Geistliches Erwachen


im

hohen Norden

Bilder aus der lutherischen Erweckung

in Skandinavien

Zusammengestellt von

Roland Sckerl

Durmersheim

2007

Inhaltsverzeichnis

1. Abschnitt: Norwegen

Hans Nielsen Hauge

Gisle Johnson

Carl Paul Caspari

2. Abschnitt: Schweden

Henric Schartau

Carl Olof Rosenius

3. Abschnitt: Finnland

Paavo Ruotsalainen

Frederik Gabriel Hedberg und die Evangelische Bewegung

Verwendete Literatur

1. Abschnitt: Norwegen

Hans Nielsen Hauge

Nach Th. G. B. Odland

(in: Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. Bd. 7. S. 478-481)

und Jakob B. Bull: Hans Nielsen Hauge. Der Erwecker Norwegens

Hans Nielsen Hauge hat sich durch seine bahnbrechende Laienwirksamkeit, sein Leben und Leiden für die Erweckung des geistlichen Lebens in Norwegen zu der Zeit, als der Rationalismus sich dort festzusetzen angefangen hatte, einen Namen in der Kirchengeschichte erworben. Er wurde am 3. April 1771 auf dem Hof Hauge im Kirchspiel Tune (Smaalenens Amt) als jüngster Sohn dem Niels Mikkelsen und der Maria Olstochter Hauge geboren. Als Bauernsohn erhielt er nur die äußerst dürftige Bildung, die damals dem einfachen Mann in Norwegen überhaupt zuteil wurde. Da sich indessen die Gedanken des Knaben schon frühzeitig mit religiösen Fragen, namentlich der Frage über die Ewigkeit, beschäftigten, so suchte er Unterricht in den alten christlichen Schriften, die sich in dem Haus seiner gottesfürchtigen Eltern vorfanden. Bei den Knechten und Mägden auf dem väterlichen Hof hieß es deshalb: „Er wird gewiss noch einmal Pfarrer – mit der Zeit... Ja, der Hans, der versteht sich auf das Wort Gottes.“ Unter den erbaulichen Schriften, aus denen er besonders schöpfte, nennt er selbst außer der Heiligen Schrift nur Luthers Kleinen Katechismus, Pontopiddans Katechismuserklärung und das Gesangbuch des dänischen Bischofs und Liederdichters Thomas Kingo. Aber seine eigenen Bücher zeigen, dass er auch aus anderen Schriften, wie Luthers Postillen (Predigtbücher) und Arndts „Wahrem Christentum“, Nahrung gezogen haben muss.

Eine Zeitlang sah es jedoch so aus, als sollte seine praktische Anlage und sein starkes Interesse für Handelsunternehmungen eine Klippe für seinen Glauben werden. Kaufen und wieder verkaufen, das war auch seine Welt. Aber er stand darüber auch immer wieder in Anfechtungen: „Vielleicht ist kaufen und verkaufen auch Teufelswerk! Vielleicht ist es ein Übervorteilen des Bruders, und wer das tut, kann das Reich Gottes nicht ererben.“ Dann aber konnte er wieder, wenn er meinte, bei einem Verkauf zu wenig Geld erhalten zu haben, zusehen, es beim nächsten Verkauf bei anderen wett zu machen – denn er „glaubte, ein Recht zu haben, an ihnen wieder zu gewinnen, was er bei dem anderen verloren hatte“.

Zugleich aber rang er darum, ein rechter Christ zu sein. Als er konfirmiert wurde, wollte er sich anziehen wie sonst auch. „Man soll an solchem Tag der Eitelkeit der Welt keinen Raum geben.“, hatte er gesagt, worauf seine Mutter und seine Schwester meinten: „Man zeigt die Achtung vor dem Hause Gottes auch dadurch, dass man im Besten, was man hat, hineingeht“ – und so hatte er sich gefügt. Dann aber seufzte er: „Wäre ich nur auch inwendig so fein!“, nämlich wie sein Anzug war. Und zu seinen Mitkonfirmanden erklärte er: „Ja – haben wir heute unser Fleisch geschmückt, deshalb wäre es zu wünschen, dass wir auch unsere unsterbliche Seele nicht vergäßen, sondern das große Gelübde bedächten, das wir heute ablegen sollen, nämlich abzusagen dem Teufel und all seinem Werk und Wesen und zu glauben an Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.“ Unter der Predigt betete er, „Gott möge ihm beistehen, ein rechtes Gotteskind zu werden; zugleich aber durchrieselte ihn ein kalter Schauer in dem Gedanken, er möchte vielleicht dazu nicht würdig erfunden werden. Er kannte Gottes Wort genau, vielleicht besser als irgendeiner seiner Altersgenossen; aber sein Herz war doch nicht frei von weltlichen Begierden, dessen war er sich wieder mit Schmerzen bewusst geworden; denn obgleich er jetzt in Gottes heiligem Hause weilte, im Begriff, sein Taufgelübde zu erneuern, gingen seine Gedanken doch weltlichen Dingen nach.“

Nach der Konfirmation galt er als Erwachsener, der die Pflicht hatte, selbst für sich zu sorgen. Wie er es gelernt hatte, arbeitete er als Schlosser und als Schreiner und pachtete auch einige Stück Land, die er bebaute. Er betrieb Bienenzucht und einen Kleinhandel und war erfolgreich mit dem, was er machte. Unter anderem hatte er ein Stück Waldland für billiges Geld gepachtet, das auf ungesundem Gelände stand – und er wollte unbedingt versuchen, daraus vollwertige Wiesen zu machen, obwohl ihm jeder davon abriet. Die meisten Bäume hatte er schon gefällt, nur einige wenige an dem Ufer des großen Baches standen noch, die er noch fällen wollte. Der Baum, den er gerade geschlagen hatte fiel, Hans Nielsen eilte weg, rutschte aber auf dem nassen Boden aus, ließ die Axt fallen, um sich festhalten zu können, stürzte aber kopfüber in den Bach und der Baum hinter ihm her. Er stieß einen Schrei aus, versuchte, sich an einem Zweig festzuhalten, meinte, irgendwo noch Grund zu haben – aber vergebens. Eine schreckliche Angst überkam ihn. Er merkte, dass Gott mit ihm redete, zum zweiten Mal auf solch eine Weise. Er kämpfte, schrie, merkte aber, dass ihn die Kräfte verlassen würden. Es war die Zeit, als seine Schwester Anne ihm das Essen bringen sollte. Sie rief ihn, er schrie zurück, sie erblickte ihn, war entsetzt, eilte hin, ergriff die Axt, hieb alle Äste weg, die im Weg waren, und hielt ihm die Axt hin. Mit Hilfe der Strömung konnte sie ihren Bruder ans Land ziehen. Nach zwei Tagen erkrankte Hans Nielsen mit Schüttelfrost und heftigen Stichen in der Brust. Er glaubte sich dem Tode nahe – und war in größten Zweifeln, ob er gerettet würde. „Ich habe so viel Unrechtes getan, Mutter.“ „So wollen wir Gott um Vergebung bitten.“ Die Krankheit wich. „Gott hat sich noch einmal barmherzig gegen uns gezeigt. Ich möchte glauben, er habe dich zu etwas Besonderem ausersehen, und seinem Rufe muss man Folge leisten.“ sagte seine Mutter.

Ein kurzer Aufenthalt in Frederikstad 1795, bei dem er in unmittelbare Berührung mit Verleugnern des christlichen Glaubens und offenbaren Sündern kam, wurde von entscheidender Bedeutung für ihn. Was sah er dort, was erlebte er? Kartenspielen, Fluchen, Trinken, Tanz. Und er musste bei sich selbst feststellen, wie die sinnlichen Begierden in ihm aufstiegen und ihn zuweilen auch zu Fall brachten. Da erkannte er immer deutlicher: „Es gibt nur eines, was uns gesund erhält – und das ist das Wort Gottes.“ In ihm wuchs die glühende Sehnsucht, sein ganzes Leben für den Kampf gegen alles Böse zu opfern – und er bat um seine Entlassung aus dem Handelsdienst. „Ich muss fort, um des Friedens meiner Seele willen. Hier ist die Versuchung zu groß.“

Den absoluten Durchbruch der Kräfte des ewigen Lebens in sich und den direkten Ruf, nach außen zu wirken, fühlte er jedoch erst am 5. April 1796. Während er an diesem Tage auf dem Feld arbeitete und ein bekanntes Lied des dänischen Liederdichters Hygum sang – Jesu, mich völlig mit dir zu vereinen -, war er zu der Strophe gekommen:

„Stärke, erhebe die Kraft meiner Seele,

Dass ich Dich finde, Dich liebe allein!

Nimm mich gefangen und Dir mich vermähle,

Leite und führe mein schwaches Gebein!

Mich und was mein ist will freudig ich lassen,

In meiner Seele wohn’ einzig nur Du!

Lass Deine Hand mich vertrauend erfassen,

Finden in Dir meinen Trost, meine Ruh’!“

Da „wurde sein Sinn so zu Gott erhoben, dass er nicht aussagen konnte, was in seiner Seele vorging“. Sein Herz war mit der brennendsten Liebe zu Gott und zu den noch in Finsternis wandernden Brüdern erfüllt. „Er betete für alle, die in Sünden versanken; betete, Gott möge in seiner Gnade mit der Strafe verziehen, damit sie sich noch bekehren könnten.“ „Er wollte nun gern Gott unter ihnen dienen und bat ihn, ihm zu offenbaren, was er zu tun habe.“ Da kam ihm Jesaja 6 lebendig und stark in den Sinn, und der Ruf, zur Bekehrung anderer zu predigen, wurde in seiner Seele geboren. „Ein paar Jahre früher oder später müssen wir alle sterben, aber die Seele, Mutter, die bleibt am Leben. Es handelt sich nur darum, ob sie zu Gott kommt oder verloren geht.“ In seiner Familie begann er seine Arbeit und im Laufe des Sommers 1796 hatte sich die ganze Familie völlig dem Herrn zugewandt und unterstützte Hans Nielsen. Er musste es auch lernen, mit den sündigen Anfechtungen umzugehen, über sie zu herrschen. „Du sollst über die Lust herrschen und nicht sie über dich! Geh hin und lerne, sie zu überwinden, aber bitte nicht, dir deine Sklaven, die böse Lust, abzunehmen.“ Nachdem er noch einige Zeit auf dem Hof seines Vaters ruhig lebte, begann er seine Wirksamkeit zuerst damit, dass er sich mit Einzelnen über Bekehrung und den Weg zur Seligkeit unterredete und sein erste Buch schrieb: „Von der Schlechtigkeit der Welt“. Er konnte mit den Menschen, die ihm begegneten, über die Feldarbeit, die er selbst gut verstand, reden und ihnen guten Rat geben – und kam dann immer wieder auf das Eine, das not tut: „Es kommt darauf an, ob man auch gleichzeitig daran gearbeitet hat, seine Seele von Steinen und Unkraut zu reinigen, wie man einen Acker reinigt. Denn man weiß ja, wie es dann geht.“ Von dem Tuner Pfarrer, einem Anhänger der Herrnhuter Richtung, wurde er sofort angefeindet, denn der mochte den Ruf zu einer ernstlichen Umkehr und einem reinen Wandel nicht. Dennoch lud Hauge ihn zu den Erbauungsstunden ein, die er im Kirchspiel hielt. Pfarrer Urdahl aber, nachdem er einer beigewohnt, verbot weitere Erbauungsstunden ohne weitere Begründung. Er berief sich nur auf das Konventikelgesetz von 1741 und hatte gleich den Vogt des Bezirkes mitgebracht. Hauge sagte dazu nach der Versammlung dem Hofbesitzer Iver Graalum: „Dieses ist der Anfang, aber viel wird geschehen und vieles werden die Kinder Gottes leiden müssen, bis das Wort durch das ganze Land Norwegen verkündigt wird.“ Der Bischof, den Pfarrer Urdahl um Hilfe bat, verwarf es aber, Hauge und die Seinen zu verfolgen. So konnte Hauge ungehindert seine Erbauungsstunden halten.

Dann, seit 1797, trat er auch als Bußprediger und Erbauungsredner auf, hielt Erbauungsstunden in Frederikstad, Moß, Christiania (heute: Oslo), Drammen, Aker, Asker und Lier und suchte auch Verbindung mit schon Erweckten herzustellen. Im Sommer kehrte er dann nach Hause zurück und arbeitete auf dem väterlichen Hof mit. Danach zog er wieder aus, nach Holmestrand, Tönsberg, Drammen, Kongsberg, Eker. Schon im Dezember 1797 wurde er deshalb das erste Mal verhaftet. Auch im Arrest redete mit den Mitgefangenen über den Weg zur ewigen Seligkeit. Schließlich kam er zwei Wochen nach der Gerichtsverhandlung wieder frei, sollte aber die Grenzen des Kirchspiels Tune nicht überschreiten, was er aber nicht versprach. Am 29. Januar 1798, nach einer weiteren Woche, wurde er dann ohne Bedingungen freigelassen. Hauge hatte seine erste Prüfung bestanden und durch Leiden um die Sache des Herrn sein erstes Opfer gebracht. Immer mehr Menschen schlossen sich ihm an, auch in Frederikstad, selbst unter dem Militär auf der Festung. Von 1798 bis 1804 war er beinahe ausschließlich auf Reisen in verschiedenen Gegenden Norwegens (doch kam er einmal auch nach Christiansfeld und Kolding in Dänemark), meistens zu Fuß. In diesen Jahren ging er 1500 Meilen (ca. 12.500 km). Und wenn man hört, dass er außerdem zwei bis vier Reden am Tag halten konnte und hunderte von Briefen schrieb, Bücher verfasste usw., so kann man sich einen Begriff von seiner Unermüdlichkeit und ausgebreiteten Wirksamkeit machen. Er wirkte teils durch Unterredungen mit den Einzelnen, teils durch Erbauungsreden, die er stehenden Fußes, wenn auch nicht nach den Regeln der Rhetorik, so doch in so eindringlicher und inniger Weise hielt, dass er einen mächtigen Eindruck auf seine Zuhörer machte, teils durch sehr volkstümliche Schriften, die bei vielen gut anschlugen. Dass seine Darstellung an vielen und großen formellen Fehlern litt, versteht sich von selbst. Mehrere von ihm Erweckte folgten seinem Beispiel und zogen umher, um zu predigen, und es kann nicht verwundern, dass in dieser Bewegung manches vorfiel, was das Gepräge der Unreife trug, oder auch bisweilen geradezu ungesund und schwärmerisch war, ohne dass Hauge selbst eine direkte Schuld an diesen mehr ausnahmsweise vorkommenden Erscheinungen beigelegt werden kann. So meinten manche, der Weltuntergang stünde nahe bevor und deshalb brauchten sie nicht mehr zu arbeiten. Hauge aber stand dem völlig entgegen. Er wollte, dass die Christen sich auch als nützliche Bürger ihres Landes erwiesen. „O ja, beten und arbeiten, das sollte des Volkes Wahlspruch werden.“ Selbstverständlich konnten viele von den damaligen Pastoren in dieser rationalistisch gefärbten Zeit eine solche religiöse Bewegung nicht verstehen und noch weniger sich ihr anschließen. Sie galt in ihren Augen als reine Schwärmerei. An mehreren Orten stieß Hauge selbst auf starken Widerstand; ein und das andere Mal wurde er verhaftet und ins Gefängnis geworfen, weil man ihn für einen Herumstreifer ansah, der dem sogenannten Konventikelplakat von 1741 (aufgehoben erst 1842) zuwider religiöse Versammlungen hielt. Dagegen stand der Regierungspräsident Graf Moltke in Trondheim ihm wohlwollend gegenüber.

Eine Zeitlang war Hauge in Bergen ansässig, wo der kraftvolle Bischof Johan Nordahl Brun die Sache des Christentums vertrat. „Wenn dem Gesetz der Druckfreiheit gemäß halbgelehrte Leute für Millionen von Menschen ungehemmt gegen das Wort Gottes schreiben dürfen, dann müssen doch wohl auch ungelehrte, die das Wort Gottes lieben, auf ihre Weise in einem Privathause vor etwa zwanzig Menschen frei reden dürfen“, entgegnete Bischof Brun, als der Polizeipräsident ihn wegen Hauge ansprach. Dadurch, dass er hier teils Handel trieb, teils von mehreren seiner Freunde in Handelsangelegenheiten zu Rate gezogen wurde, entstand das Gerücht von einer „Heiligen Kasse“, in deren alleinigen Besitz Hauge sich setzen, oder die er zu seinem Vorteil brauchen wolle. Wahr ist nur, dass er eine Zeitlang an eine Nachahmung von Apg. 2,44 ff. und 4,34 ff. dachte, einen Gedanken, den er jedoch später aufgab. Um den ständigen Vorwurf des Herumstreifens von sich und seinen Freunden abzuwenden, brachte er diese dazu, sich ringsum im Lande einzeln ansässig zu machen, damit sie die umherreisenden Laienprediger aufnehmen und die Erbauungen unter der Aufsicht des Hausvaters gehalten werden könnten. Dadurch geschah es, dass Hauges Freunde eine ganze Reihe von engen Brüderkreisen bildeten, die eine beständige Verbindung mit einander unterhielten. Wo ein gläubiger Pastor war, schlossen sie sich mit Freuden an ihn; fand sich kein solcher, so erbauten sie sich, so gut sie konnten, untereinander, ohne jedoch je die Verbindung mit der Kirche aufzugeben. Hauges Wirken hatte zu einer gewaltigen religiösen Gärung in Norwegen geführt. Wie Regen und Sonne war es auf ein dürstendes Land gefallen. Fast in jedem Dorf nahm die Erweckung zu, die Bewegung konnte nach Tausenden gezählt werden. Hauge ging es darum, dass die Erweckten auch wirklich mit guten Werken ihren Glauben erzeigten. „Überall, wo sich mir Gelegenheit bietet, das Volk vorwärts zu bringen, entweder in einem neuen Betrieb oder bei der Verbesserung des alten, da stelle ich die besten Brüder an. Auf solche Weise will ich überall im Lande gute Bäume pflanzen; von ihnen soll Samen aufsprießen, der ganz Norwegen erfüllt, dass es blühen soll wie ein Garten Gottes.“

