Das leibliche und das geistliche Israel bei Paulus im Römerbrief

 

Von

Roland Sckerl

 

In vielen evangelikalen Kreisen wird den aus der Reformation hervorgegangenen Konfessionen vorgeworfen, Israel sozusagen „enterbt“ zu haben, das (leibliche) Volk der Juden aus seiner ihm von Gott gegebenen Stellung verdrängt und ihm seine Verheißungen genommen zu haben. Solche Kreise meinen daher, die Bibel neu, anders, lesen zu müssen, etwa so, dass sie viele der Prophezeiungen des Alten Testamentes nicht mehr auf die Gemeinde Jesu Christi beziehen, sondern auf das leibliche Volk Israel und somit dem leiblichen Volk Israel und dem irdischen Land Kanaan eine heilsgeschichtliche Bedeutung beimessen, die weder dem Alten noch dem Neuen Testament entspricht. Was ist nun zu diesem Vorwurf wegen einer „Enterbung Israels“ zu sagen?

Die nachfolgenden Darlegungen stützen sich vor allem auf die Aussagen des Apostels Paulus im Brief an die Römer und beziehen Aussagen des gleichen Apostels in den Briefen an die Epheser und die Galater mit ein.

 

In Römer 2,25-29 heißt es: Die Beschneidung ist wohl nütz wenn du das Gesetz hältst; hältst du aber  das Gesetz nicht, so ist deine Beschneidung schon eine Vorhaut worden. So nun die Vorhaut das Recht im Gesetz hält, meinest du nicht, daß seine  Vorhaut werde für eine Beschneidung gerechnet? Und wird also, was von Natur eine Vorhaut ist und das Gesetz vollbringet,  dich richten, der du unter dem Buchstaben und Beschneidung bist und das  Gesetz übertrittst. Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das  nicht eine Beschneidung, die auswendig im Fleisch geschieht, sondern das ist ein Jude, der inwendig verborgen ist, und die Beschneidung  des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben  geschieht, welches Lob ist nicht aus Menschen, sondern aus Gott. Was sagt Paulus hier? Er hebt gegenüber den Juden, die so stolz auf ihre Religion, insbesondere auf ihren Gesetzeseifer waren, hervor, dass die Beschneidung ihnen dann nichts nützt, wenn sie nicht mit dem Herzen, im Glauben, das Gesetz erfüllen. Ohne den Herzensglauben ist es so, dass sie, die äußerlich beschnitten sind, vor Gott wie Unbeschnittene, also Nichtjuden, Heiden, dastehen. Andererseits sind diejenigen, die, auch wenn sie äußerlich nicht beschnitten sind, aber dennoch aus dem Glauben heraus im Gesetz leben, vor Gott, geistlich, wie solche, die beschnitten sind, Juden sind, nämlich hier als Gottes Kinder gemeint.

Was drückt Paulus damit aus? Er betont hier, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem leiblichen Volk der Juden und der geistlichen Juden- oder Gotteskindschaft. Er bezieht sich dabei durchaus auf das Alte Testament, das diesen Unterschied ebenso bereits kannte, denken wir nur an den Aufruf zur Herzensbeschneidung (5. Mose 10,16; 30,6; Jer. 4,4; Hes. 16,20), an die Bußpredigten, die der Herr Israel durch die Propheten hielt, z.B. Jesaja 1 oder Jer. 2-5. Darum betont er Vers 28, dass vor Gott nicht derjenige als ein Jude (was hier gleichgesetzt wird mit Gotteskind) gilt, der äußerlich beschnitten wurde und doch nicht im Glauben an den Messias steht, sondern nur derjenige, dessen Herz beschnitten ist, der also in Buße und Glauben dem Messias Gottes nachfolgt.

Damit aber sagt Paulus, im Anschluss an das Alte Testament, aus, dass keineswegs das ganze leibliche Israel auch das geistliche Israel oder das geistliche Gottesvolk ist, sondern vielmehr nur diejenigen, die auch im rettenden Glauben stehen.

