Dr. C. F. W. Walther


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Lebensbild,

entworfen

von

Martin Günther

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„Ein Schüler Luthers, und wie ich zu Gott hoffe,

ein treuer Schüler desselben, habe ich alles, was

ich bisher öffentlich geredet und geschrieben habe,

nur diesem Propheten der letzten Welt nachgestammelt.“

Walther

Überarbeitet und neu herausgegeben

von

Roland Sckerl

Inhaltsverzeichnis

I. Geburt – Kindheit – auf dem Gymnasium – Entschluss, Theologie zu studieren

II. Auf der Universität – Erweckung – Errettung aus Anfechtung und tötlicher Krankheit

III. Examen – Hauslehrer

IV. Vokation nach Bräunsdorf – Ordination – Antrittspredigt – Zustand der Gemeinde

V. Anfeindungen wegen seines entschiedenen Auftretens – Gewissensbedrückung – trauriger Zustand der sächsischen Landeskirche

VI. Auswanderung – Ankunft in St. Louis, Mo. – Pastor in Perry County, Mo. – Gründung der Lehranstalten in Perry County – Anfechtungen

VII. Disputation in Altenburg 1841 – hohe Bedeutung derselben

VIII. Beruf an die Gemeinde in St. Louis – Annahme des Berufes – Kampf mit Separatisten – Trost – Sieg

IX. Gesegnete Amtswirksamkeit – Gemeindeordnung – Dreieinigkeitskirche – Konferenz bei Walther in Sachen der Lehranstalt in Perry County und des Grabau’schen „Hirtenbriefs“ – Bünger Walthers treuer Gehilfe

X. „Der Lutheraner“, von Walther herausgegeben, führt Gleichgesinnte zusammen – Schritte zur Bildung eines rechtgläubigen Synodalverbandes

XI. Entwurf der Synodalverfassung – der Gemeinde vorgelegt – Walthers Reise nach Fort Wayne – Zusammentreffen mit Crämer – Konferenz in Fort Wayne. – Herausgabe eines Gesangbuchs

XII. Erste Synodalversammlung – Walther zum Präses gewählt – großes Feuer in St. Louis – Brandpredigt – Reise zur dritten Synodalversammlung – Cholera in St. Louis – Walther zum Professor gewählt – College nach St. Louis verlegt – Grundsteinlegung

XIII. Walthers gesegnete Wirksamkeit – Beginn des Unterrichts an der Anstalt – Synodalrede 1850 – Kampf gegen romanisierende Lutheraner

XIV. Prof. Walther und P. Wyneken von der Synode als Delegaten nach Deutschland gewählt – Verhandlung mit Pfarrer Löhe

XV. Bibelgesellschaft – ein neues theologisches Monatsblatt „Lehre und Wehre“ – Kampf mit der Buffalosynode – Walther in P. Grabaus Kirche in Buffalo

XVI. Kampf mit der Iowasynode – Walthers Aufforderung zu freien lutherischen Konferenzen – vier freie Konferenzen werden gehalten

XVII. Walther krank – wird genötigt, eine Gesundheitsreise nach Deutschland zu machen – kehrt gestärkt und gekräftigt zurück

XVIII. Das praktische Seminar in St. Louis – 25jähriges Amtsjubiläum – „Die rechte Gestalt einer vom Staat unabhängigen ev.-luth. Ortsgemeinde“ –Walther wieder Allgemeiner Präses – Kolloquium mit der Buffalo- und Iowasynode – „Die evangelisch-lutherische Kirche die wahre sichtbare Kirche Gottes auf Erden

XIX. Vereinbarung mit anderen Synoden – Krankheit – neue Wohnung – Synodalkonferenz – Jubelsynode – Englisch-lutherische Konferenz

XX. Krankheit – Walther soll Präses bleiben – Jubiläum des 25jährigen Bestehens der Anstalt in St. Louis – Walthers große Freude über Herrn P. Schieferdeckers Rückkehr in die Synode