Hauges Wirksamkeit als umherreisender Bußprediger wurde plötzlich unterbrochen, indem er im Jahr 1804 in Christiania (Oslo) verhaftet wurde. Hier saß er nun mit einer Unterbrechung von nur wenigen Monaten von 1804 bis 1811. Wiederholt wendete sein Bruder Mikkel Hauge sich an die Obrigkeit, um ihn gegen Bürgschaft auf freien Fuß zu bekommen, aber das Gesuch wurde abgewiesen. Seit 1807 setzte sich Justizrat Bull für ihn ein, der die ganze Sache und Hauges Behandlung für unverantwortlich und empörend hielt. „Dies ist eine Schande für die norwegische Rechtspflege!“ sagte er. „Er ist ein ehrlicher, unschuldiger Mann, und es ist eine Schande, dass er verfolgt und um seiner Ansichten willen jahrelang eingesperrt wird.“ Seine Anhänger begingen auch während seiner Gefangenschaft keine ungesetzlichen Handlungen, sondern zeigten sich als die fleißigsten und gehorsamsten Bürger. Graf Moltke äußerte gegenüber der Gerichtskommission: „Hans Nielsen Hauges Anhänger haben bewiesen, dass sie zu Norwegens besten Bürgern gehören; ich täusche mich kaum, wenn ich sie als das Salz bezeichne, das das norwegische Volk in der großen Prüfung, die die gegenwärtigen und kommenden Zeiten unserem Lande bringen werden, rein und gesund erhalten wird.“ Justizrat Bull war es dann, der, unterstützt von Graf Moltke, in der Notzeit, die durch die napoleonischen Kriege entstand, 1809 auf den Gedanken kam, der Salznot, die ausgebrochen war, durch Salzkochereien abzuhelfen, die Hauge zu seinem besonderen Studium gemacht hatte. Hauge selbst war zu dieser Zeit ein Mann mit einer gebrochenen Kraft. Aber sein Blick war aufgerichtet zu dem allmächtigen Gott, der früher oder später erhört. „Norwegen ist in Not. Ihm fehlt es an Getreide und Salz. Die Regierung braucht einen Mann, der helfen kann. Ringsum im Lande sollen Salzkochereien eingerichtet werden; aber der Mann, der diese einrichten kann – bist du.“ Diese Worte richtete Bull an den frierend in seiner Zelle sitzenden Hans Nielsen Hauge. Würde er darauf eingehen? Hatte nicht Bull selbst in seinem Gespräch mit dem Polizeipräsidenten Wulfsberg zugegeben, dass er an Hauges Stelle Nein sagen würde? Hauge schwieg lange. „Lieber Herr Justizrat“, begann er dann langsam und fast beschwerlich. „Grüßet und saget von Hans Nielsen Hauge, dass ich dem Gott, der Böses mit Gutem vergilt, dienen will. Ist Not da, und ich kann helfen, so werde ich kommen. Dem ewigen liebevollen Gott sage ich Dank dafür, dass er mir wieder die Gnade zuteil werden lässt, etwas Gutes hier auf Erden auszurichten. Dem ewigen Gott sei Lob und Dank dafür!“ Acht Tage später wurde Hauge gegen Bulls Kaution von 1000 Reichtstalern aus dem Gefängnis entlassen und reiste, in königlichem Auftrag und mit öffentlichem Staatsbeitrag, im Lande umher, um das Volk darin zu unterweisen, wie es sich selbst helfen könne. Aber kaum ein Vierteljahr später wurde er im Oktober 1809 auf Betreiben der Gerichtskommission erneut gefangen genommen. Diese Gefangensetzung trug rasch dazu bei, seine stark geschwächte Gesundheit völlig zu untergraben. Das einsame Leben im Gefängnis, ohne Tätigkeit, ohne ordentliche Ernährung und ohne frische Luft war verhängnisvoll für ihn. So litt er an Blutspucken und Skorbut aufgrund der schlechten Ernährung, Gelbsucht und anderes; seine Haltung war gebeugt, sein Aussehen mager und fahl. Aufgrund der immer mehr geschwächten Gesundheit wurde er dann 1811, trotz des Murrens der Justizkommission, entlassen. Sein Bruder Mikkel Hauge kaufte ihm den Hof Bakke auf Sagene, wohin Hans Nielsen dann im Herbst 1811 zog. Und nachdem über 600 Zeugen über ihn verhört worden waren, wobei eine Menge Lügen und Verleumdungen widerlegt wurden, verurteilte ihn eine Kommission im Dezember 1813 zu zwei Jahren harter Festungshaft (Slaveri).  Er appellierte an das Obertribunalgericht und wurde von diesem im Dezember 1814 zu der sehr hohen Geldstrafe von 1000 Reichstalern Silberwert und Aufbringung der Kosten des Verfahrens verurteilt. Sein Vergehen bestand darin, dass er die Bestimmungen des Konventikelplakats übertreten, andere dazu ermuntert habe, dasselbe zu tun und sich in seinen Schriften Angriffe gegen die Geistlichkeit erlaubt habe, von welchen letzteren man doch annahm, dass sie ihren Grund weder im bösen Willen hätten, noch, im Zusammenhang gelesen, so beleidigend wären, als sie auf den ersten Blick erscheinen könnten. Das waren also seine Vergehen, und das trotz aller Anstrengungen, die gemacht worden waren, sogar seinen guten Namen als Mensch und Bürger zu vernichten. Als das Urteil bekannt geworden war, strömten von den Freunden die Gelder herbei, und in ziemlich kurzer Zeit war die gewaltige Summe beisammen.

Nach seiner Haftzeit war Hauge fast ständig kränklich. Im Januar 1815 ließ er sich mit Andrea Nyhus trauen, die aber schon im Dezember desselben Jahres starb, nachdem sie ihm den Sohn Andreas geboren hatte. 1817 heiratete er dann Ingeborg Marie Olstochter, die er in der Papiermühle in Eker kennengelernt hatte. Sie gebar ihm drei Kinder, die aber alle in zartem Alter starben. In demselben Jahr zog er auf den Hof Bredtvedt in Aker in der Nähe von Christiania (Oslo), den er mit Hilfe seiner Freunde gekauft hatte. Seine Gesundheit war für alle Zeit gebrochen. Seine Reisetätigkeit konnte er nicht mehr aufnehmen. Aber durch seine Schriften leitete er die Erweckungsbewegung und beriet die Freunde, die zu ihm kamen.

Hier starb er auch still und gottergeben am 29. März 1824. Er hatte es den ganzen Winter hindurch geahnt, dass der Tod kommen würde und hatte die Seinen darauf vorbereitet. Für sie und für ihn war der Tod kein Grauen, sondern nur der Eingang zu einem neuen Leben. „Folget Jesu nach!“ war sein letzter Ruf und „O du ewiger, liebevoller Gott“, ehe er unter dem Gebet des Vaterunsers entschlief.

Er wird als ein Mann geschildert von „mildem Gesicht, hellem Haar, breiten Schultern, breiter Brust und starken Gliedern“. Er besaß neben einem stillen, tiefen Gemüt auch einen klaren Verstand und einen starken Willen. Im persönlichen Umgang soll er ein sehr liebenswürdiger Mann gewesen sein, weshalb seine Freunde auch mit großer Liebe an ihm hingen.

Worin besteht nun die wesentliche Bedeutung des Wirkens Hauges? Nicht in erster Linie darin, dass er durch seine Bekehrungspredigt eine religiöse Bewegung hervorrief oder eine Richtung eigentümlichen Gepräges schuf, die mit seinem Namen als Haugianismus bezeichnet wurde. Dass dies der Fall war, ist gewiss in den Verhältnissen der Zeit, in der er auftrat, sowie in den Verhältnissen, aus denen er selbst hervorging, begründet. Ohne dass man eigentlich behaupten kann, dass er in irgendwelchem Punkt von der Lehre der lutherischen Kirche abgewichen sei, muss doch gesagt werden, dass er keinen klaren Blick für die Bedeutung der Sakramente hatte. Was aber seiner Richtung ein besonderes Gepräge gab, war, dass sie den Richtungen gegenüber, die er in der Zeit vorfand, dem Rationalismus, einem überzogenen Herrnhutertum und einer inzwischen toten Orthodoxie, genötigt wurde, die Bekehrung und die neue Geburt in den Vordergrund zu stellen, „dass sie einen starken praktischen Zug hatte und mit großem Ernst die Forderung des Jakobus betonte, dass der Glaube sich in den Werken zeigen müsse, während die Rechtfertigung aus dem Glauben von ihr nur unter allerlei Restriktionen und mit großer Furcht vor antinomistischem Missbrauch derselben vorgetragen wurde“. Mit einem Wort, es traten bei ihm gerade die Seiten des Christentums hervor, die es Hauge als Bekehrungsprediger gegeben war, geltend zu machen. Dadurch geschah es unwillkürlich, dass ein gesetzlich-pietistisches Gepräge auf der Richtung ruhte. Dieses Gepräge erhielt sich auch später bei einzelnen Abzweigungen derselben, vor allem auch etlicher, die sich bei denjenigen Einwanderern in den USA zeigten, die sich in den Haugeschen Synoden, später der dortigen Lutherischen Freikirche (heute: Association of Free Lutheran Congregations) zusammenfanden. Auch zeigte es sich darin, dass der Haugianismus die sozialen Schranken nicht überwinden konnte, sondern verfestigte und keinen wirklichen erneuernden Einfluss auf die Theologie ausübte.

Erst in dem geschichtlichen weiteren Weg der Erweckung wuchs die evangelische Erkenntnis, so dass die Rechtfertigung aus dem Glauben allein und die Lehre von der freien Gnade je länger je stärker betont wurde, besonders als durch Gisle Johnson und Carl Caspari eine neue Erweckungsbewegung zu einer tiefgreifenden geistlichen Erneuerung der lutherischen Kirche Norwegens führte. Das war aber schon nach Hans Nielsen Hauge. Und hier stehen wir an dem Punkt, worin die wesentliche Bedeutung des Wirkens Hauges anzusetzen ist: Er griff als erster und umfassend den Rationalismus in der Kirche an und weckte neu geistliches Leben, und dabei blieb er in den Bahnen der lutherischen Kirche, wie auch die durch ihn geschaffene Bewegung, im Großen und Ganzen genommen, letztlich der lutherischen Staatskirche selbst zugute kam. Hauge wollte wirklich Lutheraner sein und von den lutherischen Vätern lernen, das ist wichtig, zu bedenken. U.V. Koren, einer der geistlichen Väter der bibel- und bekenntnistreuen lutherischen norwegischen Synode in den USA, bezeugte, dass er, hätte er damals gelebt und wäre vor die Wahl gestellt worden zwischen dem Weg der Staatskirche und Hauge, er ohnbe Zögern sich auf Hauges Seite gestellt hätte. Aber er sah sehr wohl die Probleme in manchem, was Hauge lehrte, wo eben ein gesetzlicher Zug drinnen war, der der Werkgerechtigkeit nahe kam. Weil Hauge und seine Freunde zum Anschluss an das kirchliche Amt und die bestehende Kirchenordnung ermahnte (er tat dies noch in seinem Testament an seine Freunde) wirkte die Bewegung in der Staatskirche nach. Dazu kam von anderer Seite eine weitere christliche Bewegung: Namentlich durch Mynster und Grundtvig in Dänemark befruchtet, wurde sie in Norwegen von Männern getragen, wie den Theologieprofessoren Stener Johannes Stenersen und Svend Borchmand Hersleb, dem ausgezeichneten Pastor Wilhelm Andreas Wexels und anderen, eine Bewegung, die zusammen mit der Haugeschen als der wesentlichste Faktor in dem christlichen, kirchlichen Leben, das sich im frühen 19. Jahrhundert in Norwegen regte, bezeichnet werden muss. Sie wurde dann erneuert und geprägt durch die Johnson’sche Erweckung, in der auch die Reinheit der lutherischen Lehre von der theologischen Fakultät verfochten wurde, deren hervorragendste Glieder seit 1850 die Professoren Carl Paul Caspari und Gisle Johnson waren.

Eine spätere Frucht des Wirkens Hauges ist die Bildung der Evangelisch-Lutherischen Freikirche in Norwegen, die um 1921 18.204 Glieder hatte, und die Gemeindefakultät in Oslo als Gegenstück zu der von der Bibelkritik geprägten theologischen Fakultät an der staatlichen Universität. Im 20. Jahrhundert sind wohl etwa zwei Drittel aller Pastoren Absolventen der Gemeindefakultät gewesen. Die Erweckung hat späterhin auch dazu geführt, dass der Blick für die Mission in Norwegen außerordentlich stark ist und Norwegen, umgerechnet auf seine Bevölkerungszahl, die meisten Missionare aussendet. Die unabhängig arbeitende „Norwegische Lutherische Mission“ steht bis heute für ein bibeltreues Luthertum.

Gisle Johnson

Nach Michael J. Langlais

Der Einfluss Gisle Johnsons geht weit über seine engere Heimat Norwegen hinaus. Durch die norwegischen Einwanderer in die Vereinigten Staaten und die norwegisch-amerikanischen Pastoren hat er auch einen wesentlichen Einfluss auf die Bildung und die geistlichen Weg der norwegischen lutherischen Synode in den USA gehabt. Viele dieser Pastoren waren Schüler Johnsons gewesen. Und das geistliche Erbe, das bis heute in der Evangelisch-Lutherischen Synode, desjenigen Teils der alten Norwegischen Synode, der die Fusion und den immer stärkeren theologischen Verfall nicht mitmachte, hochgehalten wird, ist ein Erbe, das deren Väter durch Gisle Johnson empfangen hatten. Dies gilt vor allem für die betont evangelische Theologie, wie sie Herman Amberg Preus, Ulrik Vilhelm Koren und Jakob Aal Ottesen gelehrt haben. Durch Johnson und seinen Kollegen, Carl Paul Caspari, empfingen sie die biblische Theologie und mit ihr das konfessionelle Luthertum.

Das, was sich in der norwegischen Kirche um die Mitte des 19. Jahrhunderts, im Gefolge der Haugeschen Erweckung, ereignete, wurde nicht zu Unrecht als die Johnson’sche Erweckung bezeichnet.

Gisle Johnson wurde am 10. September 1822 in Fredrikshald geboren; als er aber zehn Jahre alt war, siedelten seine Eltern nach Kristiansand über, wo sein Vater Hafendirektor geworden war. Die frühen Einflüsse auf sein Leben übten auf Gisle seine christlichen Eltern und der Konfirmandenunterricht aus. Besonders beeindruckt aber war er von seinem Lehrer O. Christian Thistedahl in der Lateinschule in Kristiansand. Thistedahl hat früh ein besonderes Gefallen an dem aufgeweckten und frommen Jungen gefunden und leitete ihn zum Theologiestudium. Johnson hat später von ihm gesagt, dass er ihm viel Ermutigung und Leitung verdankte und beschrieb Thistedahl als seinen Seelsorger, der ihm durch manche Krisen, Entmutigungen hindurch half. Dieser Lehrer, der auch Laur Larsen stark beeinflusste, war ein tiefgläubiger Mann mit einer klaren biblisch-lutherischen Theologie und hoher Achtung vor der lutherischen Bekenntnisschriften, die er aber dennoch, ganz richtig, immer der Heiligen Schrift nachordnete. Er war so in rechter Weise Bibeltheologe. Und Johnson sollte, wie Thistedahl, ein biblischer und eindeutig konfessionell lutherischer Theologe werden. Beide waren sie bekannt für ihre feste und rechtgläubige Frömmigkeit und ihren geduldigen evangelischen Geist.

Johnson wurde schon zum Assistent an der Universität erwählt, als er kaum seine Studien beendet hatte. Aber er zog es vor, ein Stipendium für ein weiteres Studienjahr in Deutschland anzunehmen. Eine kurze Zeit, 15.10.1847 - 20.03.1848, verbrachte er auf der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, wo er unter den bedeutenden Kirchenhistorikern J.A. Neander und August D.C. Twesten studierte. Am meisten beeindruckt aber war er von Ernst Wilhelm Hengstenberg, der ein Lehrer der alten lutherischen Orthodoxie war. Auf seinem Weg nach Leizpig machte er noch in Halle Station, wo er Julius Müller und vor allem Tholuck hörte, und zwar über Seelsorge. Seine Studienzeit in Leizpig wurde entscheidend für seine weitere konfessionelle Arbeit in Norwegen. In Leipzig lernte er das Wirken von Adolf Gottlieb Harless und Andreas Rudelbach kennen, die eifrig bemüht waren, die deutsche Theologie nach den Zeiten des Rationalismus wieder in eine konfessionell lutherische Bahn zu leiten. Von Leipzig aus wandte er sich dann nach Erlangen, wo er Thomasius, Höfling, J.C.K. von Hofmann und H. Schmid hörte, und ging dann nach Tübingen, damals eine Hochburg der Linkshegelianer F.C. Baur und D.F. Strauss. Auch Heidelberg besuchte er noch, bevor er über Paris, Brüssel, Köln, Hamburg und Kopenhagen nach Christiania (Oslo) zurückkehrte. Auf dieser umfangreichen Studienreise hatte er die verschiedensten theologischen Richtungen kennengelernt, was ihm sehr helfen sollte, auch im Kontrast zu manchen von ihnen eine klare bibel- und bekenntnistreue lutherische Theologie zu entfalten.

Was dazu für die norwegische Kirche von großer Hilfe war, war der Umstand, dass Johnson in Leipzig in ein Freundschaftsverhältnis mit dem jungen Professor Carl Paul Caspari trat. Johnson überzeugte ihn, dass der sich für den Stuhl des Alttestamentlers an der Universität in Christiania bewerben sollte. Der andere Bewerber für diesen Stuhl war der Kopenhagener Theologe Grundtvig. Johnson und Caspari einerseits und Grundtvig andererseits sollten in den kommenden Jahren entschiedene theologische Gegner werden, während Johnson und Caspari ihre Freundschaft immer mehr vertieften und mit ihren verschiedenen Gaben zum Wohl der norwegischen Christen zusammenarbeiteten.

Nach seiner eigenen Einschätzung lag der Wert der Reise durch die deutschen Universitäten für Gisle Johnson vor allem darin, dass er sich in seiner Theologie vertiefte und auch einen klareren Blick für die Geschichte bekam. Seine Theologie wurde vor allem geprägt von dem reformatorischen Grundsatz „Allein die Schrift“, den er sowohl gegen den Rationalismus als auch gegen Rom und sein Traditions- und Hierarchiedenken hochhielt. Durch Johnson und Caspari wurden die jungen Studenten in den beiden Schwerpunkten als Wahlspruch der Theologie befestigt: „Es steht geschrieben“ und „Gottes Wort bleibet in Ewigkeit“.

Die 1850er und 1860er Jahre waren in Norwegen von einer geistlichen Erweckung geprägt, die auch als die Johnson’sche Erweckung bezeichnet wird. Gisle Johnson war nicht ihr Ausgangspunkt, aber er wurde zur führenden Persönlichkeit. In ihren weiten, auch zeitlichen und geographischen, Auswirkungen und ihrem Einfluss auf das geistliche Leben in Norwegen ging sie noch über die Haugesche Erweckung hinaus und stellte sie im Hinblick auf ihre Tiefe und ihre Bedeutung für die lutherische Theologie und das Christenleben in den Schatten.

Im Unterschied zur Haugeschen Erweckung kann diese neue Erweckung nicht mit einer einzigen Person identifiziert werden oder einem einzigen Erweckungsprediger. In der Frühphase fiel sie zusammen mit dem Beginn der Bewegung für die äußere Mission in Norwegen. Im Jahr 1842 wurde die Norwegische Missionsgesellschaft gegründet, und die vielen örtlichen Missionsversammlungen in allen Teilen des Landes mündeten in eine allgemeine christliche Erweckungsbewegung.

Frühe Träger der Erweckung waren Männer wie Lyder Brun, der Enkel des bedeutenden Bergener Bischofs Johan Nordhal Brun, und Gustav Adolph Lammers. In Skien wurde Lammers 1848 als ein gewaltiger Bußprediger bekannt, zu dem die Menschen von nah und fern strömten. Unter denen, die damals zum Glauben kamen, waren auch die Mutter und die Schwester von Henrik Ibsen, der seinerseits dem Ruf Gottes leider beharrlich widerstrebte.

