleich ja unser Gott nicht an Altersschwäche leidet.
Nun, mein
teurer Br., will ich schließen und einmal nach den Zwillingen sehen, die, wie
die andern Kinder, mir unendliche Freude machen, obgleich mich das Alter zu
steif gemacht hat, um mit ihnen umher zu tollen, wie ich’s gerne möchte.—
In herzlicher Liebe Ihr Fr. Wyneken.“
Bald
überzeugte sich der teure Mann, dass auch in California keine Heilung für ihn
sei. Seine Erkältung und sein Asthma plagten ihn mehr als je. Dazu quälten ihn
die Sorgen um seine Gemeinde, und wenn er auch bei lieben Kindern und
Großkindern war, so fehlte ihm doch die gewohnte Bequemlichkeit, es fehlten ihm
die übrigen Kinder und seine beste Pflegerin, seine Frau. Als das neue Jahr
begann, trug er sich bereits mit Gedanken der Heimreise.
Teils um
ihn dort länger zu halten, teils um die lieben Kinder zu sehen und den kranken
Mann, wenn es nötig würde, heim zu geleiten, reiste seine wackere Gemahlin
mitten im Winter, im Februar 1876, nach San Francisco und übernahm nun, dort
angekommen, selbst wieder die Pflege des geliebten Gemahls.
Wyneken
hatte inzwischen einige Male gepredigt; er tat es wieder am Sonntag Judica (2.
April) und zeigte aus dem vorgeschriebenen Text, Joh. 8,46-59, mit gewohnter Gründlichkeit:
Woher es komme, dass die Welt unsern Herrn Jesus Christus nicht leiden
könne. Eine Predigt, die er in San José zu halten gedachte, musste
unterbleiben, weil sein Asthma ihm schreckliche Krämpfe verursachte und sein
ganzer Zustand sich sehr verschlimmerte. – Immer sehnlicher wünschte er sich zu
seiner Gemeinde nach Cleveland zurück, und es wurde deshalb der 4. Mai zur
Abreise bestimmt.
Am
Dienstagabend, also am 2. Mai, schrieb der teure Vater seinen letzten
Brief. Er war an seinen alten Freund A. Einwächter in Baltimore
gerichtet; verdient jedoch als ein Zeugnis seiner Gesinnung, allgemein bekannt
gemacht zu werden und lautet vollständig so:
„San Francisco, den 2. Mai 1876
Mein lieber alter treuer Freund Einwächter!
Ich kann
den Brief meines lieben Schwiegersohnes nicht abgehen lassen, ohne Sie und die
lieben Ihrigen alle, wie auch meine alten Freunde alle, wie Muhly, Thiemeyer,
Aichele, Treide, und was noch von ihnen lebt, herzlich und brüderlich zu
grüßen. Mir wird das Herz immer warm, wenn ich an mein liebes Baltimore und an
die vielen Freunde und Brüder denke, die mir der Herr darin geschenkt hat. Der
erhalte uns durch seine Gnade im rechten Glauben bis an unser Ende, dass wir
uns im Himmel vor dem Throne unsers hochgelobten Herrn und Heilandes
wiederfinden. Das wird eine Freude abgeben!
Wir haben
hier eine traurige, aber doch, wie ich hoffe, eine für unser inneres Leben
heilsame Zeit durchgemacht. Bühler wird Ihnen darüber geschrieben haben. Für
meine Gesundheit habe ich durch den Aufenthalt hier im Grunde nichts gewonnen.
Ich für meine Person finde mich darein durch Gottes Gnade ganz gut; ich weiß
und glaube, dass, was der Herr uns zuschickt, das Beste ist, was seine Liebe im
Himmel und auf Erden finden kann. Für meine liebe Gemeinde tut mir’s freilich
leid; denn voraussichtlich werde ich ihr wenig Dienste leisten können. Gott sei
Dank, dass er ihr in dem Herrn Pastor Niemann, Professor Walthers
Schwiegersohn, einen sehr tüchtigen Mann geschenkt hat. In einigen Tagen
begeben wir uns, so Gott will, auf die Rückreise. Ich befehle mich Ihrer und
der lieben Brüder ernsten Fürbitte. Dem treuen Herrn befohlen! Meine liebe Frau
grüßt mit mir auf das freundlichste.
In herzlicher brüderlicher Liebe Ihr F. Wyneken.“
Am 3. Mai
„fühlte er sich noch ganz wohl, ging mit seiner Frau aus, aß mit gutem Appetit
zu Abend, war recht vergnügt und schlief die Nacht gut“.