 

In Kapitel 3 greift er dann eine Frage auf, die daraus entstehen kann und auch heute noch ihre Bedeutung hat: Was haben denn die Juden für einen Vorteil, oder was nützt die Beschneidung? Diese Frage ergibt sich ja sozusagen zwangsläufig, wie auch heute die Frage immer wieder auftaucht, was es denn nützen soll, wenn die Menschen getauft sind, in die Kirche gehen, wenn sie doch nicht glauben? Zwar sehr viel. Zum erste, ihnen ist vertraut, was Gott geredet hat. Das leibliche jüdische Volk hatte, und hat bis heute, das Alte Testament, damit Gottes Wort in Gesetz und Verheißung, aus dem der Herr Jesus Christus und die Apostel einst gepredigt und den rettenden Glauben an den Messias verkündigt haben. Und die Menschen in den Kirchen haben die ganze Bibel, das vollständige Gotteswort. Das ist ihr wesentlicher Vorteil und Unterschied zu den Heiden, den Menschen, die nichts von Jesus Christus gehört haben, die Bibel nicht kennen. Aber auch hier gilt: Wem viel anvertraut ist, von dem wird Gott viel fordern (Lukas 12,48). Das heißt: Wenn die Menschen aus dem Bereich der Judenschaft und der (äußeren) Christenheit nicht zum Glauben an den Heiland der Welt, Jesus Christus kommen, so wird ihre Strafe in der Ewigkeit schlimmer sein als für die Heiden, die zwar um ihres Unglaubens willen auch verdammt werden, aber um ihrer Unwissenheit willen nicht so schwere Pein leiden müssen.

In Vers 9 ff. unterstreicht der Heilige Geist durch Paulus, dass es sehr wohl eine bedeutende Gemeinsamkeit zwischen Juden und Heiden gibt, eine Gemeinsamkeit, die also alle Menschen auf dieser Welt umfasst (eine Tatsache, die viele Juden damals, wie heute, nicht wahrhaben wollten und wollen): Was sagen wir denn nun? Haben wir einen Vorteil? Gar keinen. Denn wir haben droben bewiesen, dass beide, Juden und Griechen [Heiden], alle unter der Sünde sind, wie denn geschrieben steht: Da ist keiner, der gerecht sei, auch nicht einer. Natürlicherweise sind alle Menschen, aus der Juden-, wie aus der Heidenschaft, Sünder vor Gott und damit grundsätzlich verloren. Niemand kann aus eigener Kraft, mit eigenen Werken, durch eigenes Verdienst, vor Gott gerecht werden, darum, dass kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein mag (Vers 20). Beide, Menschen aus den Juden wie Menschen aus den Heiden, können allein aus Gnaden, allein um Christi Verdienst willen, allein durch den Glauben gerettet werden (Verse 21-25.38), es gibt also sowohl im Blick auf die Sündenverdorbenheit und –verlorenheit, wie auch im Blick auf die Errettung keinen Unterschied zwischen Menschen aus den Juden wie Menschen aus den Heiden.

 

Exkurs I: Die Gemeinde im Neuen Testament als Gemeinde aus Christusgläubigen aus den Juden und Christusgläubigen aus den Heiden