Lyder Brun brachte die Erweckung nach Bergen, und zwar gerade auch in die höheren Kreise, und Gisle Johnson trug sie nach Christiania (Oslo). Im Jahr 1851, nachdem er schon zwei Jahre Theologieprofessor gewesen war (er unterrichtete Systematische Theologie und Dogmengeschichte sowie theologische Enzyklopädie, später auch Kirchengeschichte), begann er, auch auf Drängen der städtischen Pastoren, öffentlich Bibelstunden zu halten. Sein Einfluss war gewaltig, größer als derjenige, den zuvor Hans Nielsen Hauge gehabt hat, und Gisle Johnson wurde zum bedeutendsten christlichen Führer Norwegens. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass er ja eher ein intellektueller Mensch war und von zurückhaltender Natur. Auch war er von zu Hause nicht haugianisch beeinflusst, ebensowenig in Deutschland durch den dortigen Pietismus. Auch sein ganzes Auftreten war ganz anders. Es ging von ihm ein Hauch von Unnahbarkeit aus, und seine dünne Stimme war nicht die eines gewaltigen Redners. Seine Bibelstunden waren ruhige, lehrhafte Ausführungen aus der Heiligen Schrift, die zuweilen über zwei Stunden dauerten, und eine tiefe Wirkung verursachten. Diese Jahre waren auch diejenigen, in denen die späteren führenden Pastoren der Norweger in Amerika, Preus, Koren, Ottensen, von Johnson geprägt wurden. Das zeigte sich auch in ihrer Predigtweise, die in vielem auf Johnson zurückzuführen ist. Ivan Welle beschrieb Johnsons Predigten als „orthodoxen Pietismus“, als „Pontopiddans Erklärungen in homiletischer Form“ und „aufgebaut um die Heilsordnung“.

Johnsons Einfluss beschränkte sich nicht auf die Universität oder die Hauptstadt. Er war vielmehr sehr gefragt als Lehrer und Prediger und Sprecher bei Pastoralkonferenzen. Dabei kam ihm zugute, dass er nicht ordiniert war und er so eine Brücke bildete zwischen dem „einfachen Volk“ und den „Geistlichen“. Mit Johnson wurden so die sozialen Schranken niedergerissen, die zuweilen den Eindruck erweckt hatten, es gäbe eine Religion für das einfache Volk und eine andere für die Gebildeteren. Der Ruf zur Umkehr, die Notwendigkeit, bekehrt, wiedergeboren zu werden, um ewig errettet zu sein, gilt allen Menschen, gleich welcher Klasse, Rasse, Nation.

Nachdem Johnson zehn Jahre sowohl als Professor als auch als Evangelist ungeheuer aktiv gewesen war, ließ seine Gesundheit nach – aber die Erweckungsbewegung ging auch ohne seine aktive Teilnahme weiter, denn sie hatte viele eifrige Mitarbeiter gewonnen. Vor allem hatte sie, anders als die Haugesche Erweckung, die doch in erster Linie die Laien gewann, auch die Pfarrhäuser erreicht, die nun nicht nur zu Zentren der sozialen, sondern auch der geistlichen und moralischen Aktivität wurden. Die Erweckung hatte so tiefe Auswirkungen auf das religiöse wie auf das soziale Leben in Norwegen.

Was vor allem für die Johnson’sche Erweckung prägend war, war die Verbindung zwischen lehrmäßiger Orthodoxie oder Bibel- und Bekenntnistreue und bibelgemäßer, orthodoxer Frömmigkeit. Sie baute wirklich eine wahrhaft evangelisch-lutherische Theologie und Praxis. Bis zum Ende der 1870er Jahre war die Johnson’sche Theologie der Maßstab für die Ausbildung der norwegischen Pastoren. Wie Waldemar Dons es beschreibt, ging Johnsons Einfluss über jede Kanzel und Gemeinde und prägte auch das persönliche und häusliche Christentum, ja, das gesamte Land, das ganze Volk, von den Universitätsstudenten und Staatsbeamten bis hin in die ärmste Hütte. Johnson vertrat lehrmäßig eine kompromisslose lutherische Orthodoxie oder Bibel- und Bekenntnistreue, die aber gepaart war mit wahrer evangelischer Liebe und Sorge für die Seelen. Bis zu jener Zeit war die norwegische Kirche mehr nominell lutherisch gewesen, aber nicht wirklich lutherisch geprägt. Die Haugesche Erweckung hatte die lutherische Lehre geteilt, aber sie war auch noch nicht eindeutig konfessionell gewesen. Johnsons lutherische Orthodoxie war biblisch und bekenntnisgebunden und gekennzeichnet von tiefer christlicher Frömmigkeit. Johnson wusste um die Gefahren, die von der Gesetzlichkeit für das christliche Leben und den christlichen Glauben ausgehen. Deshalb verlor er nie den Blick für die christliche Freiheit und hatte keine Neigungen zum Moralismus oder Perfektionismus in irgendeiner Form. Er liebte etwa seine Pfeife.

Die Johnson’sche Erweckung löste die Prägung ab, die durch Svend Borchmann Hersleb (1784-1836) und Stener Johannes Stenersen (1789-1835) gestaltet worden war. Sie waren beide lutherische Theologen an der Universität in Christiania (Oslo) gewesen und hatten die Haugeschen Bewegung in die Bahn einer „milden lutherischen Orthodoxie“ geleitet, die aber tatsächlich bei ihnen rationalistische Einflüsse hatte. Aber sie hatten die Pfarrhäuser nicht umprägen können, die letztlich immer noch irgendwie wie eine eigene kulturelle Welt in den Gemeinden existierten. Die Haugesche Erweckung hatte die sozialen Schranken nicht beseitigt, eher vertieft, verfestigt. Die Johnsonsche Erweckung riss diese Schranken nieder, die Pastoren eiferten nun um ihre Gemeindeglieder. Die lutherische Johnson’sche Erweckung erfasste die gebildeten Schichten ebenso wie die Bauern und Arbeiter. Mehr noch als die Haugesche Erweckung hat die Johnsonsche über die religiöse Sphäre hinaus das Leben in allen Bereichen, gerade auch im sozialen, in Norwegen umgestaltet, demokratisiert.

Durch die Johnsonsche Erweckung wurde für längere Zeit sowohl der Rationalismus, aber der „mildere“ der Hersleb-Stenersen’schen Richtung, überwunden wie auch die pietistische Prägung der Haugeschen Erweckung, die gerade beim Übergang in die USA schnell reformierten Puritanismus und moderne, arminianisch geprägte Evangelisationsformen übernahm. Die Pastoren und Gemeindeglieder dagegen, die 1853 die Norwegische Synode in den USA gründeten, und die Schüler Johnsons gewesen waren, brachten eine biblisch-reformatorische lutherische Theologie mit, die bis heute die Evangelical Lutheran Synod prägt. Der Glaube der Väter dieser Synode war tief biblisch und konfessionell, wurzelte in Gottes Wort, war verbunden mit einer biblisch und bekenntnisgemäß orientierten Frömmigkeit.

Als eine Folge der Erneuerung des kirchlichen Lebens in weiteren Kreisen kann die allerdings ganz neue und bis dahin unerhörte Erscheinung genannt werden, dass die freie Laienwirksamkeit dem kirchlichen Amt zur Seite trat, und zwar zum Teil unabhängig von ihm, ja sogar gewissermaßen organisiert wurde in der am Ende der 1860er Jahre durch Gisle Johnson errichteten „Lutherstiftung“ (Lutherstiftelse), deren Direktion ihre „Bibelboten“ nach kurzer Prüfung mit christlichen Büchern aussandte. Es war diesen Bibelboten nicht verwehrt, das Wort Gottes in engeren Kreisen zu verkündigen, wenn sie sich zuvor mit dem Pastor der Gemeinde in Verbindung gesetzt hatten. Außer der organisierten Laienwirksamkeit der „Lutherstiftung“ gab es auch eine ganz freie und unabhängige, und diese hervortretende Stellung der Laienschaft, durch welche diese dahin gekommen ist, in erster Linie am Wachstum des christlichen Lebens in Norwegen mitzuarbeiten, enthielt gewiss mehrere neue gute Momente, aber schloss doch eine Gefahr ein, die Gefahr, in unkirchliche Bewegungen auszuarten, wenn die Laienwirksamkeit nicht in gesunder lutherischer Spur gehalten wurde. Vom Oktober 1891 an änderte die „Lutherstiftelse“ sowohl ihren Namen (zu „Det norske Lutherske Indremissionsselskab“ (Die Norwegische Lutherische Gesellschaft für Innere Mission)) als auch ihr Programm, indem ihre Arbeiter nun ausgesandt wurden, Gottes Wort zu verkündigen.

Johnson war auch publizistisch tätig: Zusammen mit C.P. Caspari gab er die Tidskrift for den evangelisk-lutherske kirke i Norge (Zeitschrift für die evangelisch-lutherische Kirche in Norwegen) heraus und gründete 1863 die Luthersk Kirketidende (Lutherische Kirchenzeitung). Mit Caspari arbeitete er bis 1890 an einer neuen Übersetzung des Alten Testamentes, mit F.W. Bugge an einer Revision des Neuen Testamentes. Eine Frucht seiner Universitätsarbeit war die 1878/79 erschienene Systematik; posthum wurden seine Vorlesungen über Ethik und Dogmengeschichte veröffentlicht.

Nach einem arbeitsreichen Leben im Dienst seines Herrn Jesus Christus und dessen Kirche ging er in Christiania (Oslo) am 17. Juli 1894 heim.

Carl Paul Caspari

Nach J. Belsheim

(Realencyclopädie für protestantische Theologie. 1897. Bd. 3. S. 737-743)

Es gibt wenige Menschen, denen es in ihrem Beruf in solch einem Maß gelungen ist, zum Segen zu wirken, wie es Professor Caspari an der Universität zu Christiania (Oslo) vergönnt war. Das alte Königreich Norwegen, bis 1814 mit Dänemark zu einem Gesamtstaat vereinigt, obwohl mit vielen selbständigen Einrichtungen (eigenes Heer, eigene bürgerliche und kirchliche Gesetze usw.), wurde im jenem Jahr als selbständiger Staat, mit Schweden verbunden, und hatte nach seiner Verfassung nur den König sowie Krieg und Frieden mit Schweden gemeinsam. Im Jahr 1811 bekam es eine Universität. Früher hatte es mit Dänemark die Universität in Kopenhagen gemeinsam gehabt. Die neuerrichtete Universität zu Christiania (Oslo) begann ihre Wirksamkeit 1813. Die ersten Professoren der Theologie, Hersleb (+1836) und Stenersen (+1835), waren fromme, tüchtige Männer, welche sich vom Rationalismus jener Zeit zwar ziemlich gelöst hatten, aber doch nicht gänzlich. Herslebs größere und kleine biblische Geschichte für die Schulen wurde viel verwendet. Stenersen gab eine Kirchengeschichte, ein Leben Luthers und die paulinischen Briefe heraus. Aber beider Namen strahlte als Männer der Wissenschaft über Norwegen kaum heraus. Noch weniger war dies der Fall bei ihren nächsten Nachfolgern Chr. Keyser, J. Kaurin und J. Dietrichson. Die beiden ersten gingen nach kurzer Zeit in praktischer Predigerwirksamkeit über. J. Karin wurde später Bischof zu Bergen und starb 1863. Erst als Caspari seine Stellung als Lehrer im Jahr 1847 antrat, kam eine theologisch überragende Gestalt auf einen Lehrstuhl an der Osloer Universität.

Carl Caspari wurde am 8. Februar 1814 in Dessau jüdischen Eltern geboren, dem Kaufmann Josef Caspari und seiner Frau Rebekka, geborene Schwabe. Als er sechs Jahre alt war, wurde Carl in die jüdische Schule seiner Heimatstadt geschickt. Er wurde gleich im Hebräischen unterrichtet und konnte nach zwei Jahren die Bücher Moses lesen. Diese Lektionen wurden bis zu seinem 14. Lebensjahr immer von neuem wiederholt, die letzten zwei Jahre auch mit rabbinischen Kommentaren.

Der Wunsch seines Vaters war ursprünglich gewesen, dass Carl sich zum Kaufmann ausbilden sollte. Da der Knabe aber zum Handel keinerlei Freude zeigte und seine ganze Lust auf das Studieren gerichtet war, wurde er auf das Gymnasium geschickt. In dieser Schule waren es besonders die klassischen Sprachen, Latein und Griechisch, welche seinen feurigen Geist fesselten, so dass es gleich bestimmt wurde, dass er sich den Studien widmen sollte. Die gründliche Bekanntschaft mit dem Hebräischen, die er in der jüdischen Schule erworben hatte, bewirkte, dass er sich den Studien der orientalischen Wissenschaften hingab. Nach vierjährigem Aufenthalt in der Schule und einem einjährigen Privatstudium, ging er 1834, zwanzig Jahre alt, auf die Universität nach Leipzig und fing hier an, unter der Leitung des berühmten Orientalisten Professor Fleischer Arabisch und Persisch zu studieren. Er war der älteste Schüler dieses Gelehrten und zwei Jahre lang sein Gehilfe.

Der junge Caspari betrieb seine Studien zum Teil für sich, zum Teil in Gemeinschaft mit anderen Orientalisten. Der Rationalismus hatte bewirkt, dass der Unterschied zwischen Judentum und Christentum in Beziehung auf das Alte Testament fast ausgetilgt war. Zwar eiferte Caspari als ein junger Hebräer aus den Hebräern für das väterliche Gesetz. Aber vom Rationalismus war auch er nicht unberührt. Voll von Pflichtgefühl versuchte er ein Wort des Philosophen Kant sich zur Lebensregel zu machen. Er hatte es auf seinen Arbeitstisch geschrieben: Du kannst, denn du sollst. Er dachte, was die Pflicht geboten hat, müsse auch dem Menschen möglich sein. Aber er musste gleich empfinden, dass die Kraft zu schwach war.

Zwei Erinnerungen aus seiner Kindheit und frühen Jugend zeugen von seiner Empfindung für die Sünde und die Heiligkeit des Gesetzes. Als er noch ein kleines Kind war, kam ihm der Wunsch: Möchte ich in Wasser getaucht und ganz und gar rein werden! Was er damals nicht ahnte, sollte einmal in der heiligen Taufe geschehen. Ein anderes Mal, als er abends in der Synagoge saß, bekam er einen starken Eindruck davon, wie groß es sei, das ganze Leben der Erfüllung des Gesetzes zu widmen; seine Seele wurde mit einer ahnungsvollen Vorstellung von der Heiligkeit des Gesetzes erfüllt; das waren aber nur schnell vorübergehende Stimmungen. Er war in der rationalistischen Vorstellung befangen, dass er seinem Gewissen Genüge leisten könnte.

Einige Theologiestudenten, mit denen Caspari damals Kontakt hatte, bemühten sich, seine Gedanken auf das Christentum zu leiten. Besonders versuchten das seine späteren Freunde, der nachmalige Professor Franz Delitzsch und Karl Graul, sein Studiengenosse, später Direktor der Evangelisch-Lutherischen Mission zu Leipzig. Delitzsch sprach mit Caspari von der eigenen Gerechtigkeit und von der Unfähigkeit des Menschen, Gutes zu tun. Aber hier wurde ein wunder Punkt berührt. Jedes Gespräch dieser Art war Caspari zuwider. Er sagte später selbst: Ich war noch nicht durch das Gesetz reif geworden. Ein innerer Kampf in ihm hatte jedoch schon angefangen; sein Herz sollte für das Evangelium reif werden.

Obwohl in einem „christlichen“ Lande geboren, hatte Caspari, bevor er nach Leipzig kam, das Evangelium nicht kennen gelernt und nicht ein Wort im Neuen Testament gelesen. Karl Graul machte ihn mit dem Neuen Testament bekannt, und die erste Stelle, die ihm vor Augen kam, war eine Stelle in der Apostelgeschichte, wo die Verfolgung des Paulus von Seiten der Juden dargestellt ist. Die Schilderung der Juden in der Apostelgeschichte schien ihm so korrekt zu sein, dass sie auf ihn einen unauslöschlichen Eindruck machte. Beim Lesen der Evangelien, besonders des Evangeliums nach Johannes, kam er zu einem ganz neuen Licht.

So waren Caspari die Augen für die Person des Heilandes aufgetan, und er wurde dessen gewiss gemacht, dass alle Weissagungen der Propheten vom Messias in Jesus von Nazareth erfüllt worden sind. Er suchte nun weitere Unterweisung bei Dr. Wolff, Prediger an der Peterskirche in Leipzig, und wurde unter die Katechumenen eingeschrieben, um Unterricht im Christentum und Vorbereitung zur Taufe zu empfangen. Nach Beendigung dieser Vorbereitung wurde er, 24 Jahre alt, zu Pfingsten 1838 in der Kirche des Dorfes Groß-Städeln, unweit von Leipzig, von Pastor Zehme, einem Schwager von Dr. Wolff und Schwiegervater des berühmten Professors Constantin von Tischendorf, getauft und nahm als zweiten Vornamen den Namen Paul an. Von Pastor Zehme war neun Jahre früher bereits der spätere Professor Dr. Friedrich Adolph Philippi getauft worden; und später wurden auch von ihm die beiden Geschwister Casparis getauft. So war durch Gottes Gnade dieser Sohn Israels nach dem Fleisch auch ein Sohn Israels nach dem Geist geworden.

Es war natürlich, dass Caspari, mit seiner gründlichen Kenntnis der orientalischen Sprachen, seiner von Kind auf gepflegten Vertrautheit mit dem Hebräischen und seiner Liebe zu seinem Volk sich den Studien der alttestamentlichen Exegese widmete. Mit Empfehlung von Professor Tholuck in Halle ging er nach Berlin, wo er zwei Jahre unter Leitung des Professors Ernst Wilhelm Hengstenberg studierte, mit welchem er in guter Eintracht und Freundschaft lebte. Nach Leipzig zurückgekommen, suchte er sich dort als Privatdozent zu habilitieren. Aber sein alter Freund Franz Delitzsch kam ihm zuvor und Caspari musste damals als privater Gelehrter mit Privatunterricht in Exegese und Sprachen, Korrekturlesen und literarischen Arbeiten sein Brot verdienen. Im Jahr 1838 gab er in Leipzig den ersten Teil seiner Studien im Arabischen heraus, „Borhaneddini es Sernudji Enchiridion studiosi ...“, mit einem Vorwort von Prof. H.O. Fleischer. 1842 erschien in Leipzig sein Kommentar des Propheten Obadja. In den Jahren 1844-1848 erschien in Leipzig seine „Grammatica Arabica I, II“, später deutsch herausgegeben 1859, 1866 und 1876 in Leipzig, letzte Ausgabe bearbeitet von August Müller, in englischer Übersetzung in zwei Auflagen in London 1862 und 1874-75 und in französischer Übersetzung 1879 bis 1880 in Brüssel.

Vom Jahr 1841 bis 1857 schrieb er eine lange Reihe historisch-kritischer Abhandlungen und Anzeigen in Rudelbachs und Guerickes „Zeitschrift für die gesamte lutherische Theologie und Kirche“.