XXI. Walther Doktor der Theologie

XXII. Die Synode nimmt Walther auf dringende Bitte das Präsidium ab – Jubelfeier 1880 – Gnadenwahlslehrstreit

XXIII. Seminarbau – Tod seiner Gattin – Familie – Freude an den Enkelkindern

XXIV. Wunderbare Lebensführung – arbeitsvolles Leben

XXV. Walther ein rechtschaffener Christ – Gebetseifer – Demut – Gewissenhaftigkeit – Uneigennützigkeit und Genügsamkeit – Freigebigkeit – Gastfreundschaft – treuer Freund

XXVI. Walther ein großer Theologe – als Prediger – was hat ihn zum Theologen gemacht? – seine hohen Gaben

XXVII. Walthers letzte Krankheit – letztes Referat – letzte Geburtstagsfeier – 50jähriges Amtsjubiläum

XXVIII. Erbauliches Kranken- und Sterbebett – seliger Abschied – Begräbnis

I.

Geburt – Kindheit – auf dem Gymnasium – Entschluss, Theologie zu studieren

    Carl Ferdinand Wilhelm Walther stammt aus einem alten Predigergeschlecht und wurde in Langenchursdorf in Sachsen am 25. Oktober 1811 geboren. Walther war von zwölf Kindern das achte, von den Söhnen der vierte[1]. Eine seiner jüngeren Schwestern, Amalie Ernestine, verheiratete sich 1836 mit Pastor E.G.W. Keyl, damals Pastor in Niederfrohna. Walthers Vater war ein strenger Erzieher. Nichts war ihm ärgerlicher, als wenn ein junger Mann zimperlich war. „Ein junger Mann viel leiden muss, eh’ aus ihm wird ein dominus (Herr)“, pflegte er oft zu sagen. Die Kinder hatten großen Respekt vor ihrem Vater, sie getrauten sich kaum, ihn anzusehen. Ferdinand bekam einmal dafür Strafe, dass er sich auf das Kanapee gesetzt hatte. Doch war der Vater sonst ein leutseliger alter Herr und er ließ es sich auch viel kosten, seine Kinder gut ausbilden zu lassen. Als Ferdinand sein drittes Jahr zurückgelegt hatte und zu Weihnachten, wie es in Sachsen und andern Gegenden Deutschlands Sitte ist, der Pelznickel (Weihnachtsmann) auch im Walther’schen Hause eingekehrt war und die Kinder aufgefordert hatte, einen Spruch herzusagen, da betete der kleine Walther den Vers:

Christi Blut und Gerechtigkeit,

das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,

damit will ich vor Gott bestehn,

wenn ich zum Himmel wird eingehn.

    Der Vater war darüber so erfreut, dass er seinem Söhnchen einen Dreier gab. Dies machte auf Ferdinand einen tiefen Eindruck. Er dachte, es müsse doch ein gar schöner Spruch sein, dass ihm der Vater deswegen einen Dreier geschenkt habe. Dieser Spruch begleitete ihn in seinem ganzen späteren Leben; er lag ihm im Sinn auch während der Gymnasialzeit, wo eine rationalistische Umgebung auch auf ihn ihren Einfluss ausgeübt hatte.

    Nachdem Walther von seinem Vater selbst und in der Schule des Orts in den Elementargegenständen den ersten Unterricht empfangen, besuchte er im Jahr 1819 die Stadtschule zu Hohenstein bei Chemnitz und hierauf im Juli 1821 das Gymnasium zu Schneeberg im sächsischen Erzgebirge, an welchem sein Schwager, der Gatte seiner ältesten Schwester, der gelehrte M. H.F.W. Schubert, als Konrektor stand. Hier blieb er bis zum 23. September 1829. Sein Abgangszeugnis von Schneeberg war ein überaus ehrenvolles, sowohl hinsichtlich seiner Kenntnisse als seines Betragens. Es wird darin bezeugt, dass er „besonders würdig“ (imprimis dignus) sei, zu den akademischen Studien zugelassen zu werden, und sich nie auch nur einen leisen Tadel zugezogen habe. Der Pastor primarius und Superintendent zu Waldenburg empfahl in einem Schreiben vom 21. November 1829 „den hoffnungsvollen Jüngling, Carl Ferdinand Wilhelm Walther, der geneigten Berücksichtigung seiner ehrwürdigen akademischen Lehrer, sowie anderer hoher Gönner und Förderer der Wissenschaften, als in gleicher Weise würdig und bedürftig, so angelegentlich wie ehrfurchtsvoll“.