Im Epheserbrief greift der Apostel Paulus das Thema auf und zeigt, wie die Unterschiede, ja, der Zaun, der zwischen Juden und Heiden vorhanden war, in Christus überwunden sind: Darum gedenket daran, daß ihr, die ihr weiland nach dem Fleisch Heiden  gewesen seid und die Vorhaut genannt wurdet von denen, die genannt sind  die Beschneidung nach dem Fleisch, die mit der Hand geschieht, daß ihr zu derselbigen Zeit waret ohne Christum, fremd und außer der  Bürgerschaft Israels und fremd von den Testamenten der Verheißung; daher  ihr keine Hoffnung hattet und waret ohne Gott in der Welt. Nun aber, die ihr in Christo Jesu seid und weiland ferne gewesen, seid  nun nahe worden durch das Blut Christo. Denn er ist unser Friede, der aus beiden eins hat gemacht und hat  abgebrochen den Zaun, der dazwischen war, in dem, daß er durch sein  Fleisch wegnahm die Feindschaft, nämlich das Gesetz, so in Geboten gestellet war, auf daß er aus zweien  einen neuen Menschen in ihm selber schaffete und Frieden machete, und daß er beide versöhnete mit Gott in einem Leibe durch das Kreuz; und  hat die Feindschaft getötet durch sich selbst und ist kommen, hat verkündiget im Evangelium den Frieden euch, die ihr  ferne waret, und denen, die nahe waren. (Eph. 2,11-17)

Bevor das Evangelium zu den Heiden kommt, haben sie keinerlei Verheißung, waren daher auch denen entfremdet, die Gottes Wort hatten. Durch Christus aber, durch das Blut, das er für alle Menschen vergossen hat, sind beide, Menschen aus den Juden und Menschen aus den Heiden, einander nahe geworden (V. 13). Denn Christus ist der Friede, durch ihn sind wir, Menschen aus den Juden wie Menschen aus den Heiden, mit Gott versöhnt, so dass der Zaun, der zuvor zwischen beiden war, in Christus abgetan ist, so dass wir in Christus eins geworden sind: die Gemeinde Jesu Christi besteht aus Christusgläubigen aus der Judenschaft und Christusgläubigen aus der Heidenschaft (V. 14). Die Einheit, die im Glauben besteht, hat ihre Grundlage somit in Jesu Kreuz, an dem er für uns gestorben ist, sein Blut für alle Menschen vergossen und so Gott mit allen Menschen, mit der ganzen Welt, grundsätzlich versöhnt hat (s.a. 2. Kor. 5,17-21). Das Volk Gottes des Neuen Testamentes, das ist also die Gemeinde Jesu Christi, die aus den Christusgläubigen aus den Juden und denen aus den Heiden besteht.

 

Den Unterschied zwischen den leiblichen und dem geistlichen Israel entfaltet der Apostel im Römerbrief vor allem in den Kapiteln 9 bis 11. In 9,6 heißt es: Aber nicht sage ich solches, dass Gottes Wort darum aus sei [darum, weil der Großteil der Juden nicht an Jesus von Nazareth als den Messias glaubt]. Denn es sind nicht alle Israeliten die von Israel sind. Dieser Satz ist wichtig, denn damit unterstreicht der Apostel, dass geistlich gesehen eben keineswegs die leibliche Judenschaft mit dem geistlichen Israel identisch ist. Und dieser Tatbestand galt schon im Alten Testament, wie er an Isaak und Ismael, Jakob und Esau ausführt: Auch nicht alle, die Abrahams Same sind, sind darum auch Kinder, sondern: In Isaak soll dir der Same genannt sein. (V. 7) Das ist, nicht sind das Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind, sondern die Kinder der Verheißung werden für Samen gerechnet. Diese Unterscheidung wird ausgeblendet bei denen, die auf Israel fixiert sind, Israel einen besonderen Platz in der Heilsgeschichte des Neuen Testamentes einräumen wollen und das Alte Testament auf das leibliche Israel hin auslegen. Es ist also ein eindeutiger Unterschied zwischen denen, die leiblich Abrahams Nachkommen sind (und nicht einmal das gilt für alle heutigen Juden, da auch aus anderen Völkern Menschen zum Judentum hinzu gekommen sind), und denen, die es auch geistlich sind, also eins sind mit Abraham im Glauben.