Im Jahr 1842 disputierte er, um den Doktorgrad in der philosophischen Fakultät zu erlangen, und wurde Mitglied der „Historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig“. 1844 wurde er von der Universität zu Königsberg ehrenhalber zum Lizentiaten der Theologie kreiert. Damals bekam er auch von dieser Universität den Ruf zum außerordentlichen Professor als Hävernicks Nachfolger. Sein früherer Lehrer, Professor Hengstenberg, versuchte, ihn zu bewegen, diesen Ruf anzunehmen. Aber als bekenntnistreuer Lutheraner weigerte sich Caspari, weil gewisse Verpflichtungen in Beziehung auf die preußische unierte Kirche damit verbunden waren, welche Caspari um des Glaubens willen nicht annehmen konnte. Er musste sich noch einige Jahre mit Korrekturlesen, Privatunterricht und ähnlichem ziemlich kümmerlich seinen Lebensunterhalt verdienen.

Im Jahr 1847 aber bekam er einen Ruf aus einem Land, welches für ihn bis dahin fast eine terra incognita gewesen war. Ein junger norwegischer Theologe, Gisle Johnson, später Casparis Freund und Kollege, war in den Jahren 1846/47 in Deutschland auf einer Studienreise. Als er in Berlin Professor Hengstenberg nach einem tüchtigen Theologen fragte, welcher einen vakanten Platz an der Universität zu Christiania (Oslo) nach Christian Keyser einnehmen könnte, lenkte Hengstenberg seine Aufmerksamkeit auf Dr. Caspari.

Johnson wandte sich nun an Caspari mit dem Vorschlag, dass er sich für den vakanten Lehrstuhl in Norwegen bewerben sollte. Anfangs schien es Caspari etwas abenteuerlich, sich in ein so wildfremdes Land mit einer ihm ganz unbekannten Sprache zu begeben. Es schien ihm sehr schwierig, in seinem Alter eine so fremde Sprache zu lernen. Doch nach näheren Überlegungen besiegte er diese Bedenken und bewarb sich um den Lehrstuhl. Wegen desselben waren bereits Verhandlungen von der norwegischen Behörde mit dem dänischen Theologen L. Helveg gepflogen worden; dieser trat jedoch, als Caspari sich meldete, zurück.

Caspari erhielt alsbald einen vorläufigen Ruf als Lektor, kam nach Christiania (Oslo) im Oktober 1847 und fing gleich an, die Landessprache zu lernen. Es gelang ihm, dank seines vortrefflichen Sprachtalentes, schon von Anfang des Jahres 1848 an Vorlesungen zu halten. So wurde Norwegen sein neues Vaterland. Schon am 29. Juni 1848 wurde er als Lektor, am 7. Mai 1857 als Professor fest angestellt und zwar gleich mit einem erhöhten Gehalt. Er lebte und wirkte in Norwegen 44 Jahre. Sein erstes Vaterland versuchte mehrmals, ihn zurückzugewinnen. Im Jahr 1850 bekam er einen Ruf als Professor nach Rostock, 1856 nach Dorpat, 1857 und abermals 1867 nach Erlangen, das letzte Mal für die Stelle von Franz Delitzsch. Aber er war in Norwegen heimisch geworden und weigerte sich, dieses Land zu verlassen. Im Jahr 1860 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Erlangen.

Casparis Berufstätigkeit war vor allem seine Arbeit an der Universität. Er hielt Vorlesungen für die Studenten über verschiedene alttestamentliche Gegenstände, erklärte die Genesis, die Psalmen, die Propheten Jesaja, Micha, Jona, Joel und Maleachi und las über die Einleitung ins Alte Testament. Auch erklärte er das Evangelium des Matthäus und den Hebräerbrief, hielt unter anderem auch Vorlesungen über die synoptischen Evangelien. Als alttestamentlicher Exeget und Apologet war er ein Schüler Hengstenbergs. Seine Vorlesungen waren lebhaft, gründlich, feurig, geistreich, von lebendigem Christenglauben getragen. Er hielt auch oft populäre Vorlesungen für einen weiteren Kreis von Zuhörern über verschiedene alttestamentliche Stücke.

Casparis große Gelehrsamkeit in den orientalischen Wissenschaften und im Hebräischen wurde auch weiter benutzt. In Norwegen wie in Dänemark benutzte man eine Bibelübersetzung, die von Bischof H.P. Resen 1607 besorgt worden war, mit nur wenigen kleinen Verbesserungen. Die Norwegische Bibelgesellschaft gedachte 1842, eine neue Bibelübersetzung herauszubringen. Diese Arbeit wurde dann später ausgeführt unter der Leitung von Caspari und unter Mitwirkung seines Freundes Gisle Johnson sowie von O.C. Thistedahl und J. Kaurin. Das gesamte Alte Testament wurde zum 75. Jahresfest der Bibelgesellschaft am 26. Mai 1891 vollendet.

Neben seiner Tätigkeit an der Universität und der Bibelübersetzung betrieb Caspari auch eine sehr reichhaltige schriftstellerische Wirksamkeit, zum Teil in deutscher, zum Teil in dänisch-norwegischer Sprache.

Ein Teil seiner Schriften diente der Wissenschaft, welche er sich ursprünglich gewidmet hatte, namentlich dem Verdolmetschen, Erforschen und Verteidigen des Alten Testamentes. Hierzu gehören: Der Prophet Obadja ausgelegt, Leipzig 1842. Beiträge zur Einleitung in das Buch Jesaja und zur Geschichte der jesanischen Zeit, Berlin 1848. Über den syrisch-ephraimitischen Krieg unter Jotham und Ahas. Ein Beitrag zur Geschichte Israels in der assyrischen Zeit und zu den Fragen über die Glaubwürdigkeit der Chronik und den Plan des Jesaja (Universitätsprogramm), Christiania 1849. – Über Micha, den Morasthiten, und seine prophetische Schrift. Ein monographischer Beitrag zur Geschichte des alttestamentlichen Schrifttums und zur Auslegung des Buches Micha (Universitätsprogramm), Christiania 1851-52. – Commentar til de 12 förste Capiter af Propheten Jesaia. 1. Halvdel Cap. 1-6, Christiania 1858-67 (2. Hälfte erschien nicht). Auch folgende populäre Schriften seien erwähnt: Zur Einführung in das Buch Daniel, Leipzig 1869. – Abrahams Kaldelse og Abraham og Melchizedek. Af populäre Foreläsninger over 1. Mosebog (in 2 Auflagen), Christiania 1872 und 1876. – Abrahams Prövelse og Jakobs Kamp. Af populäre Foreläsninger over Patriarchernes Historie i 1. Mosebog (in 3 Auflagen), Christiania 1871, 1872 und 1876. – Populäre Foredrag over Bogen Daniel udgivne af Pastor Storjohann, Christiania 1877. – Bibelske Afhandlinger, Christiania 1884. (11 Stücke übr den Propheten Jona, Jesaja, die Zeit des Manasse, den Propheten Jeremia, die Psalmen 49, 130 usw.)

Die meisten dieser volkstümlichen Schriften erschienen zunächst in „Lutherske Kirketidende“ oder in „Luthersk Ugeskrift“, hauptsächlich aber in „Theologisk Tidskrift for den evangelisk-lutherske Kirke i Norge“.

Diese Zeitschrift wurde von Caspari und seinem Freund Gisle Johnson 1857 gegründet mit Nehemia 4,17 als Motto. Sie erschien im Allgemeinen mit einem Band jährlich bis kurz vor dem Tode Casparis, und der größte Teil des Inhalts kam aus seiner Feder.

Außerdem kann noch genannt werden: Den gammeltestamentlige Skrifts Historie. Med Forfatterens Tilladelse aftrykt efter hans Foreläsninger, Christiania 1881 (eine Geschichte des Alten Testamentes).

Wie sein Lehrer Professor Hengstenberg, so vertrat auch Caspari vehement die Echtheit und Integrität der alttestamentlichen Schriften. Er war sehr darüber betrübt, dass sein Freund Franz Delitzsch in seiner späteren Zeit der modernen Kritik viele Zugeständnisse machte.

Der dänische Prediger, Dichter und Schriftsteller Grundtvig, der nach 1810 kräftig gegen den Rationalismus gekämpft hatte, stellte im Jahr 1825 eine eigentümliche Ansicht auf, die sogenannte „Kirkelige Anskuelse“, dass namentlich das Taufbekenntnis, die Entsagung des Teufels, das Vaterunser und die Sakramentsworte unmittelbar Worte aus dem Munde des Herrn und immer unverändert geblieben seien und folglich über der heiligen Schrift stehen müssten. Diese Ansicht hatte in Dänemark und auch in Norwegen viel Eingang gefunden. Man fürchtete, dass die Heilige Schrift in den Schatten gestellt und das formale Prinzip der lutherischen Kirche (allein die Schrift) getrübt werden könnte. Der Kampf gegen diese Irrlehre nahm viel Zeit und Kraft von Caspari in Anspruch. Er beschloss, alle Fragen nach dem Taufbekenntnis und seiner Geschichte genau zu untersuchen. Diese Untersuchungen wurden zum größten Teil in der oben genannten „Tidskrift“ publiziert. Dadurch wurde er auch auf kirchlich-patristische Untersuchungen geführt.

Diesen Untersuchungen ist der größte Teil seiner Schriften gewidmet, zum Teil in der „Theologisk Tidskrift“ und anderen Zeitschriften zuerst gedruckt: Nadverens Instiftelseords gudstjenstlige Historie fra det 5. Aarhundrede til vore Dage. Med särligt Hensyn til Grundtvigs og hans Venners Anskuelser om disse Ords Form i Kirken og denne Forms Oprindelse, Christiania 1868. – Ungedruckte, unbeachtete und wenig beachtete Quellen zur Geschichte des Taufsymbols und der Glaubensregel, herausgegeben und in Abhandlungen erläutert, I – III (Universitätsprogramme), Christiania 1866-1875. – Historiske Oplysninger om Troesspörgsmaalenes Ordlyd ved Daaben, Christiania 1871. – Den Augsburgske Confession og Luthers lille Catechismes Stilling til den hellige Skrift. Et Bidrag til Besvarelsen af Spörgsmaalet om den sande Lutherdom, Christiania 1872. – Alte und neue Quellen zur Geschichte des Taufsymbols und Glaubensregel, Christiania 1879. – Historisk-kritiske Afhandlinger over den Del virkelige og formentilge orientalske Daabsbekjendelser, Christiania 1881. – Martin von Bracaras Schrift: de correctione rusticorum zum ersten Male vollständig und in verbessertem Text herausgegeben, mit Anmerkungen begleitet und mit einer Abhandlung über dieselbe sowie Martins Leben und übrige Schriften eingeleitet, Christiania 1883. – Kirchenhistorische Anekdota nebst neuen Ausgaben patristischer und kirchlich-mittelalterlicher Schriften (Universitätsprogramm), Christiania 1886. – Briefe, Abhandlungen und Predigten aus den letzten zwei Jahrhunderten des kirchlichen Altertums und dem Anfang des Mittelalters (Universitätsprogramm), Christiania 1890.

Unmöglich können hier alle seine kleinen Schriften und Abhandlungen erwähnt werden. Es sollte aber erwähnt werden, dass es ihn sehr freute, dass er auf einer seiner vielen Reisen in einer St. Gallener Handschrift eine vorhieronymiansche lateinische Übersetzung des Buches Hiob fand. Diese war vor seinem Tode fertig zur Publikation und wurde danach im Jahr 1893 herausgegeben. Auch fand sich unter seinen Papieren fertig zum Druck der Anfang einer Schrift: Der Glaube an die Trinität Gottes in der Kirche des ersten christlichen Jahrhunderts, herausgegeben Leipzig 1894. Sie fußt auf dem in Konstantinopel entdeckten vollständigen Text des 1. Briefes des Clemens von Rom. Diese Schrift aber blieb leider nur ein Bruchstück. Gemeinsam mit Gisle Johnson gab er eine Übersetzung des lutherischen Konkordienbuches auf Dänisch-norwegisch heraus, erschienen in Christiania 1866 und 1882.

Caspari war, wie daraus deutlich wird, ein betriebsamer und fleißiger Mann. Er ging gewöhnlich morgens 6 Uhr oder noch früher an die Arbeit.

Er war immer Mitglied des Zentralkomitees der norwegischen Bibelgesellschaft, Vorsitzender in der Leitung der norwegischen Israelmission seit deren Gründung 1861 und weiterer Einrichtungen. Seit 1849 war er Mitglied der Gesellschaft der Wissenschaften in Trondheim und auch derselben Gesellschaft in Christiania seit ihrer Stiftung 1857.

Casparis Arbeit als Lehrer und messianischer Jude bereicherte drei Generationen norwegischer Pastoren. Durch ihn erschienen die Psalmen und Propheten in einem neuen, frischen und dynamischen Licht. Ihm zu Ehren wurde das Caspari-Institut in Jerusalem benannt, das wissenschaftliche Arbeiten zur missionarischen Arbeit unter Israel fördert. Diese Benennung war als ein Ehrentribut an einen Mann gedacht, der Gott, die Bibel und sein jüdisches Volk liebte.

Caspari heiratete 1850 Marie Karoline Konstanze von Zezschwitz, die 1830 in Bautzen geboren worden war, eine Tochter des Appellationsgerichtspräsidenten Carl August von Zezschwitz und Schwester des Erlanger Theologen Gerhard von Zezschwitz. In ihrer glücklichen Ehe wurden ihnen zehn Kinder geboren.

Caspari war von kleiner Statur, von sehr menschlichem, liebenswürdigem Wesen, sehr ernsthaft, aber nicht ohne Anlage für das Humoristische. Er befasste sich nicht mit Politik, konnte aber darüber sehr lebhaft sprechen; liberale und demokratische Neigungen missfielen ihm.

Fast sein ganzes Leben lang war er bei guter Gesundheit. Erst vor Weihnachten 1891 wurde er von der Influenza angegriffen und an ein langes Krankenlager gefesselt. Sein Trost waren die Wortes unseres Heilandes Jesus Christus aus Johannes 6,37: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus stoßen.“ Am Morgen des 11. April 1892, dem Montag in der Karwoche, endete er sein irdisches Leben mit einem stillen und friedsamen Abschied. Am Ostersamstag wurde er von einer großen Menge von Freunden und Bekannten zu seiner letzten Ruhestätte geleitet. Sein Grab auf „Unser Heilands“ Kirchhof in Christiania (Oslo) wurde von seinen Schülern, Freunden und Gönnern mit einem Grabmal geziert, das sein Brustbild in Bronze, modelliert von dem Künstler M. Skeibrock, auf einem Marmorsockel zeigt.

2. Abschnitt: Schweden

Henric Schartau

Nach K. H. (1846)

Henric Schartau, dessen Familie ursprünglich aus Deutschland stammte und erst seit dem 17. Jahrhundert in Schweden lebte, wurde am 27. September 1757 in Malmö geboren. Er war der älteste Sohn eines Stadtbuchhalters und späteren Ratsherrn. Sein Vater und seine Mutter starben früh und hinterließen sieben Kinder in großer Armut. Ein Bruder ihrer Mutter, Bürgermeister Henric Falkmann, nahm sie und die Amme der beiden jüngsten, welche Zwillinge waren, mitleidig in sein Haus, obwohl der Verstorbene wegen politischer Ansichten mit ihm entzweit gewesen ist. Mit wahrhafter Liebe erzogen die Pflegeeltern das Häuflein Waisen nicht nur gut, sondern christlich. Die lieben alten Kindergebete, Katechismuslehren, besonders aber des Onkels lebendiges Wort vom Heiland, pflanzten sich tief in den noch weichen Boden der kindlichen Seelen und wirkten nachher in Henric Schartaus Jugendjahren, wie er selbst dankbar anerkennt, als ein Mittel des Geistes Gottes, ihn zum rechten Weg zurückzuführen, da er in das Weltliche hineingezogen und vom Wort der Wahrheit abgekommen war. In Malmö besuchte er die Lateinschule und bezog 1771, noch sehr jung, wie es in Schweden üblich war, die nahe gelegene Universität zu Lund. Obgleich er wusste, die christliche Gemeinde bedürfe einfältigerer und doch höherer Dinge als der Gelehrsamkeit, so hat er diese dennoch allezeit hoch geschätzt. Er erwarb sich eine tüchtige Kenntnis der alten Sprachen, die ihm in seiner gründlichen Schriftforschung treffliche Dienste leistete und sprach auch einige neuere. 1778 wurde er, 21 Jahre alt, Magister der Philosophie. Während dieser ganzen Zeit hatte ihn sein edelmütiger Onkel erhalten, wie schwer es ihm auch wurde, da er fünf eigne Söhne hatte und zwar wohlhabend, aber nicht reich war. Freilich hat unter diesen Umständen die Not sich einige Mal hart an den jungen Schartau gedrängt. Er selbst erzählt, wie er einst nichts zu essen und nichts zu kaufen hatte und eben damit umging, einige seiner Bücher zu Geld zu machen. Da fiel ihm der Gott seiner Kindheit ein. Er zog den Schlüssel aus seiner Stubentür und fiel auf seine Knie. Kaum war er aufgestanden, da klopfte es an die Tür. Ein Wohltäter schickte ihm, was für längere Zeit ausreichte.