Am 4. Mai
„frühmorgens nach 6 Uhr fühlte er sich wieder eng auf der Brust, klagte aber
nicht. Er ließ sich dann heiße Tücher auf die Brust legen und sagte zu seiner
Frau: ‚Hier, Mama, leg’s hier recht in die Herzgrube hinein.’ Pastor Bühler und
seine Frau standen auf der Treppe, um zu hören, ob etwa wieder ein Anfall
käme“. Die Mutter „ging an die Tür und sagte: ‚Ich denke, es wird dieses Mal
nicht schlimm, es lässt schon nach.’ In demselben Augenblick sieht sie sich um:
Ihr lieber Mann legte sich und wendete die Augen etwas nach oben. Sie ruft: ‚Kommt
schnell, Papa stirbt!’ Als sie alle am Bett waren, legte er sein Haupt zurecht,
machte seine Augen fest zu, atmete zweimal sehr leicht und bewegte die Lippen“
zum Sprechen. „Leider hat man sein letztes Wort nicht verstehen können; ohne
Zweifel ist es der Name ‚Jesus’ gewesen.“
In dem hat
der treffliche Held seine Seele ausgehaucht, ist sanft und selig entschlafen.
Es war donnerstags, am 4. Mai, 25 Minuten vor 7 Uhr morgens. Der für seine
Abreise bestimmte Tag machte seiner Wanderung in diesem Jammertal ein Ende; er
gelangte zu seiner ewigen Ruhe im himmlischen Jerusalem.
Die Zeit
seines Lebens beträgt eine Woche weniger als 66 Jahre.
Die
Nachricht vom Tode des geliebten Vaters ging in Windeseile durch die
Vereinigten Staaten und erregte teils innige Freude, weil er nun zur längst
ersehnten Ruhe gekommen war, teils tiefen Schmerz über den großen Verlust.
In St.
Louis traf die Todesnachricht ein, während die Westliche Distriktssynode
versammelt war. Es wurde sofort ein Trauergottesdienst beschlossen, der denn
auch am 7. Mai (Sonntag Jubilate) in der überfüllten Dreieinigkeitskirche
stattfand. Der langjährige Freund und Kollege des Verstorbenen, Pastor Bünger,
hielt die Gedächtnisrede über Römer 7,24.25, welche Gottesworte Wyneken selbst
schon vor vielen Jahren zum Leichentext erwählt hatte.
Inzwischen
war von den Beteiligten in San Francisco und in Cleveland der Entschluss
gefasst worden, die geliebte Leiche in letzterer Stadt beizusetzen. Es wurde
deshalb am Samstag, den 6. Mai, am Ort des Todes eine Leichenfeier
veranstaltet, bei der Pastor Bühler zwar predigte, „aber fast zusammenbrach und
die Zuhörer mit ihm, die alle den Seligen unbeschreiblich liebgewonnen hatten“;
und frühmorgens am 7. Mai ging dann die Leiche, in Begleitung der Frau Pastor
Wyneken und ihres Schwiegersohnes, zunächst nach St. Louis ab, wo sie am 13.
abends eintraf – es war der Geburtstag des Verstorbenen.
Am
folgenden Tage (Sonntag Cantate) hielt ihm Professor Walther in der
Dreieinigkeitskirche, wo die Leiche ausgestellt war, eine Gedächtnisrede über
1. Korinther 2,2: „Denn ich hielt mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter
euch, ohn’ allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.“
Am 15. Mai
gelangte die Leiche nach Fort Wayne, wo sie unter Begleitung der Pastoren, der
Gymnasiasten und vieler Gemeindeglieder nach der St. Paulskirche gebracht und
in derselben ausgestellt wurde. Zu dem Trauergottesdienst stellten sich
zahlreiche Verwandte und ehemalige Kirchkinder des Entschlafenen aus der Stadt
und Umgebung ein. Die Predigt hielt Dr. Wilhelm Sihler über den ersten Teil von
Sprüche 10,7: „Das Gedächtnis der Gerechten bleibet im Segen.“
Während
der folgenden Nacht vollendete die trauernde Witwe in Begleitung ihres Sohnes
und ihres Schwiegersohnes die lange, mühsame Reise. Frühmorgens kamen sie am
16. Mai mit ihrem Toten in Cleveland an, wo man schon die Vorbereitungen zur
Beerdigung getroffen und die Leiche erwartet hatte.
Diese
wurde in der Kirche für kurze Zeit ausgestellt, so dass, wer es wünschte, das
Angesicht des geliebten Seelsorgers noch einmal betrachten konnte. Der
Leichengottesdienst fand nachmittags statt. Die große, schöne Kirche war
gedrängt voll Zuhörer; viele mussten umkehren, weil es nicht möglich war, einen
Platz zu finden. Nicht nur Lutheraner waren gekommen, dem Verstorbenen die
letzte Ehre zu erzeigen, nein, auch Reformierte, Katholiken, Methodisten, ganz
kirchlose Leute. Alle hatten den „alten Pastor“ gekannt, geehrt, hoch
geschätzt.