Auch aus anderen Stellen des Alten Testamentes weist der Apostel dies nach. So, wenn er Jesaja zitiert: Wenn die Zahl der Kinder von Israel würde sein wie der Sand am Meer, so wird doch das Übrige selig werden. (V. 27) Das heißt doch: Israel mag leiblich wohl recht groß sein – aber schon in der alttestamentlichen Zeit war es so, dass nur wenige von ihnen auch wirklich geistlich errettet waren, nur ein Rest wirklich selig wurde.

Besonders wichtig dazu sind die Ausführungen in Kapitel 11. Hier wirft Paulus die alles entscheidende Frage auf: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Und wie antwortet er darauf? Das sei ferne! Denn ich bin auch ein Israelit von dem Samen Abrahams, aus dem Geschlecht Benjamin. (V. 1) Weit weist der Apostel diese Behauptung zurück. Aber mit welcher Begründung? Etwa der, dass schließlich doch alle Juden gerettet werden? Nein, keineswegs. Vielmehr weist er hin auf sich, als einem einzelnen Israeliten. Wenn Gottes Verheißung für sein Volk nicht mehr gelten würde, dann könnte keiner aus dem leiblichen Israel noch gerettet werden. Aber wenn er, Paulus, der aus der Judenschaft kommt, noch gerettet wurde, so gilt das auch für andere – aber damit keineswegs für alle Juden. Er untermalt das durch die Situation zur Zeit Elias. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor versehen hat. Oder  wisset ihr nicht, was die Schrift sagt von Elia, wie er tritt vor Gott  wider Israel und spricht: Herr, sie haben deine Propheten getötet und haben deine Altäre ausgegraben;  und ich bin allein überblieben, und sie stehen mir nach meinem Leben? Aber was sagt ihm die göttliche Antwort? Ich habe mir lassen überbleiben  siebentausend Mann, die nicht haben ihre Kniee gebeuget vor dem Baal. (V. 2-4) Elia meinte ja, er sei allein übergeblieben. Gott aber machte ihn in seiner Not darauf aufmerksam, dass er noch 7000 hatte aus Israel, die an ihn glaubten. Sie waren das wahre, das geistliche Gottesvolk, das Volk, das Gott sich zuvor versehen hatte aus der Judenschaft jener Zeit. Nicht alle aus der leiblichen Judenschaft also, sondern nur eine bestimmte, von Ewigkeit her, vor Erschaffung der Welt, auserwählte Zahl aus dem leiblichen Israel.