Im Jahr 1777 wurde er Hauslehrer auf dem Land. Er nahm an den gewöhnlichen Zerstreuungen teil und ließ sich im Christentum so gehen, ohne ernste Gedanken und Bestrebungen für seine Seele. Dennoch fehlte es nicht an kräftigen Anregungen des heiligen Geistes. Im folgenden Jahr kam er in eine andere Gegend und Familie, und hier nahm seine innere Entwicklung eine entschiedenere Wendung. Er sagt darüber: „Ich hielt mich meist in meiner Kammer auf, und es war Scrivers Seelenschatz, welcher mir so wohl gefiel, dass ich bei seiner Weitläufigkeit nicht ermüdete, auch keinen Anstoß nahm an manchem Unpassenden, was aus der Vorstellungsweise der Zeit hineingeflossen ist; denn Gottes übernatürliche Kraft war es, die leise in mein Herz eindrang und sich seiner Neigungen bemächtigte, welche bis dahin in einer ehrbaren Eitelkeit sich umgetrieben hatten. Die weise Hand, welche mein Herz ergriffen hatte, führte mich eben so unvermerkt in Gottes eignes Wort, die heilige Schrift, hinein. Ehe ich mir dessen bewusst wurde, war ich von ihr so eingenommen, dass ich alles vergaß, um die Bibel zu lesen. In diese Zeit fiel ein allgemeinerer Abendmahlsgang in der Gemeinde, wohin ich damals gekommen war. Auf der früheren Stelle hatte ich solche Gelegenheit wegen einer Lustreise versäumt. Jetzt stellte sich mir mit anderem auch dies vor Augen, wie ich aus jener göttlichen Stiftung eine Gewohnheit gemacht hatte, wie ich aufs Geratewohl mit andern hingegangen war, wie ich sie zu einer Decke für geschminkte Sünden und das feinere Weltleben missbraucht hatte. Jetzt aber ging ich, von einem dunklen Bedürfnis, einem geheimen Zug und einem mir selbst unbekannten Verlangen betrieben. Unsere Prediger waren schlecht, einer im Predigen, der andere im Leben. Aber der Oberhirte hielt seine Verheißung, welche er für solchen Fall seinen teuer erlösten Schafen (auch den irrenden) gegeben hat, Hesekiel 34, Vers 16: Ich will ihrer pflegen, wie sie bedürfen. Unter einer schlechten und nachlässigen Beichthandlung gab der Herr mir die Gnade, dass, als ich das Sündenbekenntnis las, ich eine lebendige Einsicht und Überzeugung besonders von den Worten hatte: „Darum weiß ich, dass ich der Hölle und ewigen Verdammnis wert bin“, und es leuchtete mir ein, dass, ginge ich so aus der Welt, wie ich jetzt war, ich so gewiss verloren und so gewiss in der Verdammnis sein würde, als ich jetzt hier auf der Kirchenbank säße. Aber ich erhielt auch Gnade, die verkündigte Vergebung anzunehmen als Jesu Wort, Jesu Verheißung, Jesu Versicherung, gegründet auf seine eigne blutige Versöhnung und in seinem Abendmahl mit dem Versöhnungsopfer selbst bekräftigt.“ Einige Jahre später kam seine Frömmigkeit in die Richtung der Brüdergemeine. Aber teils weil er diese in besonders schwächlichen und ungesunden Erzeugnissen kennen lernte, teils weil ihre ganze Art und Weise der Anlage seines Gemütes nicht entsprach, wandte er sich bald kräftig und mit großer Strenge ab. Er sagt, es sei ihm unter jenen Einflüssen geistlich ergangen, wie wenn man leiblich insgeheim allerlei süßliche, kraftlose Leckerbissen genieße. „Der Friede der Seele wankte und mir fehlte die Kraft zu siegen, obschon ich mich noch nicht gefangen gegeben oder die Waffen von mir geworfen hatte.“ Dann aber sei er besonders erschrocken, als er im Sommer 1787, schon als Prediger zu Lund, bei einem in seiner Gemeinde einen schädlichen Lehrsatz gefunden habe, der unter herrnhutischen Einflüssen noch weiter vom Worte Gottes abgekommen war als er selbst. „Der Kampf, unter welchem mir nur die Hoffnung der Erlösung blieb, nahm den Ausgang, dass ich zu dem Gebrauch der heiligen Schrift zurück kehrte, welche eine Zeitlang bei Seite gelegt war, um die Reden und geistlichen Nachrichten zu lesen, die unter den Anhängern und Freunden der Brüdergemeine handschriftlich zirkulierten.“ Während dieser Kämpfe hatte er von Befangenheit, bedrücktem Wesen und Schwäche viel zu leiden und musste unter solchen Anfechtungen oft von seinem Schreibtisch aufstehen und ängstlich betend im Zimmer auf und ab gehen. Wenn er in späteren Jahren in die damals verfassten Predigten blickte, erschrak er über ihre „geistliche Abmagerung“. Diese Erfahrungen spornten ihn an, eifrig zu warnen vor allem Anlockenden, welches eine weichliche Gefühlsrichtung besonders für jüngst erweckte Menschen haben konnte. Die Rechtfertigung des Sünders vor Gott stand im Zentrum aller Predigt und Lehre bei Henric Schartau.

Schon im Jahr 1780 war Schartau, damals 23 Jahre alt, in Kalmar ordiniert und Hauskaplan bei einem Reichsrat, darauf Adjunkt [Gehilfe] eines Landpfarrers geworden. Ganz ohne sein Zutun wurde er 1785 zum zweiten Diakonus in Lund gewählt, verwaltete dieses Amt zuerst während des Gnadenjahres der Witwe und hielt am 1. Mai 1786 seine Antrittspredigt über Apostelgeschichte 24, Vers 16: Ja eben derhalben befleißige ich mich, zu haben ein unbeflecktes Gewissen vor Gott und vor Menschen allezeit. 1793 wurde er erster Diakonus und erhielt als solcher auch die Pflege zweier Landgemeinden, Bjellerup und Rüby. So hatte der mit seltener Kraft des Heiligen Geistes ausgerüstete Mann nach einer besonderen Fügung Gottes bei Hohen und Niederen zu wirken; ja, Studenten und Professoren sammelten sich um Predigten, die von Dienstboten und Bauern mit derselben gespannten Aufmerksamkeit und mit demselben Erfolg gehört wurden. Denn Schartau war auf allen Kanzeln derselbe. Überall hatte er nur Sünder vor sich, die er zum Heiland weisen und bei ihm festhalten sollte. Es war eine Zeit großer Gefahren, aber auch großer Hoffnungen. Der herrschende Unglaube hatte sich, wenn er auch nicht so offen und bewusst wie anderswo die Wahrheiten der Schrift leugnete, auch in Schweden eingedrängt, und äußerte sich wenigstens in allgemeiner Kalt- und Weltsinnigkeit. Die Predigten waren teils trocken moralisch, teils wässrig süßlich. Von der französischen Revolution her zog sich ein leichtfertiger Freiheitsschwindel durch manche Provinzen und Städte. Auch in Lund gab es einen Jakobinerklub, in welchem man die Gläser leerte und jubelte, als in Paris verfügt wurde, es gebe keinen Gott. Und als später die Nachricht ankam, es gebe einen Gott, leerte man wieder die Gläser, stieß an und rief: „Es lebe der Ewige.“ Auch nachdem die ärgste Tollheit bei den Tollsten vorüber war, sah es doch im Volk noch schlimm genug aus. Aber es regte sich in den Totengebeinen. Merkwürdig sind folgende Worte, die sich von Schartaus eigener Hand in dem Kirchenbuch der Landgemeinde von Bjellerup finden:

„Im Jahr nach der Geburt unseres Heilandes Jesu Christi 1797, als dieses Kirchenbuch von Henric Schartau, damaligem Pastor an dieser und der Groß-Rüby Gemeinde angefangen wurde, war der Zustand der christlichen Gemeinde im allgemeinen folgender:

Die Macht des römischen Papstes (Offenbarung 13, Vers 1) war in beständigem Abnehmen. Die Zeit nahte oder es war schon so weit gekommen, dass man von ihr sagen konnte, was Offenbarung 17, Vers 8 steht: „Es (das Tier aus dem Abgrund) ist gewesen und ist nicht; doch ist es.“ Die römisch-katholische Gemeinde schien einer Reformation entgegen zu gehen, welche jedoch eine solche werden zu wollen schien, die vielmehr aus zunehmender Aufklärung der natürlichen Vernunft herkommt als aus einer größeren Verbreitung der Klarheit göttlichen Wortes. Man hatte damit begonnen, Zauberei für eine Lüge zu achten. Man war darauf auch dahin gekommen, das Besessensein zu leugnen. Endlich fing man an, die Lehre von den bösen Geistern für altmodisch anzusehen. So fuhr man denn fort, die offenbarte Religion immer mehr nach der natürlichen einzurichten, auch unter unseren Glaubensverwandten. Dem zur Seite ging auch in unserer schwedischen Gemeinde die Ansicht: Die Lehre sei gleichgültig, wenn nur das Leben rechtschaffen sei. So kam die zu dieser Zeit hochgepriesene Toleranz dahin, sich nicht nur über die Irrenden zu erstrecken, dass man ihnen die Hand reichte zu jeder Hilfe und Aufmerksamkeit, sondern auch über die Irrtümer selbst, dass man diese ohne Furcht und Abscheu ansehen lernte. Überhaupt war man der Ansicht, die Wahrheiten würden nicht durch die irrigen Sätze verdunkelt, wenn man sie mit diesen vermischte, sondern diese erhielten vielmehr von jenen Vorteil und Berichtigung: Denn man gebrauchte alle geistlichen Bücher durcheinander ohne Prüfung, indem man sich auf das Wort des Paulus berief: Prüfet alles, und das Gute behaltet. Die lästernde Gottlosigkeit erhob immer dreister ihre Stimme, während die übrigen Laster sich in den Schleier der Vernunft einhüllten; schmückte sich damit, dass sie von Zeit zu Zeit solche bürgerlichen Tugenden übte, welche sich mit den herrschenden Gelüsten vereinigen ließen; ja, sie bezauberte mit blendender Schminke, die sie der hochgetriebenen schöngeistigen Bildung und Kunst abborgte, wie eine Buhlerin das Herz der Sorglosen und schlich sich wie ein Räuber bei denen ein, welche das Laster hassten. Während man von gebildeten Leuten kein Wort hörte, das ihr Glaubensbekenntnis verraten konnte, so hörte man dagegen unter dem geringeren Haufen, wohin Zweifel, Vorwitz und Dünkel noch nicht gedrungen waren, bald den dummen und groben Missbrauch der Wahrheiten des göttlichen Wortes zu widerlicher Heuchelei, bald die eben so dumme und grobe Verspottung dessen, was das Ansehen ernstlicher Frömmigkeit hatte. Wenn einige bei den Leuten in den Ruf des Christentums kamen, so waren es solche, die mit irrtümlicher Lehre einen Schein der Gottseligkeit vereinigten. Da dieselben ohne Eifer gegen die Gottlosigkeit waren, machten sie dem Reich des Satans keine Beschwer. Und da dieses Reich sich somit nicht von ihnen angegriffen sah, brauchte es sich nicht gegen sie zu verschwören. Wenn nach dem Einschlummern des fleischlichen Eifers der Irrtum jeder Anklage entging, so durfte auch die rechte Lehre des Wortes Gottes unverketzert bleiben und konnte ungehindert gepredigt werden. Während Freidenkerei, Vernunftreligion und Irrtümer sich ausbreiteten, zeigte sich auch von mehreren Seiten, dass der Herr sich ein Reich aufrichten wolle, welches am Ende alle anderen sich unterwerfen, sich ein Volk bereiten, welches in die Hand des Antichrists zur Sichtung übergeben werden und sich ein Haus bauen, an welchem das Gericht anfangen soll: Denn eine ungewöhnliche Begierde nach der heiligen Schrift äußerte sich im Volk und wahrhaftige Bekümmernis um ihr Heil bei vielen Seelen. Solche erweckten Menschen fanden sich nicht allein an den Orten, wo Prediger, begabt mit Licht und Eifer des Geistes Gottes, sein Wort führten, sondern wo solches Licht auf einem Leuchter war, ergoss sich seine Klarheit auch in die angrenzenden dunklen Orte. Besonders war es das weibliche Geschlecht, bei welchem solches Nachdenken über die Ewigkeit sich verspüren ließ; vielleicht deshalb, weil diese als Mütter das Geschlecht erziehen werden, welches die Läuterung bestehen soll in der großen antichristlichen Verfolgung.“

So schilderte dieser rüstige Streiter Gottes das Feld, auf welches er nun nicht bloß zur Arbeit, sondern auch in den Krieg zog, indem er seinem Heiland das Gelübde ablegte, sich nicht zur Ruhe zu legen, ehe Er ihn Ruhe finden lasse im Grabe; und wo er aus menschlicher Ohnmacht erliege, wolle er kühn, aber demütig auf seinen Knieen mit Gott im Gebet ringen, bis ihm Kraft geschenkt werde, dass er könne auffahren mit Flügeln wie Adler.

Bis in seine letzten Lebenstage predigte Schartau sonntäglich. Obgleich anfangs die ihm zufallenden Nachmittagsgottesdienste der Gewohnheit gemäß schwach besucht waren, so fingen doch bald immer mehr aus allen Ständen an, auf sein Wort zu hören. Aus der Umgegend kam man nach Lund, und aus der Stadt folgte man ihm, wenn er auf dem Land predigte. Seit 1821 wurden in der Domkirche Wochenpredigten eingerichtet, die er in der Regel an jedem Donnerstag hielt. Außerdem hatte er viele Leichenpredigten und Beichtreden zu halten. Er bereitete sich immer mit viel Sorgfalt vor, obgleich er gewöhnlich nur einen ausführlichen Entwurf aufschrieb, was in Schweden, wo die Predigten abgelesen zu werden pflegten, nicht das häufigste war. In seinen letzten Jahren hat er bisweilen, wenn er durch Krankheit gefesselt war, die Predigt vollständig diktiert und von seinem Sohn in der Kirche vorlesen lassen. Eine scharfe Unterscheidung und Aneinanderstellung der Gedanken, ohne dass sie sich ins Abstrakte verloren, vielmehr immer sich praktisch an den Zuständen und Erfahrungen des menschlichen Herzens auf seinen verschiedenen Stufen des Glaubens und der Heiligung wendend, gab Schartaus Predigten eine besondere Klarheit und Kraft. Stimme und Vortrag waren keineswegs bestechend, in den letzten Jahren sogar für Fremde schwer verständlich. Dann aber half der reine, ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit in Ton und Gebärde, der klare, himmlisch strahlende Blick, und wenn dann zuweilen der Greis seine Augen schloss, während tiefe, heilige Lehren von seinen Lippen strömten, so stand er da wie ein Prophet der Vorzeit, welcher um so tiefer mit dem Geistesauge in Gottes verborgenen Rat hineindrang. Aber durch absichtlich gewählte Worte ein leicht erregtes Gefühl zu erschüttern, war nie seine Absicht. Er äußerte einmal sein Misstrauen gegen solche Erregungen so stark: „Der Arge erweckt zuweilen unter der Predigt des Wortes ein lautes, ungestümes Weinen, welches um so weniger vom Geiste Gottes sein kann, weil es sowohl bei den heftig Gerührten selbst als auch bei den anderen, die vor dem Schluchzen derselben die Predigt nicht hören können, die Aufmerksamkeit auf das Wort abschneidet.“ Statt alles forcierten Pathos wollte er nur, dass eine Predigt unter Einfluss des heiligen Geistes abgefasst sei. „Wie man auch beim Vortrag weine und deklamiere, wie liebliche Worte man auch anwende, um gleichsam Zucker auf seine Rede zu streuen: Dies alles erweckt bei den Verständigen nur Ekel.“ Er suchte nur Gottes Wort unverfälscht und klar auszulegen und anzuwenden, und überließ es dann dem Geiste Gottes selbst, damit auszurichten, was ihm wohlgefalle. Überall ging er daher auf das Verständnis aus, nicht auf die Empfindung. Fast wurde er in diesem Punkt in der Theorie einseitiger, als es sein lebendiges Christentum in der Praxis zuließ. Denn er hob oft auf den Wegen des Geisteswirkens den Verstand gegen das Gefühl zu hoch und bemerkte nicht, wie sehr seine ganze Erscheinung und der Verstandesinhalt seiner Predigten selbst auch unmittelbar, als ein Werkzeug des heiligen Geistes, auf das Gefühl wirkte. Auch war er selbst zu Zeiten auf der Kanzel bis zu Tränen tief bewegt, und ein ungewöhnlicher Glanz breitete sich dann über seine Züge. Das waren freilich Stunden, wo wenigen seiner Zuhörer das Auge trocken blieb. Schreckbilder für die Phantasie liebte er ebensowenig wie Schmeichelbilder; doch scheute er sich nicht, geradeheraus mit Schriftworten zu nennen, was die Schrift lehrte. Er prunkte nicht mit Bibelsprüchen; wo er sie aber anwendete, waren sie wie für diese Stelle geschrieben. Nach Aufstellung des Predigtthemas sprach er oft ein freies Gebet, und seine Zuhörer bezeugten, wie warm, wie innig und nahe er dann zu seinem Gott redete. Seine altertümlich einfache, apostolische Sprache eignete sich auch gar wohl für den Erguss des ernsten, sehnsüchtigen Verlangens einer Seele. Ein geschriebenes Gebet von ihm findet sich in dem Kirchenbuch von Bjellerup bald nach der oben angeführten Schilderung seiner Zeit. Es lautet folgendermaßen: „Dich, Herr Himmels und der Erde, preist einer von deinen geringsten und unnützesten Dienern, dass du nicht allein die Tür mir geöffnet zu diesem Schafstall, sondern hast auch hier in dieser Gemeinde einigen das Herz aufgetan, also dass du nach deiner Milde und Treue mich ließest hier die Erstlinge sehen meiner Arbeit an der Herde, welche du mir zu eigen gegeben hast. Damit hast Du, o Herr, mich ermuntert, da ich ermattete, und mich erquickt, als ich müde geworden war. O Herr, der du der Engel Lob und die Preisgesänge der Seligen vor deinem Thron erschallen lässest und merkst auch auf das Seufzen der Armen aus der Tiefe der Erdennot: Gewähre deinem Diener, hier vor deinem allsehenden Auge ein Gebet niederlegen zu dürfen, und höre mich, darum dass Jesus Christus, dein Sohn und mein Erlöser, dazu mein Herr und Meister, zugleich vor dir redet auf deinem Thron, während ich, von deinem heiligen Geiste unterstützt, in Gebrechlichkeit vor dir bete. Bewahre, o Herr, deinen Diener, dass er nicht von dir weiche, um deiner Liebe willen gegen deine Gemeinde, welche du dir erworben hast durch das Blut deines Sohnes, dass nicht, wenn der Hirte geschlagen wird, die Schafe der Herde sich zerstreuen. Bewahre auch, lieber Vater, durch deinen heiligen Geist alle die vor dem Bösen, welche du deinem Sohn zum Erbe gegeben hast, dass sie nicht zur Zeit der Läuterung im Ofen der Trübsal wieder verleugnen diesen Herrn, der sie erkauft hat. Und wenn diese Hand nicht mehr über diese Blätter hingeht, so sende, o du Herr der Saaten, einen treuen Arbeiter in diese deine Saat, welcher mit unverfälschtem Gottesworte begieße, was gepflanzt ist, dass es nicht verdorren möge. Segne kräftig sein Herz mit der Gnade deines heiligen Geistes, auf dass sich mit einander freuen, der da sät und der da schneidet, und in der Herrlichkeit vor deinem Thron in die Lobgesänge einstimmen, womit du in Ewigkeit gepriesen wirst von allen denen, welche durch jemandes Dienst, es sei, wer es wolle, bekehrt worden sind von den Abgöttern zu dem lebendigen Gott. Amen.“

Es ist nicht zu verwundern, wenn manche ihre eigne Kirche versäumten, um Schartau zu hören. Dies war ihm sehr unlieb. „Versäume die Kirche nicht“, sagte er einmal, „wenn dort auch ein Geistlicher von geringeren Gaben predigt; denn es geht in der Kirche, außer der Predigt, noch anderes vor, was deiner Seele zu Segen werden kann; und gesetzt auch, dass du zu Hause etwas Besseres lesen könntest als du in der Kirche zu hören bekommst, so magst du es auch lesen und doch in die Kirche gehen.“ Er fußte im Zentrum des christlichen Glaubens und überschaute von da aus den ganzen Umfang der Heilslehre und entfaltete diese vor seinen Zuhörern. Er wusste dabei, dass die Bekehrung ganz das Werk Gottes ist und nicht des Menschen. Aber er wusste auch, dass Gott dazu auch die Erleuchtung des Menschen gebrauche, so dass der Heilige Geist Raum habe, durch die Gnade Buße und Glauben zu wirken. Dabei ging es ihm darum, in seinem ganzen Wirken als Pastor der biblischen Lehre von der Rechtfertigung des Sünders Geltung zu verschaffen. Als daher 1811 für die öffentliche Beichte die unbedingte Absolution abgeschafft und durch eine bedingte ersetzt wurde, fuhr Schartau fort, den Löse- und Bindeschlüssel in strengem Ernst zu gebrauchen, direkt die Vergebung der Sünden den Beichtenden zuzusprechen. Seine Verkündigung war geprägt von dem zentralen Bekenntnis der Reformation, der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben an das für alle ausreichende Erlösungswerk Jesu Christi, verbunden mit dem seelsorgerlichen und evangelistischen Anliegen, diesen Glauben bei seinen Hörern zu rechter, das Leben verändernder Lebendigkeit zu wecken und ihn zu fördern. Prägend für seine Theologie wurde dabei die Lehre von der Heilsordnung, die Schartau aufgrund eigener Beobachtungen weiter entwickelte und zur Grundlage seiner seelenführenden Lehrpredigt machte. Er unterschied dabei die logischen Stadien von Berufung, Erleuchtung, Wiedergeburt und Heiligung und schließlich der Verherrlichung. Am Schluss seiner Predigten brachte er eine praktisch-seelsorgerliche Anwendung. So konnte er ohne irgendein Drängeln zu echten Bekehrungen führen aufgrund geistlicher Überzeugung. Schartau hat dabei immer unerschütterlich daran festgehalten, dass in der Taufe allerdings neues Leben geschenkt wird – dass aber dieses neue Leben durch schuldhaften Bruch des Taufbundes verloren geht und in einer durch Gesetz und Evangelium gewirkten bewussten Bekehrung zu erneuern ist. Diese Bekehrung ist eine grundsätzliche Umkehr (Wiedergeburt), die sich aber dann im täglichen Leben entfaltet in der täglichen Buße.

