Die Buße als Ausgangspunkt der evangelischen Erneuerung der Kirche – die 95 Thesen


Die Buße als Ausgangspunkt der evangelischen Erneuerung der Kirche – die 95 Thesen

Das römisch-katholische Bußsakrament ist ein typischer Ausdruck der römischen Irrlehre im Zentrum des christlichen Glaubens, nämlich der Rechtfertigung. Der römische Bußbegriff kennt den Glauben gar nicht, dafür aber menschliche Werke, Vorbedingungen in verschiedener Weise. Schon die Reue wird nicht als ein Werk Gottes durch das Gesetz gefasst, sondern als etwas, das der Mensch im Herzen hervorbringen muss. Als nächstes Werk muss er alle Sünden bekennen – denn nur für diejenigen wird er eine Absolution (Lossprechung) erhalten. Und schließlich muss er dann noch genugtuende Werke vollbringen, so, als hätte Christus keine vollkommene Genugtuung für uns erworben.

Die Absolution, und damit wird das Evangelium entscheidend eingeschränkt, ja, letztlich aufgehoben, gelte nach römischer Lehre nur für die Sünden vor Gott, es bliebe aber eine zeitliche Strafe, die die Kirche zu verhängen habe. Die Bibel kennt das nicht. Gott kann wohl zeitliche Folgen der Sünde verhängen – aber, wohl gemerkt, Gott, nicht der Mensch. Es ist ganz natürlich, dass durch solch ein Verständnis der Buße der Schwerpunkt von der Sünde vor Gott verschoben wird auf die Genugtuung, die gegenüber der Kirche zu leisten ist. Und das musste verheerende Folgen für das Sündenverständnis wie auch das Gottesverständnis haben. (vgl. Heinrich Fausel: Dr. Martin Luther. Sein Leben und sein Werk. 2. Aufl. Neuhausen-Stuttgart 1996. Bd. 1, S. 82). „Die zeitlichen Strafen (wozu auch das Fegfeuer gehört) sind in der Absolution nicht aufgehoben, sie müssen durch Genugtuungswerke wie Fasten, Almosengeben, Wallfahrten abgebüßt werden, welche der Beichtiger zumisst. Kein Wunder, dass der Sünder um der Todsünden willen verhängte ewige Strafen sehr leicht nimmt, dagegen vor den zeitlichen Strafen und den darauf folgenden Genugtuungswerken, die oft jahrelang dauern konnten, einen gründlichen Respekt empfindet.“ (s. Fausel, ebd.)

Gleichzeitig wurde der Sündenernst weiter unterhöhlt, indem die römische Kirche versuchte (und bis heute versucht), den Menschen entgegen zu kommen, damit sie die Genugtuung erfüllen können. Sie bietet ihnen Ersatzleistungen an, eben den Ablass, der nun wiederum bei der römischen Kirche als einer immer auf Geld aus seienden Institution, vor allem dazu dienen sollte, den Kirchenbau, etwa des Petersdomes, zu finanzieren, so dass man von einem „heiligen Geschäft“ sprach (vgl. Fausel, Bd. 1, S. 83) und sogar „Ablass auf Vorrat“ verkaufte, seit 1476, da es so erträglich war, Ablass für die Toten.

Das Sündenbewusstsein, eine klare Erkenntnis von der Heiligkeit Gottes wurde damit völlig zerstört. Die Menschen fassten den Ablassbrief vielfach als Freibrief zum Sündigen auf. Luther führt in seiner Schrift „Wider Hans Worst“ (1541) unter anderem auf, auf welche unverschämte Weise etwa Tetzel den Ablass anbot: „Ferner: Wenn einer Geld für eine Seele im Fegfeuer in den Kasten lege, so führe die Seele aus dem Fegfeuer in den Himmel, sobald der Pfennig auf den Boden fiele und klänge.

Ferner: Die Ablassgnade sei eben die Gnade, durch welche der Mensch mit Gott versöhnt werde.

Ferner: Es sei nicht nötig, Reue, Leid oder Buße für die Sünden zu tun, wenn einer den Ablass oder die Ablassbriefe kaufte (eigentlich sollte ich sagen: gewönne). Er verkaufte auch [Ablass für] künftige Sünden. Derlei Dinge trieb er gräulich viel; es war ihm dabei nur ums Geld zu tun.“ (s. Wider Hans Worst. 1541. WA 51,538,23 ff.; in: Fausel, Bd. 1, S. 85.86)