Also gehet’s auch zu dieser Zeit mit diesen Übriggebliebenen nach der Wahl der Gnaden. (V. 5) Und so ist es auch „zu dieser Zeit“, also der Zeit des Neuen Testamentes. Auch jetzt werden, bis zum Jüngsten Tag, nicht alle aus der leiblichen Judenschaft selig, sondern nur diejenigen, die von Ewigkeit her zur Errettung durch den Glauben an Jesus Christus in Christus und der Heiligung des Geistes erwählt sind (die „Übriggebliebenen nach der Wahl der Gnaden“). Niemand anders ist mit dem „ganzen Israel“, V. 26, oder der „Vollzahl“ (pleeroma), V. 12, gemeint. Das erhärtet V. 7: Was Israel sucht, das erlangt es nicht; die Wahl aber erlangt es. Die andern sind verstockt. Im Blick auf das leibliche Israel müssen wir also zwei Gruppen unterscheiden: Die eine Gruppe, das sind diejenigen, die verstockt sind. Verstockung ist ein Teil des Gerichtes Gottes, das schon auf Erden beginnt und gewiss zur ewigen Verdammnis führt. Aus der Verstockung gibt es keine Umkehr. Die andere Gruppe dagegen, das sind diejenigen innerhalb des leiblichen Israel, die von Ewigkeit her erwählt sind zur Rettung durch den Glauben an Jesus Christus („die Wahl“). Sie sind in der Zeit zeitweilig noch verblendet (V. 25: Blindheit ist Israel zu einem Teil widerfahren), kommen aber schließlich auf die gleiche Art und Weise wie die Heiden zum Glauben an den Heiland, den Messias: und also das ganze Israel selig werde, wie geschrieben steht: Es wird kommen aus Zion, der da erlöse und abwende das gottlose Wesen von Jakob. (V. 26) Es ist falsch, zu behaupten, dass es einen Zeitraum in der neutestamentlichen Heilszeit für die Heiden gäbe und dann noch einen anderen Zeitraum für die Juden, um zum Glauben an den Messias zu kommen. Die Heilszeit, der Heilszeitraum ist für beide der gleiche: Es ist die Zeit, bis die Fülle (pleeroma) der Heiden eingegangen ist. Diese Fülle entspricht der Vollzahl (pleeroma, das gleiche Wort im Griechischen, in V. 12) der Juden oder dem „ganzen Israel“. Wann ist diese Zeit beendet? Dann, wenn das Ende dieser Welt gekommen ist, Matth. 24,14. Gerade die Endzeitrede Jesu im Matthäusevangelium verdeutlicht dies: Es gibt nur diese eine Heilszeit für alle Menschen auf dieser Erde. Und in dieser Heilszeit werden die Erwählten aus der Heidenschaft (Fülle der Heiden) und die Erwählten aus der Judenschaft (Vollzahl, das ganze Israel) zum rettenden Glauben an den Messias Jesus von Nazareth durch das Evangelium gebracht. So wenig, wie alle aus der leiblichen Heidenschaft errettet werden, so wenig alle aus der leiblichen Judenschaft. Beide Male ist es nur ein Teil – aber alle Erwählten (diese werden auch durch die 144.000 in Offenbarung 7 dargestellt, einer bildlichen Zahl).

Die Zahl, V. 12, wird voll, wenn alle Erwählten aus der leiblichen Judenschaft zum Glauben an Jesus Christus, dem Heiland der Welt, gekommen sind. Dann kommt der Jüngste Tag und mit ihm die Auferweckung der Toten, die leibliche Auferstehung und damit der Übergang in die Herrlichkeit für alle, die im Glauben an Jesus Christus entschlafen sind oder zu dem Zeitpunkt an ihm glaubten.

An dem Bild des Ölbaums führt der Apostel das näher aus (V. 17 ff.): Der Anbruch oder die Erstlinge, das ist ein Bild, das genommen ist aus dem alttestamentlichen Opferdienst, von den Erstlingen, die Gott geweiht waren. Das sind die Patriarchen und Erzväter, die wurzelten im Glauben an den Messias und durch diesen Glauben selig wurden. Aus dieser Wurzel und den Erstlingen ging der Ölbaum, das an den Messias gläubige alttestamentliche Gottesvolk (das geistliche Israel des Alten Testamentes) hervor. Aus diesem Ölbaum wurden dann diejenigen ausgebrochen, die zwar bevor Jesus Christus auf Erden kam messiasgläubig waren, dann aber, als der Messias wirklich da war, sich weigerten, Jesus von Nazareth als den Messias anzuerkennen. Nun wurden wilde Zweige eingepfropft, also solche, die aus der Heidenschaft zum Glauben an Jesus Christus kamen. Und es werden solche Zweige wieder eingepfropft, die aus dem leiblichen Israel zum Glauben an den Messias kommen. So ist der Ölbaum ein Bild für das geistliche Israel aller Zeiten.