Die
Leichenpredigt hielt Pastor Theodor Brohm, auch ein langjähriger,
vielgeliebter Freund und Kampfgenosse des Seligen, über Hebräer 13,7.
Danach
hielt Professor W.F. Lehmann noch eine Gedächtnisrede in englischer
Sprache, „darin auch er das Bild des Seligen der Versammlung vor die Augen
malte“. Er tat das im Namen und Auftrag der Fakultät des Seminars zu Columbus,
Ohio, die auf diese schöne Weise ihre Liebe und Hochachtung gegen den auch in
der Ohiosynode allgemein geehrten „Vater Wyneken“ bezeigen wollte.
Die
Beerdigung selbst vollzog dann Pastor Niemann „unter herzlichem Beileid
und vielen Tränen der leiblichen und geistlichen Kinder ihres in Christus
entschlafenen Vaters“.
Am Abend
des 28. Mai (Sonntag Exaudi) hielt endlich noch Pastor C. Frincke in der
St. Paulskirche zu Baltimore dem ehemaligen, noch unvergessenen Hirten
derselben eine Gedächtnisrede.
Gedenket
an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben, welcher Ende schauet an
und folget ihrem Glauben nach.
1
Lindemann hat dieses
Lebensbild 1877 geschrieben. Zu dieser Zeit war es allerdings durch Gottes
Gnade vielerorts besser geworden. Heute, 2006, ist es leider noch schlimmer als
zu der frühen Zeit Wynekens, wenn es auch, Gott sei gepriesen, immer noch
manche Gemeinden in der Missourisynode gibt, die an der reinen Lehre
festhalten, wie auch ganze Kirchenkörper, wie die Lutheran Churches of the
Reformation. Anm. des Hrsg.
2
Luth. Kirchenzeitung.
Jahrg. VI, S. 86, Sp. 3.
3
Er besuchte damals auch
Herrn Fr. Schmidt, den Herausgeber der „Luth. Kirchenzeitung“. Als
dieser im Jahr 1876 von Wynekens Tod erfuhr, schrieb er an einen Freund in B.: „Ich
erinnere mich noch, als sei es heute, als ich Wyneken zum erstenmal sah, 1838
oder 1839, da er zuerst als Missionar nach dem Westen ging. Tatkräftig,
mutvoll, gottvertrauend legte er die Hand an den Pflug, und der Herr hat seine
Arbeit gekrönt. So selbstverleugnend, wie er war, gibt es nicht viele.“
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Jensen war schon 1842
Pastor in Pittsburg geworden. Er hatte also die Gemeinde verlassen, ehe Wyneken
zurückgekehrt war.
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Die „Generalsynode“
umfasste die alten lutherischen Gemeinden im Osten der Vereinigten Staaten. Sie
waren damals fast durchweg rationalistisch und völlig vom Luthertum abgefallen.
Sie anerkannten nicht einmal das
ungeänderte Augsburgische Bekenntnis. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als
unter dem Eindruck der bibel- und bekenntnistreuen Missouri-Synode auch die
anderen Lutheraner konservativer wurden, bekannte sich die Generalsynode, von
der sich inzwischen das konservativere „Generalkonzil“ getrennt hatte, zu den
Bekenntnisschriften. Späterhin vereinigten sich die beiden mit der Synode des
Südens zur „United Lutheran Church“ (ULC), dann mit anderen zur „Lutheran
Church of America“ (LCA), die den Hauptteil der heutigen, sehr liberalen,
unionistischen und ökumenistischen „Evangelical Lutheran Church of America“
(ELCA) bildet.
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Die Biographie wurde
1877 geschrieben. Heute sieht es leider auch in der Missouri-Synode sehr anders
aus; sie ist durch eingedrungene falsche Lehre innerlich zerrissen,
hochkirchliche Tendenzen machen sich ebenso breit wie liberale und
charismatische. Allerdings gibt es auch noch viele bibel- und bekenntnistreue
Kreise in der Lutheran Church – Missouri Synod (LCMS).
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Die „Iowaer“ waren
eingewanderte Deutsche, die theologisch mit Löhe übereinstimmten und nun eine
Synode gründeten, die seine Ansichten vertrat, also vor allem meinten, dass die
biblische Lehre mit der Zeit erst entwickelt werde, daher auch die Lehre der
Bekenntnisschriften auch in den dort dargelegten Artikeln „fortentwickelt“
werden müsse; die auch Löhes chiliastische Tendenzen zumindest duldeten und der
Kirchenverfassung eine große Rolle zumaßen, ebenso das Amt gegenüber der
Gemeinde hervorhoben. Später mit ihnen geführte Lehrverhandlungen führten zu
keiner Einigung. [Anm. d. Hrsg.]