Besonders begabt war Schartau als Katechet und wendete auch auf die katechetische Methode und ihre Verbesserung großen Fleiß. Es kam ihm bei den Kindern nicht auf das bloße Auswendiglernen, sondern darauf an, deutliche Begriffe und lebendiges Bewusstsein von den geistlichen Dingen in ihre Seelen zu bringen. Die Methode, welche ihm am meisten zusagte und sich ihm durch Erfahrung bewährt hatte, war die der alternativen Fragen, wenngleich er hierin kein allgemeines und jeden zwingendes Gesetz aufstellen wollte. Außer dem Unterricht der Konfirmanden hatte Schartau eine andre Gelegenheit, katechetisch zu wirken. Es fanden in Lund an jedem Freitagmorgen, auf dem Lande an jedem Abendmahlssonntag (gewöhnlich siebenwöchentlich) Katechisationen statt, die für ältere Personen berechnet waren. Bei seinem Amtsantritt waren sie aber, wie fast in allen Städten, der Kirchenordnung ganz zuwider, aus Mangel an Zuhörern fast außer Brauch gekommen. Schartau hielt sie regelmäßig, obwohl längere Zeit nur Einzelne kamen. Aber der Herr segnete seine Glaubensfestigkeit, so dass nach einigen Jahren der weite Altarraum erfüllt war von Kindern und Greisen, Gelehrten und Ungelehrten. Auch auf diese Stunden bereitete sich Schartau vor, indem er die Hauptpunkte durchdachte und aufzeichnete. Es waren aber nicht Verstandesübungen, sondern mildes Hinleiten zur Erkenntnis Jesu Christi. Seine Kinderlehre wirkte dies auch bei Erwachsenen. Es war in Lund ein Mann, der nach Wahrheit forschte, aber in seiner Vernunft allein; so fand er nichts, was ihn befriedigte. Seine Ehefrau redete ihm zu, Schartau zu hören. Er verachtete es. Die Not seiner Seele stieg höher. Er besuchte endlich eine Predigt Schartaus und war erstaunt; denn Feuer und Sturm ging an ihm vorüber. Aber Gott konnte er nicht finden; er blieb aus der Kirche fort. Der Herr aber sah an seinen Ernst und wollte seine Seele erlösen. Während die vorbereitende Gnade des heiligen Geistes schon in ihm arbeitete, riet ihm seine Frau, einmal in die Kinderlehre zu gehen. Das schien dem gebildeten Mann nicht gerade einladend – aber er ging doch hin. Und mit einem gedemütigten und erweichten Herzen kam er zurück, Gott hatte sich ihm in einem sanften Säuseln offenbart. Von dem Tage an war er Schartaus Schüler und des Heilandes Jünger.

Wie durch Predigt und Unterricht pflanzte Schartau auch durch Seelsorge treu und fleißig im Weinberg des Herrn. Da er mehr hatte als bloße Gelehrsamkeit, Rechtgläubigkeit, Gutmütigkeit oder Genialität, so wendeten sich viele vertrauensvoll mit Gewissensfragen an ihn; und die Briefe, in denen er darauf antwortete, zeigen einen reichen Schatz von Erfahrung und Erkenntnis des Wortes Gottes. Er sagte Tadel gerade heraus, war auch nicht zu schnell mit dem Troste bereit, um nicht zu früh und oberflächlich eine Gewissenswunde zu heilen und „seinem Herrn zuvorzueilen“. Aber wenn er es für Zeit erachtete, goss er reichlichen Balsam der göttlichen Zeugnisse in die Herzen. Er sagte einmal: „Ein Mensch soll nicht furchtsam sein, wenn er von Gott empfangen soll, sondern dann soll er kühn sein, dass er nehme, was ihm geboten wird; aber wenn ein Mensch von Gott empfangen hat, dann sei er nicht kühn, sondern furchtsam, dass er nicht verliere, was er empfangen hat.“ –

Auf den ersten Blick erschien er oft streng und kalt, aber im vertrauteren Gespräch öffnete sich ein wohlwollendes, warmes Herz. Von besonderen Andachtsversammlungen hielt er nicht viel, weil er ihre Gefahren für größer achtete als den etwa zu erwartenden Nutzen, und der letztere auf andere Weise erzielt werden müsse. An Krankenbetten saß er, wenn der Kranke nicht selbst mit ihm allein zu sein wünschte, oft von Zuhörern umgeben. Bisweilen standen sie auch noch auf der Straße vor dem Fenster. Eine große Zahl der seinem Einfluss Folgenden gehörte zur dienenden Klasse. Diese wurde wegen ihres wahrhaft christlichen Wandels in ihrem Dienste besonders gesucht, auch von solchen, die nicht gerade Freunde von Schartaus Christentum waren. Sie bildeten unter sich eine Art Hilfs- und Spargemeinschaft, die auch Altersschwache und Bettlägrige unterstützte. Manche von ihnen unterrichteten für ein Geringes arme Kinder in Handarbeiten und im Christentum, ja, sie gaben sogar Beiträge, um einige ganz Verwahrloste in Schartaus Haus erziehen zu lassen, da seine Vermögensumstände ihm nicht erlaubten, seiner Familie zu viel zu entziehen. Sehr fleißig besuchte er das Armenhaus der Stadt und teilte dort einigen hochbetagten Personen gern recht häufig das heilige Abendmahl aus, mitunter alle vierzehn Tage. An geistlichen Vereinen, Gesellschaften, die zu jener Zeit, namentlich in Schweden, noch nicht so zahlreich und tätig waren, nahm er nicht teil, sowohl weil er alle Kräfte und Zeit seiner Gemeinde widmete, als auch, weil ihn manche Mängel in jenen zurückstießen. Wenn er das Lesen der heiligen Schrift empfahl, drang er auf Ordnung und Zusammenhang. In der Auswahl von Erbauungsbüchern war Schartau sehr vorsichtig, warnte insbesondere vor denen, die zwar eine gewisse biblische Einsicht verraten, aber doch mehr das Gefühl in Anspruch nehmen als zum Wachstum im echten Glaubenslicht anzuleiten pflegen. Er hielt viel auf Luthers, Arndts, Bengels, Roos’ und Nohrborgs Schriften. Er sagte einmal: „Geistliche Bücher, die mit der heiligen Schrift übereinstimmen, verhüten, dass die heilige Schrift dem Prediger nicht so alltäglich wird, dass er an den reichen Blumenknospen derselben vorüberfährt; denn die Schriften von Männern reiner Lehre entwickeln solche für ihn, ohne deren Blätter zu zerreißen. Die Geistesgabe, welche Gott bei der Abfassung solcher Schriften mitgeteilt hat, begleitet auch den Lesenden und geht in diejenigen über, deren Herz für die Wahrheit offen steht, wo sie sich findet.“ Aber wie es auch diese Worte andeuten, wies er vornehmlich immer auf die Bibel.

Im Jahr 1800 wurde Schartau zum Propst über seine bisherigen Gemeinden und 1823 zum Propst über den Distrikt Torna ernannt. Diese Superintendenturen gaben ihm neue Gelegenheit, sich in Kirchen- und Schulvisitationen so wie in den vielen mit dem Amt verbundenen weltlichen Geschäften als zuverlässig und tüchtig zu bewähren. Im Jahr 1810 besuchte er als Reichstagsmann den wichtigen Reichstag in Örebro. Äußere Auszeichnung schätzte und erstrebte er nicht. Den Doktorgrad der Theologie wollte er nicht annehmen.

Im Jahr 1786 heiratete er die Witwe seines Vorgängers Barfot, da dies die Wahlherren der Stadt Lund zur Bedingung für seine Berufung machten. Neben den mitgebrachten Stiefkindern gebar sie ihm auch eigene Kinder. Er erwies ihnen väterlichen Ernst in Zucht und Ermahnung, gewöhnte sie auch früh an das Wort Gottes. „Was aber mehr herangewachsene Kinder betrifft“, sagte er, „so ist es ebenso gefährlich, durch zu weit getriebene religiöse Maßregeln Feindschaft gegen das Geistliche zu wecken oder Heuchelei hervorzurufen, wie auf der anderen Seite sie ohne Anweisung durch Wind und Weg hingehen zu lassen.“ Eine persönliche Zuneigung spielte bei der mehr erzwungenen Heirat keine Rolle. Schartau erkannte darin später ein tadelnswertes Handeln gegen sein Gewissen: „Hieraus ist hernach alles Leid geflossen, welches mich in dieser Welt getroffen hat.“ Die Witwe war nämlich weder eine ordentliche Hausfrau noch eine verständige Erzieherin der Kinder.

Ein von Natur heftiges, schnell aufbrausendes Temperament, in Verbindung mit seiner großen geistigen Energie, machte ihn, wie er selbst sagt, „zur Übertreibung und Eigenmächtigkeit, zu scharfem und ungestümem Wesen geneigt“. Aber umso größere Aufmerksamkeit wendete sein christlicher Sinn darauf, sich in der Gewalt einer klaren, ruhigen Besinnung zu haben, und der Erfolg war siegreich. Am geselligen Leben nahm er wenig Teil, aber er widmete gern einige Stunden dem Gespräch mit gelehrten und gebildeten Männern. Sinnreich und ruhig heiter wusste er dann mit Hilfe seiner ausgebreiteten Kenntnisse die Unterhaltung zu führen oder zu beleben. In seinem Wesen drückte sich immer Gleichmäßigkeit, Würde und hoher Ernst aus, wenn er auch diesen Ernst in Anekdoten oder witzigen Einfällen spielen ließ, an denen er nicht arm war. Als man einmal über einen Dritten, einen in sich gekehrten Christen, ihn befragte, warum derselbe doch jetzt im Umgang so schweigsam sei und gegen seine gesprächigen und munteren Kameraden absteche, antwortete er nur: „Leere Tonnen machen den meisten Lärm.“ Musik liebte er sehr; war er von der Arbeit ermüdet, so nahm er wohl selbst auf einige Augenblicke die Violine. Mit wenigen Pastoren stand Schartau in engerem Verkehr; er scheute die „geistliche Welt“ ebenso sehr, wie die ganz ungeistliche. Sein besonders geschätzter Freund und Bruder war der Propst S. Holm in Swaluf. Wissenschaft und Kunst schätzte er sehr, war auch als ein geübter Kenner von Gemälden bekannt

Er hatte schon lange an Steinschmerzen gelitten, als er in den letzten Jahren immer heftiger davon befallen wurde. Aber kaum wussten oder merkten andere davon als der Arzt, der seine außerordentliche Geduld und Ergebung bewundern musste. So wie er sich erleichtert fühlte, war er wieder bei der Arbeit. Endlich am 2. Februar 1825 schlug die Stunde, in welcher er abgerufen wurde und im 68. Lebensjahr in seinem Heiland entschlief. In der Domkirche versammelte man sich zur Begräbnisfeier. Vor dem Zug gingen die Kinder der Armenschule, viele von ihnen laut schluchzend, zum Zeugnis, welch ein Vater er ihnen gewesen ist. Es wurde keine Ehrenrede gehalten; nur die, dass man aus jedem Winkel der Kirche weinen hörte. – Auf Schartaus Grabstein stehen die Worte: Aber ich bin darum nicht von dir geflohen, mein Hirte; so habe ich Menschenlob nicht begehrt, das weißt du; was ich gepredigt habe, das ist recht vor dir. Jer. 17, Vers 16.

Schartau wirkte und wirkt noch jetzt, nicht bloß durch die stillen Früchte in der Gemeinde, auch nicht bloß durch die über das Land verteilten Lehrer und Prediger, welche einst als Studenten in Lund von ihm angeregt, für das Christentum gewonnen und darin unterwiesen wurden, sondern auch seine Schriften haben sich reichlich durch ganz Schweden verbreitet. Viele von ihnen sind ein Hausbuch bei Hohen und Niederen geworden, namentlich seine Predigten, die mit Andacht und Nutzen gelesen werden, obgleich sie, wie schon erwähnt ist, meist nur in genauen Entwürfen vorhanden sind. Aber alle diese Schriften wurden erst nach seinem Tode von seinen Freunden aus dem Nachlass veröffentlicht (namentlich von Prof. jur. Holbergson und Dr. Schlyter, ebenfalls Prof. jur. in Lund). Denn er selbst wollte, wie er sagte, nicht die Zahl der Bücher vermehren, um deretwillen sich die Menschen verleiten lassen, die Bibel weniger zu lesen. Ein andermal äußerte er: „Weil ich von meinem Oberhirten nicht gesetzt bin, unter den Wächtern auf der Mauer zu sein, welche Wache halten sollen gegen die Feinde, die draußen sind, dass diese nicht eindringen in Gottes Stadt, sie zu verderben, sondern ich mich nur unter diejenigen Wächter rechne, welche rings in der Stadt umhergehen, denen es obliegt, die Schlafenden zu wecken, wo Feuer ausbricht. Darum bin ich nicht willens, in den Streit, der von den Druckerpressen geführt wird, mich einzulassen, oder auf andre Briefe zu antworten, als solche, die da Hoffnung geben auf Annahme oder Wiederannahme der Wahrheit.“ Auf die Bewahrung der reinen lutherischen Lehre legte er großen Wert. „Die einige rechte Lehre“, sagte er, „sehe ich als ein Juwel in der Krone der Gerechtigkeit an. Gehe ich mit diesem Kleinod unvorsichtig um, dass am Juwel eine der Kanten abgestoßen wird, so dass es weniger leuchtet, so könnte die ganze Krone für mich verloren gehen.“

Carl Olof Rosenius

Carl Olof Rosenius wurde am 3. Februar 1816 in Nysätra bei Umea in Norrland, dem nördlichsten Teil Schwedens, als Sohn eines armen, aber eifrigen Pastors, Anders Rosenius, geboren. In Norrland hatten die frommen Menschen die Gewohnheit, in ihren Häusern zum Lesen des Wortes Gottes und der alten lutherischen Tröster, Luther, Scriver, Arndt, zusammen zu kommen. Sie erhielten deshalb den Namen „läsare“, Leser. Nicht nur sonntags, auch werktags lasen sie Gottes Wort und ließen dadurch ihr Leben bestimmen. Es war ihnen wahrhaft ernst. Diese Kreise sind die geistliche Heimat von Rosenius gewesen. Aufgrund der christlichen Erziehung durch seine Eltern erfuhr er schon in früher Kindheit die Wirkungen des Geistes Gottes an seinem Herzen. Zu einer wirklichen tiefgehenden Erweckung und einem wahren Leben in Christus aber kam es erst 1830. „Er wusste nicht, dass eine Neugeburt nötig sei. Nun sah er es. Er wurde eine Zeitlang sehr unglücklich wegen einiger Sünden. Schließlich wurde er aber durch Christi Liebe freigemacht und sehr glücklich, froh und selig“, wie er selbst es beschrieb. Nun nahm er selbst Teil an den Versammlungen der Leser und leitete sie auch. Frühzeitig wurde Carl Olof für das Predigtamt bestimmt und nach dem Besuch des Gymnasiums in Härnösand besuchte er die Universität in Uppsala, wobei er sowohl mit den dürftigen Umständen als auch mancherlei Schwierigkeiten aufgrund seines treuen Zeugnisses von Christus zu kämpfen hatte. Wegen körperlicher Schwäche und dem Mangel an finanziellen Mitteln konnte er seine Studien nicht vollenden und das Amtsexamen nicht ablegen. Er musste sich daher eine Stelle als Informator (Lehrer) suchen, die er in der Nähe von Stockholm fand.

In dieser Zeit geriet er in schwerste Anfechtungen, in geistliche Finsternis und Not. Furchtbare Zweifel über alles Heilige, ja sogar über das Dasein Gottes, plagten ihn auf’s Grausamste. Gott aber gebrauchte diese Not, um ihn, Carl Olof Rosenius, für seine späteren Aufgaben zu erziehen. In dieser Not fand Rosenius Hilfe und Trost bei dem methodistischen englischen Prediger Scott, der damals in Stockholm wirkte. Er half ihm, die Anfechtungen zu überwinden und wieder fest im Glauben zu werden. Beide wirkten nun zusammen und gaben gemeinsam seit 1842 die Zeitschrift „Pietisten“ heraus, obwohl doch zwischen dem Lutheraner Rosenius und dem Methodisten Scott keine Glaubenseinheit herrschte. Beide hielten Gottesdienste ab und Versammlungen in den Häusern. Scott war allerdings – gewiss auch eine Führung Gottes – genötigt, Schweden zu verlassen, so dass Rosenius jetzt allein in der Arbeit stand, die sich immer mehr ausweitete, in Schweden, besonders unter den „Läsaren“, aber auch über Schweden hinaus. Weil Rosenius jetzt allein als Stadtmissionar wirkte, so bekam die ganze Bewegung eine klarer lutherische Ausrichtung.

Unter der Leitung von Rosenius bekam der „Pietisten“ eine neue Prägung. Er brachte lange geistliche Abhandlungen, die eine große Wirkung ausübten. Die Auflagenhöhe stieg nach und nach selbst über diejenige der Tageszeitungen. Die Zeitschrift wurde das Mittel zur Erweckung, mehr noch als die mündliche Predigt. Er machte aber auch Predigtreisen durch ganz Schweden und hatte eine umfangreiche seelsorgerliche Tätigkeit.

Die Bewegung der Leser, aus der Rosenius kam, war teilweise sehr gesetzlich. Sie stellte Bedingungen, Forderungen auf, die als Voraussetzungen galten, um die Gnade Christi zu empfangen: das Böse im Inneren durch Gebet und Anstrengung aller Kräfte zu überwinden etwa. So kamen die Menschen nur selten und schwer zu evangelischer Freude und wahrem Frieden in Christus. Dieser Haltung trat Rosenius nun entgegen.