 

Exkurs II: Abraham, der Vater des Glaubens:

Unter einem anderen Aspekt beschreibt der Heilige Geist durch den Apostel Paulus das Gleiche, wenn er von Abraham als dem Vater des Glaubens in Galater 3 spricht. Wer gehört zu Abrahams Kindern? Leiblich hat Abraham gewiss auch viele Kinder gehabt und hat sie noch, nämlich viele der heutigen Judenschaft und auch etliche, die nicht offiziell zur Judenschaft gehören. Aber viel wichtiger ist die geistliche Vaterschaft Abrahams. Und wer ist also geistlich zu den Kindern Abrahams zu rechnen? So erkennet ihr ja nun, dass, die des Glaubens sind, das sind Abrahams Kinder. (V. 7) Nur der Glaube an den Messias Jesus macht geistlicherweise zu einem Kind Abrahams. Keiner, der in seinem Judentum und damit in der Rebellion gegen Jesus Christus verharrt, kann zu den geistlichen Kindern Abrahams gerechnet werden. Alle Gläubigen des Alten Bundes sind messiasgläubig gewesen. Es hat seit dem Sündenfall keinen anderen rettenden Glauben gegeben als allein denjenigen an den verheißenen Heiland der Welt, den Messias, der damals noch kommen musste, in der Fülle der Zeit aber gekommen ist.

Zu diesen geistlichen Kindern Abrahams aber gehören damit nicht nur solche, die aus der Judenschaft zum Glauben an Jesus Christus kommen, sondern auch solche aus der Heidenschaft: Die Schrift aber hat es zuvor ersehen, dass Gott die Heiden durch den Glauben gerecht macht. Darum verkündigte sie dem Abraham: In dir sollen alle Heiden gesegnet werden. (V. 8) Zu den Kindern Abrahams gehören also, geistlicherweise, die Christusgläubigen aus den Juden wie die Christusgläubigen aus den Heiden. Sie alle sind Abrahams Same, Abrahams geistliche Nachkommen: Seid ihr aber Christi, so seid ihr ja Abrahams Same und nach der Verheißung Erben. (V. 29)

 

Wenn wir also nochmals die Anfangsfrage aufgreifen: Was ist zu dem Vorwurf zu sagen, dass die „Kirche“ Israel enterbt habe? Dieser Vorwurf ist falsch. Hinter ihm steckt ein völlig falscher Begriff von dem, was Kirche ist. Darin wurden über Jahrhunderte vielfach nur die Heidenchristen gesehen. Das ist natürlich völlig schief und hat einer falschen Auffassung Vorschub geleistet. Es steckt hinter diesem Vorwuf aber auch ein falscher Begriff überhaupt von Gottes Volk. Es wird da nicht geistlich, sondern fleischlich, leiblich gesehen, nämlich mit dem leiblichen Israel identifiziert anstatt mit dem Geistlichen, ein Vorgang, der schon den Aussagen des Alten Testaments widerspricht. Gottes geistliches Volk war schon im Alten Testament nur der messiasgläubige Teil des leiblichen Israel, die Schar der von Ewigkeit her zur Rettung durch den Glauben an den Messias Erwählten jener Zeit. Die anderen, auch damals die Mehrzahl, gehörten zwar zum leiblichen Israel, aber nicht zum geistlichen Israel, dem geistlichen Gottesvolk. Und so ist es auch jetzt. Wenn die Gemeinde Jesu Christi, völlig berechtigt, sich als das neutestamentliche geistliche Israel ansieht, so hat sie völlig recht. Das gilt aber nur für die Gemeinde Jesu Christi im eigentlichen Sinne, also die verborgene Gemeinschaft des Glaubens an den Heiland Jesus Christus. Denn zur äußeren Versammlung um Wort und Sakrament gehören, wie zum leiblichen Israel im Alten Testament, Gläubige wie Ungläubige (Heuchler, Scheinchristen). Zur verborgenen Gemeinschaft des Glaubens aber gehören die Messias- oder Christusgläubigen aus der Juden- wie aus der Heidenschaft. Das geistliche Israel aller Zeiten als das wahre, das geistliche Gottesvolk, das sind immer nur die Messiasgläubigen gewesen, im Alten wie im Neuen Bund. Es ist daher ein (geistliches) Gottesvolk, von der Zeit Adams und Evas an bis zur Wiederkunft Jesu Christi am Jüngsten Tag, nämlich das Gottesvolk der an den Messias Jesus Gläubigen.