    Wie stand es zu jener Zeit, als er auf dem Gymnasium studierte, um Walthers Seele? Sämtliche Lehrer am Gymnasium, einen einzigen ausgenommen, waren entschiedene Rationalisten und er blieb, wie oben bemerkt, von ihrem Einfluss nicht frei; doch bewahrte er den im elterlichen Hause ihm eingepflanzten Glauben an die heilige Schrift als Gottes Wort, obwohl er, wie er selbst sagt, von einem Fleisch, Welt und Satan überwindenden Glauben bis dahin noch keine Erfahrungen gemacht hatte.

    In der Einleitung zu einem Vortrage, den er im Jahr 1878 hielt, in der er über den historischen Glauben, dass die Bibel Gottes Wort sei, redete, sagte er unter anderem: „Dadurch, dass ein Mensch die heilige Schrift für Gottes klares Wort hält, weil er so von seinen Eltern unterrichtet worden ist, also durch den bloß menschlichen Glauben daran, wird freilich kein Mensch vor Gott gerecht und selig; aber dennoch ist auch ein solcher bloß menschlicher Glaube ein unaussprechlich großer Schatz, ja, eine köstliche Gabe der vorlaufenden Gnade Gottes. – Ich kann mich in dieser Beziehung selbst als ein Beispiel bei Ihnen einführen. Mein lieber, gottesfürchtger Vater hat mich auch von Kindesbeinen an gelehrt, die Bibel sei Gottes Wort. Aber sehr bald kam ich aus dem väterlichen Hause – schon im achten Jahre – und zwar in ungläubige Kreise. Ich verlor den historischen Glauben nicht. Er begleitete mich wie ein Engel Gottes durch mein Leben. Aber ich habe meine mehr als achtjährige Gymnasialzeit unbekehrt dahin gebracht.“ „Ich war“, erzählte er einmal, „18 Jahre alt, als ich das Gymnasium verließ, und ich hatte noch keinen aus Gottes Wort genommenen Satz aus gläubigem Munde gehört. Ich hatte nie eine Bibel gehabt, auch keinen Katechismus, sondern einen miserablen Leitfaden, worin heidnische Moral enthalten war.“[2]

    Walther hatte nicht vor, Theologie zu studieren, sondern der Musik (nicht der Medizin) sich zu widmen. Im Jahre 1829 am 8. Februar schrieb er in sein Tagebuch: „Ich fühle mich für nichts geboren als für die Musik.“ Als er einmal seinem Vater seinen Wunsch, der Musik sich zu widmen, mitteilte, sagte dieser zu ihm: „Wenn du Musikant werden willst, so sieh zu, wie du durchkommst; wenn du aber Theologie studieren willst, so gebe ich dir wöchentlich einen Taler.“