In seinem Brief, den Luther aus diesem Anlass an Erzbischof Albrecht von Mainz schrieb, betonte er: „Die Werke der Gottesfurcht und Liebe sind unendlich wertvoller als die Ablässe. Und doch wird darüber weder mit solchem Gepränge noch mit solchem Eifer gepredigt, ja, man schweigt davon, weil die Ablasspredigt wichtiger ist, während es doch die erste und einzige Sorge aller Bischöfe sein sollte, dass das Volk das Evangelium und die Liebe Christi lerne. Die Ablasspredigt hat Christus nirgends geboten, wohl aber mit großem Nachdruck die Evangeliumspredigt. Welch große Schande und welch große Gefahr ist es also für einen Bischof, wenn er das Evangelium schweigen lässt, dafür aber den Ablasslärm unter seinem Volk erlaubt und dafür mehr übrig hat als für das Evangelium! Wird Christus nicht zu solchen sprechen: „Ihr seihet Mücken und schlucket Kamele“ (Matth. 23,24)?“ ((Briefe 1,110,5 ff.; in: Fausel, Bd. 1, S. 87) Hier wird bereits deutlich, worum es Luther geht: um das ewige Heil der Menschen, dem Zentrum der Schrift, das Evangelium. Und um des Evangeliums willen scheut er sich auch nicht, den Bischof selbst scharf anzusprechen.

Und das ist genau der Grund, der ihn dazu treibt, schließlich die 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg zu heften: die Not der verführten Seelen, die nach Hilfe schreien (vgl. Fausel, Bd. 1, S. 88).

Luther will dabei in den 95 Thesen nichts anderes sein als ein treuer Ausleger der Heiligen Schrift Gottes, der das Evangelium entfaltet.

Er hebt dabei die Buße nicht auf, wie das heute vielfach die Tendenz ist, nein, er will sie vielmehr von der Schrift her erneuern. Gerade die ersten sieben Thesen sprechen daher von der evangelischen Buße, die das gesamte Leben des Menschen umfasst: „Unser Herr und Meister Jesus Christus hat mit seinem Wort „tut Buße“ usw. gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen [nichts als] Buße sein solle.“ (1. These) In der zweiten These grenzt Luther diese evangelische Buße klar ab gegen das Bußsakrament und betont auch noch einmal in seinen Erläuterungen, dass die wahre, innerliche Buße nicht mit dem römischen Bußsakrament identisch ist, denn letzteres ist etwas äußeres, kann erheuchelt sein; außerdem gibt es gar keinen Befehl Christi für ein Bußsakrament. Die wahre innerliche Buße aber führt, These 3, zu mancherlei Abtötung des Fleisches als Wirkung und dauert an (These 4), bis der Mensch in die Herrlichkeit kommt.

Nachdem er dann in den Thesen 5-7 die Macht des Papstes, Strafe zu erlassen, sehr einschränkt, greift er in den Tehse 8-13 den Ablass für die Toten an und unterstreicht in These 13: „Die Sterbenden bezahlen mit dem Tode alles, sie sind den kanonischen Gesetzen schon abgestorben und also von Rechts wegen davon los und frei.“ (s. Fausel, Bd. 1,S. 91) An dem Wahn des Fegfeuers hält Luther in den Thesen noch fest, hat sich später aber ausdrücklich davon losgesagt.

Welch ein Ungeheuer der Ungewissheit das römische Bußsakrament ist, das aufbaut auf der menschlichen Reue, hebt Luther dann in These 30 hervor: „Niemand ist sicher über die Echtheit seiner Reue, wieviel weniger über die Erlangung des vollen Erlasses.“ (s. Fausel, Bd.1, S. 93) Wenn schon die Grundlage der römischen Buße völlig schwankend, fragwürdig ist, so stürzt das ganze Bußsakrament als eine menschliche Handlung, ein menschliches Werk, ein. Darum geißelt er auch scharf den Versuch, Gewissheit auf dem Ablass zu begründen: „Verdammt in Ewigkeit samt ihren Lehrmeistern werden die sein, die durch Ablassbriefe ihres Heils gewiss zu sein glauben.“ (These 32, s. Fausel, Bd. 1, S. 94)

Dem Ablass- und Verdienstdenken, der menschlichen Werkerei, setzt Luther das Evangelium entgegen und betont, dass es völlige Vergebung ohne Ablass gibt – und zwar darum, weil der Christ Anteil hat an Gottes Gütern. „Jeder wahre Christ, ob lebendig oder tot, hat Anteil an allen Gütern Christi und der Kirche; diese Teilnahme ist ihm auch ohne Ablassbrief von Gott gegeben.“ (These 37, s. Fausel, ebd.) In den Erläuterungen führt er dazu aus: „So kommt es durch die unvergleichlichen Reichtümer der Barmherzigkeit Gottvaters, dass ein Christ alle Gaben in Christus rühmen und im Glauben genießen kann: ja, Gerechtigkeit, Kraft, Geduld, Demut, kurz alle Verdienste Christi sind auch die seinigen kraft der Einheit des Geistes im Glauben an ihn. Und wiederum: Alle seine Sünden sind nicht mehr die seinen, sondern Christi Sünden kraft derselben Einheit; denn in Christus sind sie alle verschlungen ... Ja, er legt seine Hand auf uns, und wir haben’s gut; er breitet seinen Mantel aus und überdeckt uns, der hochgelobte Erlöser in Ewigkeit, Amen.“ (s. Fausel, Bd. 1, S. 94 f., Anm. 37)