 

Wie aber sind dann das heutige Judenvolk und der heutige Staat Israel zu beurteilen? Jesus Christus hat in seiner Lehre deutlich gesagt, dass dies Geschlecht (das jüdische Volk) nicht vergehen wird, bis er wiederkommt. Das jüdische Volk ist also ein Zeichenvolk, wie es einst auch General Zieten dem gottlosen König Friedrich II. von Preußen gegenüber bezeugte. An diesem Volk sollen alle Völker, gerade auch die Menschen der äußeren, leiblichen Christenheit, Gottes Heiligkeit, Zorn, Gericht erkennen, wenn sie sehen, wie Gott die Rebellion Israels gegen den Messias gestraft hat. An diesem Volk können wir aber auch Gottes Gnade ablesen, dass er einem Teil dieses Volkes nun die Rückkehr in das einstige Land Kanaan gestattet hat, obwohl doch keinerlei Voraussetzungen von Seiten der Juden vorhanden sind. Denn die Rebellion der Juden gegen den Messias hält zu einem ganz überwiegenden Teil an. Der Staat Israel ist nicht auf messianischer Grundlage gebaut, sondern auch sozialistisch-marxistischer und jüdischer. Die Aggressivität gerade der sogenannten „orthodoxen“ Juden gegen die Gemeinde Jesu, besonders die messianischen Juden, ist furchtbar. Es liegt keinerlei Buße des größten Teils der Judenschaft vor, kein Gehorsam gegen Gottes Ordnung. Dass also ein Staat der Juden heute existiert, das hat nichts mit irgendwelchen Verheißungen in der Bibel zu tun, das ist ein purer Gnadenakt Gottes, dass er doch durch seinen Langmut etliche aus Israel wie aus den Heiden zum Glauben an den Messias reize.

 

 

Was lehrt uns Paulus über unsere Haltung gegenüber dem Volk der Juden?

 

Von

Roland Sckerl

 

Wie sollen wir uns als Christen zu dem heutigen Volk der Juden stellen? Auch dazu finden wir in der Heiligen Schrift Gottes Wegweisung, und zwar gerade durch den Apostel Paulus, der selbst aus dem jüdischen Volk stammte, von seinen eigenen Volksgenossen verfolgt wurde und immer wieder gerade auch unter ihnen missionierte, wie wir in der Apostelgeschichte lesen.

 

1. In 1. Thessalonicher 2,14-16 lesen wir: Denn ihr seid Nachfolger geworden, liebe Brüder, der Gemeinden Gottes in Judäa in Christus Jesus, dass ihr ebendasselbe erlitten habt von euren Blutsfreunden, das jene von den Juden, welche auch den Herrn Jesus getötet haben und ihre eigenen Propheten und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind gegen alle Menschen, wehren uns, zu sagen den Heiden, damit sie selig würden, auf dass sie ihre Sünden erfüllen allewege; denn der Zorn ist schon endlich über sie gekommen.

Diese Worte machen sehr deutlich: Paulus verschweigt nicht, wie die Juden zu Jesus Christus und der christlichen Gemeinde stehen. Er verschweigt nicht, dass sie Jesus Christus, ihren Messias und Heiland der ganzen Welt, umgebracht haben und ebenso auch die Propheten, die Gott ihnen gesandt hatte, sie zur Umkehr zu rufen. Und er verschweigt auch nicht, dass sie auch diejenigen, die zum Glauben an den Messias Jesus gekommen sind und die Heilsbotschaft auch den Heiden bringen wollen, bedrängen, verfolgen, sie zu hindern suchen, wo es nur geht. Und er macht auch deutlich, dass all dies Anzeichen sind, dass sie unter dem Zorn Gottes stehen.