Der Kern der Lehre, wie Rosenius sie vertrat, lässt sich zusammenfassen mit den Worten: „Nichts in mir; alles in Jesus.“ Er hat allerdings von all denen, die auch pietistisch beeinflusst sind, das Evangelium am klarsten erfasst. Das Gesetz predigte er als einen „Zuchtmeister auf Christus“, hob dabei die hohen geistlichen Forderungen der inneren Reinheit des Herzens und der Gedanken hervor, sodass alle Würdigkeit des Menschen vor Gott zunichte gemacht wurde. Auch der erweckte Mensch muss loskommen von allem eigenen, hoffnungslosen Bemühen. Er kann sich selbst nicht ändern. So lange er seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten sucht, wird er nur ein Pharisäer. Jesus Christus, den Gekreuzigten, predigte er als unsere einzige Weisheit von Gott, unsere einzige Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung. Er betonte immer wieder, und völlig zu recht, dass all unsere eigene Kraft und Würdigkeit nichts ist und Christus alles sein muss. Der Christ muss zu jeder Zeit allein aus der Versöhnung Christi leben. Rosenius suchte, auch darin völlig richtig, Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden. Das Gesetz kann uns nicht bessern. Es soll uns zur Verzweiflung an uns selbst treiben. Nur so werden wir willig und fähig, das uns von Gott angebotene Heil in Christus im Glauben zu ergreifen. Die zentrale Botschaft von Rosenius war die Versöhnung Gottes durch Christi Opfertod. In Christus sind wir, trotz aller Mängel, Fehler, Sünden, vor Gott gerecht, heilig und gut.

Rosenius betonte also, völlig richtig, unentwegt die freie Gnade Gottes – aber er unterschied nicht immer genügend zwischen allgemeiner und persönlicher Rechtfertigung. Auch betonte Rosenius stärker das „innere Leben“ als die Gnadenmittel, also Wort und Sakrament. Nicht, dass er nicht auch über sie geschrieben hätte. Und was er dazu schrieb, war gut. Aber gegenüber der Betonung des „inneren Lebens“ bekamen sie nicht das Gewicht, das sie haben sollten. Wenn er auch das Gesetz nicht verschwieg, auch die Heiligung erwähnte, so vertrat er das Gesetz doch nicht in der ganzen Kraft und Schärfe, wie es die Schrift fordert. Eine gewisse antinomistische Tendenz ist leider nicht zu verkennen. Leben wir im Glauben, so lässt uns das nicht so bleiben, wie wir sind. Dann wird alles neu, so war seine Haltung. Er meinte, die Heiligung nicht zu sehr betonen zu dürfen, damit die Selbstgerechtigkeit nicht wieder entfacht würde. Deshalb trat die eindringliche Ermahnung zur Heiligung zurück. Die Sünde des Christen betrachtete er mehr als Plage („die tägliche Plage der Sünde“) denn als Schuld. Wie sehr auch der wiedergeborene Christ noch mit dem abgrundtief verdorbenen Fleisch zu tun hat (siehe Römer 7), das kam bei Rosenius doch nicht so klar durch. Er konnte wohl darlegen, wie sehr die Sünde alles, bis ins Kleinste, durchzieht – und doch, weil den Gläubigen die Sünde leid ist, sagen, sie seien rein und heilig in Bezug auf ihren Sinn, ihren neuen Willen und ihr Verlangen. Darum bräuchten sie keine Drohungen und Strafe, sondern Trost. Hier betrachtet er einfach den Christen zu einseitig nur nach dem neuen Menschen und hat zu wenig die Realität des alten Menschen auch im Wiedergebornen im Auge. Aber trotz mancher Abweichungen muss gesagt werden, dass er bestrebt war, sich im großen Ganzen an Luthers Lehre zu halten. Sein privates Leben war musterhaft. Ein tiefes Bewusstsein seines sündlichen Verderbens, die freie unbedingte Gnade, das Wachen über sein inneres Leben, die Liebe zu dem Sünderheiland und zu den Brüdern, Eifer um die Errettung und Bewahrung der Seelen waren hervortretende Züge seines Glaubens.

Aus der Erweckung entstand die „Evangelische Vaterlandsstiftung“ (Evangeliska Fosterlands Stiftelse), die in der inneren wie in der äußeren Mission eine große Bedeutung gewann.

Erst 52 Jahre alt, starb Rosenius am 24. Februar 1868 in Stockholm. Die Gerechtigkeit Gottes in Christus hat er, wie Bo Giertz über ihn schreibt, herrlich verkündigt und wird besonders geschätzt als ein großer Tröster. Rosenius hat, und das ist sehr wichtig, den Ruhm der Gnade groß gemacht und so viele zum Frieden mit Gott geführt.

Die „Bornholmer“, wie ein bedeutender Teil seiner Anhänger später auch genannt wurden, betonten wie Rosenius die freie Gnade und das bedingungslose Heil und wehrten sich gegen eine Vermischung von Rechtfertigung und Heiligung, bekämpften auch alle Selbstgerechtigkeit.

Aber sie unterschieden nicht deutlich zwischen der allgemeinen und der persönlichen Rechtfertigung, was dahin führte, dass auch die Unbekehrten für gerecht erklärt wurden. Und die geistliche Erneuerung, die Heiligung erhielt bei ihnen keinen hohen Stellenwert. Dadurch wurde immer mehr der Eindruck vermittelt, dass beim Wiedergebornen alles beim Alten bleibe. Zugleich verkleinerten, verniedlichten sie die Sünde beim Christen. So war es nicht verwunderlich, dass bei ihnen auch die Heilsgewissheit zurückging. Besonders wurde in ihren Kreisen die allgemeine Rechtfertigung so sehr überbetont, dass der Eindruck erweckt wurde, alle seien schon effektiv gerechtfertigt, was zu höchst bedenklichen Aussagen führte, etwa denen, dass Sünder in der Hölle mit vergebenen Sünden wären. So trat der Kampf gegen die Sünde, die tägliche Buße, bei ihnen stark zurück. Auch die Sakramente hatten nur eine geringe Bedeutung. Die Überbetonung der allgemeinen Rechtfertigung drohte bei ihnen aus dem Glauben ein bloßes Wissen um die Rechtfertigung zu machen; es kam nicht zu einem wirklich mit Christus gestorben sein. Und aus dieser falschen Lehre entsprang auch die Behauptung, die Gnadenmittel würden nicht nur den Christen, sondern allen Menschen gehören.

Richtig war, dass sie bekannten, dass das Fleisch immer Fleisch bleibt, weiter sündigt und sterben muss und dass auch für die Christen die Rechtfertigung das Zentrum des Lebens bleibt. Aber Rechtfertigung und Heiligung wurden völlig auseinandergerissen. Der Christus für uns wurde richtigerweise betont – aber der Christus in uns bekam kaum Raum. Aber man darf die Verirrungen seiner Nachfolger Rosenius selbst nicht anlasten.

Rosenius und die Bornholmer erkannten auch nicht den Befehl Gottes zur Trennung von falschgläubiger Kirche, so dass viele der Anhänger und Nachfolger von Rosenius in der Staatskirche verblieben trotz der vielfältigen falschen Lehren und Praktiken in dieser. Rosenius meinte, der schwedischen Staatskirche eine Stellung geben zu müssen, die derjenigen des Volkes Gottes im Alten Testament entsprach, und wartete auf besondere Zeichen Gottes, um sie zu verlassen, anstatt gemäß der Schrift zu erkennen, dass die vorhandene falsche Lehre und Praxis die Trennung gebiete.

3. Abschnitt: Finnland

Paavo Ruotsalainen

Nach: Geert Sentzke: Die Kirche Finnlands

und Burkard Krug: Erweckung im hohen Norden

Im 18. Jahrhundert hatte Finnland durch Gottes Gnade bereits verschiedene Erweckungen geschenkt bekommen, die geprägt waren vom alten Pietismus der unterschiedlichsten Prägungen, vom radikalen, separatistischen Pietismus eines Gottfried Arnold über den Spener’schen und Halleschen Pietismus bis zu dem Pietismus Herrnhuts. Durch den Rationalismus, der auch, von Schweden her, über Finnland hereinbrach, ging vieles wieder unter. Aber an manchen Orten hielten sich Kreise der „Stillen im Lande“ und überwinterten in der dürren und kalten Zeit des Vernunftglaubens.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in dem Gott der Herr in vielen Ländern des alten Kontinents einen Durst nach dem Wort Gottes schenkte und vielerorts durch sein Wort Scharen von Menschen zum rettenden Glauben erweckte, was weltweite Auswirkungen durch Auswanderung und Weltmission hatte, erwachte auch in Finnland ein neuer Glaubensfrühling. Und anders als in der Zeit des alten Pietismus, der vor allem in den Städten, im Adel und Bürgertum seinen Rückhalt hatte, umfasste er diesmal das ganze Land. Er blieb auch nicht so sehr in der Stille, sondern die Laien zogen durch das Land und verbreiteten die frohe Botschaft. Aber auch viele Pastoren schlossen sich der Erweckung an.

Gottes auserwähltes Werkzeug in der geistlichen Erneuerung Finnlands war der einfache, arme Bauer Paavo Ruotsalainen aus der Wildnis in Savo in Mittelfinnland. Das Ziel seines Wirkens war es, dass die Menschen erweckt werden, zu Jesus Christus als dem Sünderheiland geführt, und dass sie dann durch Wort und Sakrament als den Gnadenmitteln bei ihm bleiben.

Paavo Ruotsalainen war, wie schon gesagt, ein ganz einfacher Bauer, der außer dem Konfirmandenunterricht keine weitere Schule besucht hatte. Lesen hatte er gelernt, aber schreiben, das konnte er nicht. Wenn er daher seelsorgerliche Briefe zu verfassen hatte, so musste er sie seinen Freunden diktieren, die sie für ihn niederschrieben. Aber die Gnade, dass er lesen gelernt hatte, die nutzte er zutiefst aus. Seine Hauptlektüre schon als junger Mensch waren: „Gnadenordnung zur Seligkeit“ (auch: Evangelische Gnadenordnung) von David Hollaz; von Johann Philipp Fresenius das „Beicht- und Kommunionbuch“ und von Thomas Wilcock die „Köstlichen Honigtropfen aus dem Felsen Christus“, der, obwohl er Puritaner war, ein rein lutherisches, evangelisches Buch damit geschrieben hatte. Vor allem aber las Ruotsalainen die Bibel, die er, was damals eine große Seltenheit war, schon in jungen Jahren bekommen hatte, nämlich im Alter von sechs Jahren von seinem Onkel. Bis zu seinem 16. Lebensjahr soll er sie schon dreimal durchgelesen haben. Er war 1777 In Tölvänniemi im Kirchspiel Iisalmi als ältester Sohn einer einfachen Bauernfamilie geboren worden.

Lange konnte er keinen inneren Frieden finden, so dass seine Angehörigen schon in größter Sorge waren, er könnte schließlich noch wahnsinnig werden, so groß war seine innere Unruhe. Er grübelte über Gottes Wort und irrte in den Wäldern umher. Dann hörte er von dem Schmied Jakob Högman in Jyväskylä, von dem es hieß, er sei ein erfahrener Seelsorger. Paavo Ruotsalainen ließ alles stehen und liegen und machte sich ohne Wissen seiner Eltern zu Fuß auf den 200 Kilometer weiten Weg zu diesem Handwerker, der ihn aufnahm und ruhig anhörte. Als Paavo geendet hatte, sagte er ihm die entscheidenden Worte: „Eines fehlt dir und mit diesem einen alles: Du hast Christus noch nicht in deinem Inneren erfahren.“ Diese Worte trafen Ruotsalainen und erweckten in ihm den frohen, rettenden Glauben zum ewigen Leben, durch den er ein Seelsorger für Laien und Pfarrer wurde. Denn Högman wies ihn dann auch hin auf die Gnade Gottes in Christus, auf die er in aller Sündhaftigkeit vertrauen sollte: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus stoßen.“ (Johannes 6,37) hatte der Heiland gesagt.

Für seinen Heiland Jesus Christus war Ruotsalainen sehr viel unterwegs, in Savo wie auch nach Pohjanmaa und Süd- und Ostfinnland. Man hat all diese Reisen zusammengerechnet und dabei festgestellt, dass er eine Strecke zurückgelegt hat, die so lang ist, als wenn jemand einmal um die Welt reist. Und diese Wege hat er fast ausschließlich zu Fuß zurückgelegt. Außerdem hat er noch sein Feld bestellen, seinen Acker bebauen müssen, denn er und seine Familie mussten von etwas leben. Wegen seines großen Wirkungskreises wurde er auch „Bischof zweier Bistümer“ genannt (Finnland war damals in nur zwei Bistümer eingeteilt). Überallhin wurde er gerufen. Es gelang ihm vielerorts, den ungesunden, schwärmerischen Entgleisungen in der Erweckung entgegen zu wirken.

Was verkündigte Ruotsalainen? Einen Hinweis können die Worte geben, die er in seine Bibel geschrieben hat, in der er täglich las, und die heute noch in Aholansaari, dem Bauernhof in Nilsiä, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte, aufbewahrt wird: „Paavali Ruotsalainen aus der Gemeinde Nilsiä ist der rechte Besitzer dieses Buches: In diesem Buch stehen Geheimnis und Kern des ganzen Lebensweges, und dieses große und köstliche Geheimnis kann keiner wissen und verstehen, wenn ihm nicht die Augen geöffnet werden für sein eigenes Elend, weder die Guten noch die Klugen.“ Was meint er damit? Zunächst einmal, dass die Gnade Gottes in Jesus Christus ein großes Geheimnis ist, das der natürliche Mensch nicht verstehen kann, vor allem auch nicht diejenigen, die es mit ihrem Verstand erfassen oder die durch eigene Leistung zu Gott kommen wollen. In der Sprache der Erweckung waren das die „Sorglosen“, während man die anderen die „Erweckten“ nannte. Gegenüber diesen Sorglosen, Sicheren verkündigte Ruotsalainen das Gesetz Gottes, damit sie ihr Elend erkannten, also sich als Sünder und damit in Gottes Gericht verloren begriffen. Nur so konnte ja die Gnade Gottes in Christus Jesus bei ihnen zum rettenden Durchbruch kommen. Seine Verkündigung war eine Botschaft an durch die Sündenerkenntnis Betrübte.

Allerdings, und das ist das gefährlich Einseitige bei Ruotsalainens Lehre, legte er den Schwerpunkt auf das Elend. So richtig es ist, dass wir nicht nur zur grundsätzlichen Bekehrung unser Elend erkennen müssen, sondern auch täglich zur Buße rechte Sündenerkenntnis brauchen und so auch in der Demut und Abhängigkeit von Christus erhalten werden, so ist doch das Zentrum des christlichen Glaubens die Gnade Gottes in Jesus Christus, das süße Evangelium. Das aber ließ Ruotsalainen fasst nur für den Anfang der Bekehrung gelten. „Mit Honig kamst du auf den Weg, aber Pech und Teer bekommst du zur Speise.“ Hier merken wir, welch eine Auswirkung es hatte, dass Ruotsalainen die Heilsordnung nicht kannte und auch nicht wollte. Hier liegt auch der Kern der Spannung mit Frederik Gabriel Hedberg und der Evangelischen Bewegung. Ruotsalainen hat ja völlig recht, wenn er an einen Freund schreibt: „Die Heuchler brüsten sich mit ihrer Heiligkeit, du aber, mein Freund, brüste dich vor dem Herrn mit deiner Bosheit.“ – aber es ist zu wenig. Was fehlt, ist der Hinweis auf die Gnade, auf den Trost aus dem Leiden und der Auferstehung Christi – nur so kann die tägliche Sündenerkenntnis uns in rechter Demut und in rechtem, getrosten Glauben erhalten. Es ist die Frage zu stellen, ob diese Haltung bei ihm nicht eine Folge von Fresenius’ Theologie ist, die er durch das Beicht- und Kommunionbuch aufgenommen hat. Gerade durch ihn ist diese Betonung der Buße, des Bußkampfes verbreitet worden. (C.F.W. Walther hat darunter als junger, gläubiger Student auch sehr zu leiden gehabt, bis er durch ein christliches Ehepaar, das sich seiner annahm, zur rechten evangelischen Erkenntnis geführt wurde.)

Es ist nicht verwunderlich, dass Ruotsalainen, durchaus im Anschluss an den alten Pietismus, etwa eines Spener, auch die Heilsgewissheit sehr in den Hintergrund schob, deshalb auch das Evangelium in seiner Köstlichkeit verkürzte. Er meinte, die Menschen würden zu sicher. So hat er viele kostbare Wahrheit – wie diejenige, dass die Gnade in der Schule des Kreuzes geschenkt wird – vereinseitigt und die frohe Botschaft verdunkelt.

In den Jahren 1830/1840 kam es zu einer mächtigen Bewegung in Finnland. Im Osten (Karelien) wirkte der Pfarrer Henrik Renqvist, mit dem Ruotsalainen aber nicht überein kam, weil Renqvist und die von ihm ausgehende „Beterbewegung“ eine starke Gesetzlichkeit hatte (mit vielen Gebetsübungen und Alkoholverbot), der sich Ruotsalainen, der durchaus etwas von evangelischer Freiheit wusste (und sich hierin wohltuend vom alten und neuen Pietismus unterschied), entgegen stellte. Die Erweckung, die durch Ruotsalainen geschenkt wurde, breitete sich vor allem im Westen und Süden aus. So wirkte in Westfinnland der Kaplan Jonas Lagus, der in vielen Gemeinden eine große Bewegung entfachte und sich an Ruotsalainen anschloss und der Erweckung auch viele junge Pastoren zuführte. Nils Gustav Malmberg hatte als Theologiestudent in der schwedischen Gemeinde in St. Petersburg Dienst getan und war durch den Kontakt mit den Deutschen, die durch Johannes Goßner, der einige Jahre in der russischen Hauptstadt gewirkt hatte, zu geistlichem Leben erweckt worden. Als Hilfspfarrer in Lapua in Pohjanmaa wurde er zum Werkzeug Gottes in dieser Gegend. Er galt als der beste Prediger seiner Zeit. Auch viele Studenten und Pfarrer in der Hauptstadt schlossen sich an die Bewegung um Ruotsalainen an, so etwa der Theologe und begabte schwedischsprachige Dichter Lars Stenbäck, dann C.G. von Essen und die Brüder J.F. Bergh und J.I. Bergh.

Um in der Kirche zu wirken, gaben diese Pastoren 1835-39 zwei schwedischsprachige Zeitschriften heraus, wobei die erste zunächst aus Mangel an Beziehern einging, die andere verboten wurde (Finnland stand damals unter russischer Herrschaft, bis 1917). Männer wie Stenbäck waren dabei bewusst auch Theologen, lutherische Theologen, die auf der Grundlage von Bibel und Bekenntnis stehen wollten. Stenbäck konnte sagen: „Wer uns angreift, der greift Luther, die Bibel, das Bekenntnis an.“

Der Widerstand in der Kirche war, wie so oft in der Geschichte der Gemeinde des Herrn, groß. 1839 wurden Ruotsalainen, Malmberg und etliche andere, insgesamt sechs Pastoren und 60 Laien, auf einem Gerichtstag in Kalajoki in Pohjanmaa zu hohen Geldstrafen (die Laien) bzw. halbjähriger Amtsenthebung (die Pastoren) verurteilt, weil sie „unerlaubte Zusammenkünfte“ (es gab noch das Konventikelgesetz) abgehalten und unerlaubt für die äußere Mission gesammelt hatten. Dann versuchte man die erweckten Pastoren dadurch klein zu kriegen, indem man ihnen die Aufstiegschancen verbaute. Lange Zeit konnten sie nicht Dozenten an der Universität werden. Ein beliebtes Mittel war auch die Versetzung in die Gefängnisseelsorge. Sie waren als „intolerant, hochmütig, lieblos“ verschrien – was uns auch heute sehr bekannt vorkommt, wenn wir uns für die uneingeschränkte Gültigkeit und Verbindlichkeit der biblischen Wahrheit einsetzen.