In These 38 greift Luther einen weiteren Hauptpunkt des römischen Bußwahns an, nämlich die Behauptung, dass Papst und Priester Richter im Bußsakrament seien. Was sie proklamieren, das ist nichts anderes als eine „Erklärung der göttlichen Vergebung“, also Verkündigung des, was Gott tut, in Christus längst getan hat und nun durch das Wort zueignet. „Deshalb rechtfertigt dich weder das Sakrament noch der Priester, sondern der Glaube an das durch den Priester und sein Amt vermittelte Wort Christi.“ (Erläuterungen, s. Fausel, Bd. 1, S. 95, Anm. 38) Der Glaube tritt an die entscheidende Stelle in der Buße: Nur der Glaube hat die Vergebung, die Christus längst auf Golgatha erworben hat.

Wie wenig Wert der Ablass hat, das hebt Luther weiter hervor, wenn er betont, dass die Werke der Liebe besser sind als jeder Ablass: „Lehren muss man die Christen: Wer dem Armen gibt oder dem Bedürftigen leiht, tut besser, als wenn er Ablass löst... Lehren muss man die Christen: Wer einen Bedürftigen sieht, ihn aber missachtet und sein Geld für Ablässe ausgibt, der erwirkt sich damit nicht den Ablass des Papstes, sondern Gottes Ungnade.“ (Thesen 43 und 45; in: Fausel, Bd. 1, S. 95 f.)

Der Ablass, immer wieder hebt Luther das hervor, kann kein Heil bewirken. „Ewig unselig ist jede Predigt, die den Leuten Sicherheit und Vertrauen einredet auf etwas anderes als auf die nackte Barmherzigkeit Gottes, die Christus ist.“ (Erläuterungen, in: Fausel, Bd. 1, S. 96, Anm. 46). Darum ist auch die Evangeliumspredigt unendlich viel mehr wert als jede Ablasspredigt, ja, die Evangeliumspredigt geht auch über das Bußsakrament: „Besser ist’s noch, das Sakrament zu unterlassen als das Evangelium nicht zu verkündigen.“ (Erläuterungen; in: Fausel, Bd 1, S. 97, Anm. 47)

Da das Evangelium der einzige und wahre Schatz der Kirche ist, während wir Menschen alle Sünder sind und nie Gottes Forderung erfüllen, fällt auch ein weiterer römischer Wahn, auf den sich der Ablass unter anderem stützt, nämlich die Behauptung von überschüssigen Werken der „Heiligen“. Sie gibt es gar nicht. „Kein Heiliger hat in diesem Leben die Gebote Gottes hinreichend erfüllt, also haben sie überhaupt nichts Überschüssiges getan ... Jeder Heilige ist schuldig, Gott zu lieben, soviel er kann, ja, mehr als er kann; das aber hat keiner getan und konnte es auch nicht tun. ... Da Christus das Lösegeld und der Erlöser der Welt ist, ist er darum auch in aller Wahrheit der einzige Schatz der Kirche. Aber dass er der Schatz der Ablässe ist, bestreite ich bis auf bessere Belehrung.“ (Erläuterungen, in: Fausel, Bd. 1, S. 98, Anm. 48). Christus, das ist ganz wichtig, ist für unsere Erlösung gestorben, nicht für den Ablass.