Diese sehr ungeschminkten Worte des Apostels wollen uns bewahren vor einer falschen Glorifizierung des jüdischen Volkes, der jüdischen Geschichte, des heutigen Staates Israels. Gerade das geschieht ja sehr häufig in vielen christlichen Kreisen, besonders bei solchen, die der Irrlehre des Chiliasmus verfallen sind und von einer allgemeinen Judenbekehrung und einem irdischen tausendjährigen Friedensreich träumen. Als Christen aber sollten wir wahrhaftig sein und darum auch im Blick auf den Staat Israel und das jüdische Volk Falsches falsch und Sünde Sünde nennen. Wir dürfen vor allem nicht vergessen, dass das heutige Judentum sich grundlegend vom Judentum des Alten Testamentes unterscheidet, eben weil es in fortgesetzter Rebellion gegen seinen Messias, Jesus von Nazareth, den Heiland und Retter der Welt steht, und damit in Rebellion gegen den dreieinigen Gott. Das heißt auch: Wir müssen es deutlich bezeugen, dass es auch für Juden keinen anderen Weg zum Heil gibt als den, dass sie allein aus Gnaden, um Christi Verdienst willen, allein durch den Glauben an den Messias Jesus gerettet werden (siehe auch Römer 9,30-10,4). Jeder Versuch, die Mission unter Israel zu unterbinden, wie es etwa von den Landeskirchen geschieht, ist zutiefst unbiblisch und ein Angriff auf Christi Erlösungswerk.

 

2. In Römer 9,1-5 beschreibt uns der Apostel Paulus, wie sein Herz gegenüber seinem Volk gesonnen ist: Ich sage die Wahrheit in Christo und lüge nicht, des mir Zeugnis gibt  mein Gewissen in dem Heiligen Geist, daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen  habe. Ich habe gewünschet, verbannet zu sein von Christo für meine Brüder, die  meine Gefreundeten sind nach dem Fleisch, die da sind von Israel, welchen gehört die Kindschaft und die Herrlichkeit  und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißung; welcher auch sind die Väter, aus welchen Christus herkommt nach dem  Fleische, der da ist Gott über alles, gelobet in Ewigkeit! Amen.

Trotz der rebellischen Grundhaltung des jüdischen Volkes, trotz all dem, was er daher selbst von ihnen erlitten hatte, liebte der Apostel Paulus dennoch das jüdische Volk und hatte „große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass“ in seinem Herzen.

Seine brennende Liebe ging so weit, dass, sollte es möglich sein, was aber unmöglich ist, er sogar bereit gewesen wäre, für sesine Volksgenossen nach dem Fleisch von Christus verbannt zu werden, wenn sie dann zum rettenden Glauben an den Messias kämen. Äußerlich haben sie ja durch das Alte Testament alles, was als Voraussetzung nötig ist, um das Evangelium zu erfassen und an Jesus von Nazareth als den Messias zu glauben. Aber sie erfassen es nicht. Paulus vergisst dabei auch nicht, dass nur ein Überrest aus Israel schließlich doch noch zum Glauben kommt, der größere Teil aber verstockt ist und verloren gehen wird.

So sollen auch wir – neben der Liebe zu dem Volk, in das Gott uns hineingestellt hat, ihm das Evangelium zu bringen – auch Liebe gerade zu dem Volk der Juden haben, mit dessen Vorvätern wir eins sind im Glauben an den Messias, dem Volk, aus dem ja Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, einst Mensch geboren wurde. Unser Bestreben sollte es daher sein, Kontakte zu Juden zu bekommen, mit dem Ziel, ihnen das rettende Evangelium zu bringen. Gerade die Mission unter dem Volk der Juden ist Zeugnis der Liebe zu ihm; Verweigerung der Mission dagegen das Schrecklichste, was wir dem Volk der Juden antun können.

Unsere besondere Liebe sollte dabei den messianischen Juden gelten, also denen aus der Judenschaft, die zum Glauben an Jesus von Nazareth als dem Messias gekommen sind.