Im persönlichen Leben musste Paavo Ruotsalainen durch viel Trübsal gehen. Seine erste Frau stand der Erweckung völlig verständnislos gegenüber und behinderte ihn, wo sie nur konnte. Sein einziger Sohn wurde von Gegnern der Erweckung ermordet. Oft war das Leben in der Familie von großer Hungersnot gekennzeichnet, Rindenbrot war die einzige Nahrung. Ruotsalainen dachte an eine Auswanderung nach Polen, die aber missglückte. Auch an seinem Lebensende hatte er, der große Seelsorger für Tausende, viele Anfechtungen und Nöte.

Professor W.A. Schmidt beschreibt ihn als einen „äußerlich kleinen, hässlichen und armen Mann; aber es ruhte etwas von dem Geist eines alttestamentlichen Propheten auf ihm“. Seine Botschaft wollte nicht in erster Linie den Verstand ansprechen, sondern den einzelnen Menschen ins Herz treffen. Damit das seelsorgerliche und prophetische Moment recht zum Zuge kommt, muss aber auch eine geistliche Trennlinie gezogen werden, die Grenze zwischen Glauben und Unglauben, Leben und Tod. Ruotsalainen sprach von den „Erweckten“ und „Sorglosen“. Aber er wusste, dass selbst nicht alle „Erweckten“ gerettet werden, weil es da wahre wie auch falsche Christen gibt, nämlich solche, die den schmalen Weg mit seinen Nöten, Leiden und Kämpfen gehen und solche, die lieber den breiten Weg mit der Masse, der Welt, gehen.

Die schon oben angeführte Lehrhaltung Ruotsalainens und seiner engsten Mitarbeiter, wie Malmberg, führte allerdings auch zu schweren Spannungen und Spaltungen in der Erweckungsbewegung, so 1844, als Frederik Gabriel Hedberg sich löste (siehe unten) und 1852, als viele junge Pastoren sich gegen Ruotsalainen und Malmberg stellten, weil die beiden die Sehnsucht und Zerrissenheit des Herzens und das unruhige Gewissen so stark betonten und dadurch der feste Glaubensstand im Evangelium zu kurz kam und ebenso auch die Heiligung. Letztere Kreise öffneten sich der Theologie von Johann Tobias Beck, die durch A. Kihlmann, der Beck gehört hatte, auch nach Finnland gebracht wurde.

Ruotsalainens Bewegung hatte  zunächst einen Stillstand, während die Evangelische Bewegung um Hedberg sich ausbreitete. Die Theologen, die der Beck’schen Richtung angehörten, standen zwar in Differenz zu den beiden anderen Kreisen der Erweckung, wirkten aber für die Erweckung insgesamt in der Kirche, so dass schon mit der Synode 1859 in Turku eine Wende für die Kirche eintrat. Lars Stenbäck wurde Professor für Pädagogik und übernahm dann eine große Pfarrei in Pohjanmaa; C.G. von Essen wurde Professor für Praktische Theologie, A.W. Ingman Professor für Bibelwissenschaften, Kihlmann Rektor einer großen Knabenschule in der Hauptstadt. Er gewann Dompropst T. Renvall, den späteren Erzbischof, für Becks Theologie. 1893 hieß es über die finnische Kirche: „Unsere Kirche ist in den Händen von Richtungen. Die Biblische Richtung hat die Herrschaft im Landtag, den Synoden und den Domkapiteln. Dort ist mehr staatsmännische Klugheit. Die Evangelische Richtung aber leitet das religiöse Leben des Volkes.“

Die Erweckungen, die der Herr geschenkt hatte, erwiesen sich als fest und tragfähig, auch als Ruotsalainen 1852 und Malmberg 1858 heimgerufen wurden.

Die Erweckungsbewegungen sind zumeist in der Kirche geblieben, trotz der sich immer mehr abzeichnenden geistlich-theologischen Probleme. (Etliche haben aber auch den Weg der Trennung gefunden, woraus die Konfessionelle Lutherische Kirche Finnlands entstand. In neuerer Zeit haben sich, vor allem wegen des immer stärkeren Einbruch des Liberalismus und der Ökumene, auch weitere Kreise getrennt, die in der Lutherischen Bekenntniskirche oder in unabhängigen lutherischen Gemeinden sich gesammelt haben, teilweise auch in Hausgemeinden.) Ähnlich wie in Deutschland besuchen sie den Gottesdienst und haben zusätzlich ihre eigenen Andachten, die auf dem Hof oder in der Stube eines Bauern abgehalten werden (in den Städten gibt es auch Versammlungsräume). Der Bauer lädt den Pfarrer ein, ruft die Freunde und Nachbarn zusammen. Auch Kinder nehmen an diesen Versammlungen teil und wachsen so in den Glauben hinein. Sie langweilen sich keineswegs in den Versammlungen, denn es wird viel gesungen, bei den „Erweckten“, also der von Ruotsalainen ausgehenden Bewegung, aus den „Zions Gesängen“, das viele Lieder Wilhelmi Malmivaaras, des Sohnes N.G. Malmbergs, enthält, früher auch viele herrnhutische Lieder. Dann wird vom Pastor oder dem Versammlungsleiter ein Bibelabschnitt oder eine Predigt vorgelesen oder ein Text aus einem lutherischen Erbauungsbuch, von Luther, Arndt, Scriver, Francke. Dann wird wieder gesungen und anschließend spricht ein Lehrer oder ein Bauer und so fort. Die Ansprachen sind kurz, fünf oder zehn Minuten lang, höchsten eine Viertelstunde. Gebetet wird still. Der Pastor fasst schließlich alles zusammen. Frauen sprechen in den Versammlungen gemäß der biblischen Ordnung nicht. Solch eine Versammlung dauert etwa eineinhalb Stunden. Die Ansprachen sollen dabei keine Predigten im eigentlichen Sinne sein, sondern einen Gedanken aus dem Bibeltext oder auch von einem gesungenen Lied aufgreifen und sind praktisch ausgerichtet. Auch Fragen der Erziehung und des Verhältnisses von Eltern und Kindern zueinander werden zuweilen behandelt. Seit 1893 findet jährlich einmal in der ersten vollen Juliwoche eine große Sommerkonferenz statt, zu der tausende Menschen aus allen Teilen Finnlands kommen (auch die übrigen Erweckungsbewegungen halten solche Versammlungen ab). Sie stehen unter einem aus der Bibel entnommenen Generalthema und haben neben Festrede und Festgottesdienst mit Abendmahl sowie dem großen Schlussgebet viele Einzelveranstaltungen für Erwachsene, Jugendliche und Kinder, auch Berichte aus der Mission.

Worin besteht das Besondere dieser Ruotsalainen’schen Kreise? Sie wissen sich als eine Gemeinschaft von „elenden Heiligen“, von geistlich Armen, die dem Herrn die Not ihres Herzens klagen und „zum Gnadenstuhl des Herrn“ fliehen, denn bei Christus ist Leben und Gerechtigkeit. „Daher ist mitten im Tod verborgenes Leben, mitten in der Trauer geheime Freude, mitten im Gefühl der Sündigkeit und des Gerichts Empfang der Gnade und der Vergebung.“ (Sentzke, S. 109) Es geht in den Versammlungen um Trost und Seelsorge.

Die finnische Erweckung ist aber nicht in frommen Zirkeln stecken geblieben, sondern die Erweckung hat, echt lutherisch, frei gemacht für den Nächsten und das eigene Volk und die Mission. Die verschiedenen Bewegungen der Erweckung haben einen bedeutenden Anteil an der Erziehung und Bildung des finnischen Volkes, besonders durch die von ihnen gegründeten Volkshochschulen. 1917/18 waren sie aktiv in der Unabhängigkeitsbewegung und haben in den schweren Tagen im zweiten Weltkrieg treu zu ihrem Vaterland gestanden. Auch der Kampf gegen die bolschewistische Gefahr in den 1920er und 1930er Jahren ist von den erweckten Bauern wesentlich mitgetragen worden. Dass Finnland nach dem zweiten Weltkrieg nicht das gleiche Schicksal widerfuhr wie den anderen Staaten Ostmitteleuropas, sondern es ein freies Land blieb, ist gerade auch den vielen Gebeten zuzuschreiben, die von den erweckten Kreisen in jenen Jahren zum Herrn gingen. Dennoch haben sie nie die Politik auf die Kanzel gebracht, sondern Glieder der Bewegung haben sich engagiert, als Reichstagsabgeordnete, als Mitglieder der Regierung. Volksmission und Volksbildungsarbeit ist einer der Schwerpunkte des Vereins Herättäjä (Erwecker), der 1912 gegründet wurde mit Sitz in Lapua. Neben Evangelisationen unterthält er Volkshochschulen und eine große Volksakademie. Hier geht es auch um die Bildung und Erziehung der Jugend. Außerdem hat die Sonntagsschularbeit eine große Bedeutung, die Johann Fredrik Bergh schon 1832 begonnen hat. Seit den Tagen von Ruotsalainen und Malmberg ist die äußere Mission ein wichtiges Anliegen. Sie arbeiten dabei mit der Finnischen Missionsgesellschaft zusammen. Außerdem sehen sie eine geistliche Verantwortung für die Stammesverwandten, also Finnen in Amerika aber auch die Esten, Ungarn und Ingrier, um ihnen das Wort zu bringen.

Frederik Gabriel Hedberg und die Evangelische Bewegung

Nach Geert Sentzke: Die Kirche Finnlands

und Burkard Krug: Erweckung im hohen Norden

Frederik Gabriel Hedberg wurde 1811 in Brahestad in Österbotten, nahe dem Bottnischen Meerbusen, geboren. Bereits im Alter von 14 Jahren machte er schwere innere Kämpfe durch: „So verbrachte ich oft Stunden in der Winterkälte mit Lesen und Beten (ein Tor spricht). In der Einsamkeit des Waldes lag ich auf den Knien auf Schneeverwehungen und bat Gott eifrig um Gnade. Auch durchforschte ich auf das Sorgfältigste mein Leben, meine Worte und Gedanken.“ (Hedberg; in: Krug, S. 49) Aber doch war das nur ein vorübergehendes Ereignis in seinem Leben. Im Jahr 1826 begann er mit dem Studium in Turku, das er nach dem Universitätsbrand in Helsinki fortsetzte. Er studierte zunächst Philosophie und erst danach Theologie. 1834 wurde er ordiniert. In dieser Zeit schloss er sich nach seiner Bekehrung der Bewegung um Paavo Ruotsalainen an. Wie Renqvist und die Pastoren um Ruotsalainen kam auch er mit der Kirchenbehörde in Konflikt und musste 1840 daher als Strafe zwei Jahre als Gefängnisseelsorger in Oulu arbeiten und durfte während dieser Zeit keine andere Amtstätigkeit ausüben. In dieser Zeit las er neben pietistischen Schriften vor allem Luther. „Gott ließ mich unter dem gebrechlichen Äußeren eine Tiefe der geistlichen Erfahrungen und wahres Glaubensleben sehen, das nicht nur mich mit Seele und Herz dem Alten zugetan machte, sondern mir auch ein neues Licht öffnete auf den verborgenen Weg des Glaubens.“ (Hedberg; in: Krug, ebd.)

Danach war er dann in der Gegend von Turku im Dienst, ab 1862 schließlich in Kemiö. Von hier aus entfaltete er eine rege Tätigkeit, die weite Kreise Südfinnlands erreichte.

Wie kam es dann, dass Hedberg und Ruotsalainen sich trennten? Hedberg hatte den Eindruck gewonnen, dass Ruotsalainen den Glauben auf Gefühle gründen wolle. Ruotsalainen dagegen meinte, Hedberg halte den Glauben für ein bloßes Fürwahrhalten der Heiligen Schrift. Hedberg aber kam es vor allem darauf an, dass der Christ sich in seinem Glauben auf Christus gründet, nicht auf seine Gefühle, auch nicht auf die Vernunft. Die fortwährende Beschäftigung des Gläubigen mit seinen Gefühlen und Erlebnissen aber hielt er, durchaus zurecht, für gefährlich, da sie von den objektiven Gnadenmitteln Gottes ablenkt und hinführt zu einem subjektivistisch verbogenen Glauben.

Was sind nun die Grundlinien, die Frederik Gabriel Hedberg und die von ihm ausgehende Evangelische Bewegung lehren? 1) Die Grundlage des Glaubens ist für sie, völlig richtig, das Versöhnungswerk Jesu Christi, das für alle Menschen geschehen ist, auch als allgemeine (oder objektive) Rechtfertigung bezeichnet (Materialprinzip), offenbart in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes. Versöhnung und Rechtfertigung (persönliche oder subjektive Rechtfertigung) bezeugen sie als das Zentrum der Bibel. Hedberg sagte dazu 1843, als er am Vorabend seiner Einführung in Pöytis mit den erweckten Pfarrern zusammen kam: „So ging mir deutlich das Licht des Wortes Gottes auf, dass alles dieses [Christi Verdienst und die Rechtfertigung durch den Glauben, Hrsg.] mir schon vollkommen von Christus erworben war, und dass ich nichts anderes dazu brauchte, als allein im Glauben das Wort des Evangeliums zu umfassen, das Gnade und Rechtfertigung predigt.“ (Hedberg; in: Krug, S. 50) Er legte seine Gedanken nieder in seinem Buch „Glaubenslehre zur Seligkeit“. Außerdem bekennen sie sich vehement zum Formalprinzip der Reformation, nämlich dass die Heilige Schrift Gottes oberste Autorität ist, und zwar ist die ganze Schrift uneingeschränkt verbindlich. Gerade deshalb wissen sie sich viel stärker als etwa Ruotsalainen als Schüler Luthers und haben die pietistische Literatur abgetan. „Was wir nur tropfenweise aus andern Schriften bekommen, das gibt Luther wie ein fließender Strom aus dem frischen Gesundbrunnen Zion.“ (Hedberg; in: Sentzke, S. 121) Darum hat der Verlag der Evangelischen Bewegung viele Lutherschriften verbreitet und 1996 einen großen Teil der Lutherschriften (20.000 Seiten) auch auf CD gebrannt.

2) Es ist daher nur folgerichtig, dass Hedberg und mit ihm die Evangelische Bewegung das Objektive, nämlich das geschehene Rettungswerk Christi und die Gnadenmittel, Wort, Taufe, Abendmahl, durch die der Heiland dieses austeilt, betont, ganz ähnlich wie Emil Wacker und die nordschleswigsche Erweckung. Das Abendmahl wird zwar in allen finnischen Erweckungskreisen treu gefeiert, hat aber doch bei F.G. Hedberg eine größere Bedeutung. Vor allem aber wird die Taufe, und zwar gerade auch die Kindertaufe, hoch gewertet, weil in ihr bereits das ganze Heil angeboten, dargereicht, geschenkt wird. Die Taufe wirkt durch das Wort die Wiedergeburt, verleiht das Kindesrecht und die Kindesstellung. Darum ist gerade die Taufe ein wichtiger Grundstein für die Heilsgewissheit, besonders dann, wenn durch Anfechtungen der Glauben zusammenzubrechen droht.

3) Ruotsalainen stand der Heilsgewissheit skeptisch gegenüber und rückte mehr den Glaubenskampf ins Zentrum, der bis zum Tod andauert, und beschrieb den Glauben als harrend, so dass das wirkliche Ergreifen und Haben der Rechtfertigung in den Hintergrund gedrängt wurde. Dagegen betont die Evangelische Bewegung aufgrund der Heiligen Schrift sehr die Tatsache der Heilsgewissheit, die in der durch Christus geschehenen Erlösung (Versöhnung, allgemeine Rechtfertigung) wurzelt. Dadurch ist die ganze Art dieser lutherischen Erweckung heller, froher als bei der Bewegung Ruotsalainens, bestimmt von der Freude aufgrund der Erlösung, die durch Jesus Christus für jeden Menschen geschehen ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in den Liedern in Siionin Kannel (Zionsharfe), dem Gesangbuch der Bewegung. Wir haben es hier mit einer echt lutherischen Erweckungsbewegung zu tun.

Der Schwerpunkt der Evangelischen Bewegung liegt in Südfinnland, bis hin nach Karelien (auch Wiborg war früher ein Schwerpunkt). Im Unterschied zu den anderen Erweckungsbewegungen hat diese auch den schwedischen Bevölkerungsteil erfasst, für den seit 1922 eine eigene Einrichtung, auch unter dem Namen „Lutherische Evangeliumsvereinigung“ (Svenska Lutherska Evangeliföreningen i Finland), besteht. Selbst nach Schweden ging der Einfluss, vor allem auf die Kreise der Leser, die mit Carl Olof Rosenius verbunden waren, mit dem Frederik Gabriel Hedberg in engem Kontakt stand.

Im Jahr 1873 gab Hedberg der Bewegung eine feste organisatorische Grundlage, nämlich den „Lutherischen Evangeliumsverein in Finnland“ mit Pastoren und Laienpredigern und weiteren, die vom Domkapitel die Predigterlaubnis haben. Über 350 örtliche Vereine gehören der Lutherischen Evangeliumsvereinigung an. Sie haben 107 Bethäuser und 10 Volkshochschulen sowie ein theologisches Konvikt in Helsinki. Der finnische und der schwedische Verein sind sowohl in der inneren wie auch in der äußeren Mission tätig. Für die innere Mission werden unter anderem drei Zeitschriften herausgegeben: Sanansaattaja (Der Botschafter) als allgemeines Blatt der Vereinigung, Nuotta als Jugendzeitschrift und Vinkki als Kinderblatt. Kinderarbeit, Jugendarbeit, Studentenarbeit, Bibelkongresse, Literaturarbeit gehören zu den Schwerpunkten des Wirkens der Lutherischen Evangeliumsvereinigung.

Seit dem Jahr 1900 ist die Vereinigung auch direkt in der äußeren Mission aktiv, zunächst in Japan. Seit den 1970er Jahren sind auch Arbeiten in Kenia, Sambia, Kamerun, Papua-Neuguinea und in Russland hinzugekommen. Die Arbeit in der Russischen Föderation konzentriert sich auf die ingrische Bevölkerung, aber auch die russischsprachige Arbeit hat sich ausgeweitet. Etwa 60 Missionare sind insgesamt derzeit im Einsatz.

Verwendete Literatur

- Jakob B. Bull: Hans Nielsen Hauge. Kassel 1955.

- Burkard Krug: Erweckung im hohen Norden. Bad Liebenzell 1974.

- Michael J. Langlais: Gisle Johnson and the Johnsonian Awakening. in: Lutheran Synod Quarterly. Vol. 36. 2/1996.

- Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3., verb. und verm. Aufl. Hrsg. von Albert Hauck. Band 3. Leipzig 1897.

- Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3., verb. und verm. Aufl. Hrsg. von Albert Hauck. Band 7. Leipzig 1899.

- Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3., verb. und verm. Aufl. Hrsg. von Albert Hauck. Band 17. Leipzig 1906.

- Carl Olof Rosenius: Wegweiser zum Frieden. Neuhausen/Stuttgart. o.J.

- Henric Schartau: Stadien des Heilswegs. Bielefeld 1979.

- Geert Sentzke: Die Kirche Finnlands. 3., neu bearb. Aufl. Helsinki 1968.