Was also ist der wahre Schatz der Kirche? Christus mit seinem Evangelium, nichts anderes: „Wohlüberlegt sagen wir: Die Schlüssel der Kirche (durch das Verdienst Christi uns geschenkt) sind dieser Schatz. ... Der wahre Schatz der Kirche ist das hochheilige Evangelium der Ehre und Gnade Gottes.“ (Thesen 60; 62, in: Fausel, Bd. 1, S. 98) Aber dieser Schatz ist vielen verhasst, weil nur der ihn erlangen kann, der in Demut seine völlige geistliche Armut anerkennt und sich beschenken lässt – während doch der Ablass der menschlichen Werkerei dient. Die These 62 ist, wenn man so will, das Zentrum des biblischen, evangelischen Glaubens, wie ihn die lutherische Reformation wieder erneuert hat. In den Erläuterungen schreibt Luther zu der These 62: „Wenn das sündige Gewissen diese allersüßeste Botschaft hört, wird es wieder lebendig, frohlockt und jauchzt, ist voll Vertrauen und fürchtet weder den Tod noch die Todesstrafen noch die Hölle. Wer sich darum immer noch vor den Strafen fürchtet, der hat Christus und die Stimme des Evangeliums noch nicht gehört, sondern die Stimme Moses. Darum wird aus diesem Evangelium die wahre Ehre Gottes geboren, sofern wir unterwiesen werden, dass nicht durch unsre Werke, sondern durch die erbarmende Gnade Gottes in Christus das Gesetz erfüllt ist und erfüllt wird, nicht durchs Werken, sondern durchs Glauben, nicht dadurch, dass wir Gott etwas anbieten, sondern dadurch, dass wir alles von Christus empfangen und daran teilhaben – von ihm, aus dessen Fülle wir alle empfangen und teilhaben.“ (in: Fausel, Bd. 1, S. 98 f., Anm. 50) Das ist genau das, was Paulus im Römer 4 schreibt, nämlich dass Gott den Gottlosen gerecht spricht, nicht den, der es sich verdient hat.

Luther wird darum nicht müde zu betonen, dass das Evangelium größere Gnade hat als der Ablass (These 78) und Christi Kreuz mehr ist als jeder Ablass (These 79).

Auch wenn Luther in den 95 Thesen noch mancherlei Römisches stehen lässt, was er später richtigerweise ebenfalls verworfen hat, wie das Papsttum, so stellen sie doch tatsächlich bereits den zentralen Angriff auf die Papstkirche und ihre Menschenlehre und Menschenherrschaft dar. Es geht bereits in diesen 95 Thesen um das wahre, das biblische Evangelium, es geht um die Autorität der Bibel selbst – und damit um die Aufrichtung der Herrschaft Jesu Christi in der Kirche. „Luther hebt die Teilung der Gewalten zwischen Gott und Mensch auf. Christus ist allein, ganz und in jeder Beziehung der Herr der Kirche. Christi Ruf zur Buße umfasst unser ganzes Leben bis zum letzten Augenblick; er lässt sich nicht mit einer Teilbuße abspeisen; wer ihn liebt und ihm gehorcht, kann vor Buße und Strafe nicht fliehen, sondern zeigt seinen Gehorsam, indem er Buße tut und die Strafe trägt. Christus allein hat Gewalt über die Toten, die Schlüssel der Hölle und des Todes sind in seiner Gewalt; die Macht des Papstes reicht über die Todesgrenze nicht hinaus, und seine Vergebungsgewalt erstreckt sich nicht auf die armen Seelen. Der Papst hat die Schlüsselgewalt auf Erden; für die armen Seelen kann er Fürbitte tun, nicht mehr. Christus allein hat das Heil für uns in seinen Händen, und er allein schenkt völlige Vergebung der Sünden. In ihm ruht die Gewissheit unsres Heils, die Menschensatzung der Ablässe kann diese Gewissheit nicht geben; Teilnahme an den geistlichen Gütern der Kirche hat der gläubige Christ auch ohne den Ablass. Christus verlangt unsre ganze Liebe, und dies ssein Gebot will gehalten sein vor allen andern Geboten und Vorschriften der Menschen; wer Liebe übt, wächst in der Liebe, wer sich von der Liebespflicht durch den Ablass, d.h. durch Geld, loskauft, flieht das Gebot Chrsiti und verdient sich den Zorn Gottes.“ (s. Fausel, Bd. 1, S. 102.103) Damit ist alle Menschenherrschaft, alle Hierarchie in der Kirche gestürzt. Durch den Glauben sind wir Christus-unmittelbar, brauchen keinen weiteren Mittler, sondern haben durch das Evangelium freien Zugang zu allen Schätzen, die Christus uns auf Golgatha erworben hat. Wohl teilt Christus diese Schätze auch durch das von ihm gestiftete Predigtamt aus – aber dennoch sind diese nur Diener der Kirche als der unmittelbaren Inhaberin dieser Schätze. Und den Zugang haben wir nicht allein durch das Predigtamt, sondern völlig unmittelbar durch die Bibel. Die zentrale Aufgabe aber derer, die im heiligen Predigtamt sind, ist es, die Gnadenmittel, das Evagnelium in Wort und Sakrament, zu verwalten, vor allem, Gottes Wort rein und lauter zu verkündigen. Der Mensch kann ohne Messe, ohne Ablässe, selbst, wenn er keinen Zugang dazu hat, ohne Sakramente selig werden – aber nicht ohne Wort Gottes. Durch das Evangelium allein haben wir rechte Heilsgewissheit.