    Aber auch Gott wollte nicht, dass er ein Musikant würde, sondern er wollte ihn zu einem auserwählten Rüstzeug im Dienste seiner Kirche machen und wirkte in ihm den Entschluss, Theologie als sein Studium zu erwählen. Es geschah dies durch das Lesen der von G.H. Schubert verfassten Beschreibung des Lebens und gesegneten Wirkens des Predigers J. Fr. Oberlin, welche sein Bruder Hermann, der schon seit zwei Jahren in Leipzig studierte, nebst andern christlichen Traktaten mit nach Hause gebracht hatte. Er schreibt darüber in seinem Tagebuch: „Ich lebe ziemlich glücklich und philosophiere mit meinem Bruder über die interessantesten Gegenstände aus unser beider Leben und lese mit wahrer Gier das Leben des Pastors Oberlin, von Schubert dargestellt; dieses hat mein ganzes Wesen erfüllt und mir gezeigt, dass die Aussichten, die ein Theolog haben kann, die schönsten sind, indem er, wenn er nur selbst will, einen Wirkungskreis erwerben kann, wie keiner, der einen andern Beruf sich erwählte, ihn zu hoffen hat. Der bange Zweifel: ‚Wirst du denn auch einmal eine angemessene Versorgung bekommen?’ ist nun ganz überwunden; denn ein unerschütterliches Gottvertrauen und ein fester Glaube an seine Vorsehung und Einwirkung auf unsere Schicksale habe ich aus jenem unschätzbaren Büchlein gesogen, nachdem ich ihn durch die Unterredungen mit meinem lieben, guten Bruder erweckt sah.“

II.

Auf der Universität – Erweckung – Errettung aus Anfechtung und tötlicher Krankheit

    Nach Verlauf der kurzen Ferien bezog er dann im Oktober 1829 die Universität Leipzig. Da musste er sich denn recht kümmerlich durchschlagen. Sein Vater gab ihm wöchentlich einen Taler, womit er auskommen musste. An sonstigen Unterstützungen erhielt er nur ein Klafter Holz, welches aus einer Stiftung einer Anzahl solcher Studenten gegeben wurde, die ein gutes Gymnasialzeugnis aufweisen konnten. Er besaß damals nicht einmal eine eigene Bibel. Gern hätte er sich eine gekauft, aber es mangelte ihm an Geld. Eines Tages besaß er nur noch wenige Groschen. Gab er diese nun für eine Bibel aus, so wusste er nicht, wovon er in den nächsten Tagen leben sollte. Endlich sagte er sich: Ich gebe ja das Geld für Gottes Wort aus; er wird mir helfen und mich in meiner Not nicht stecken lassen. Die Bibel wurde gekauft. Am folgenden Tag trat ein Bauer aus Langenchursdorf bei dem Studenten Walther ein und erzählte, er habe vor seiner Abreise nach Leipzig in der Pfarre angefragt, ob der Papa vielleicht etwas an den Sohn zu bestellen habe; zuerst habe der Vater gesagt, er wisse nichts; dann aber habe er sich besonnen und ihm ein Briefchen übergeben, das er hiermit überreichen wolle. Der Bauer ging. Walther öffnete den Brief und fand darin einen Taler. – Am 9. Dezember schrieb er in sein Tagebuch: „Heute las ich in der Bibel, nämlich in der Apostelgeschichte, um mich erstens darin zu orientieren, da mir von den Aposteln noch sehr wenig bekannt ist und ich kaum ihre zwölf Namen hersagen kann; zweitens, um mich durch die Beispiele von Wirkungen und Äußerungen eines unerschütterlichen Glaubens zu erbauen.“

    Auf der Leipziger Universität stand damals der Rationalismus (Vernunftglaube) in voller Blüte, während der christliche Glaube nur schwächlich durch die Professoren Aug. Hahn und F.W. Lindner sen. vertreten war. Durch Gottes Gnade hatte sich aber kurz vor Walthers Eintritt in die Studentenschaft zu Leipzig in Folge des Zeugnisses einiger gläubiger Laien und eines alten gläubigen Kandidaten mit Namen Kühn ein Häuflein zu einem lebendigen Glauben erwachter Studenten zusammen gefunden, zu dem auch sein älterer Bruder, Otto Hermann, der selige Pastor J.F. Bünger, der selige Pastor Brohm und der selige Pastor Ottomar Fürbringer gehörten. In diesen Studentenkreis wurde Walther eingeführt, und nicht vergeblich. Auch an seinem Herzen erwies sich das gemeinschaftlich unter Gebet betrachtete Wort Gottes als eine Kraft eines neuen Lebens. Von diesem Studentenkreis schrieb Walther in dem von ihm verfassten Lebenslauf des seligen Pastor J.F. Bünger: „Dieses Häuflein erweckter Studenten versammelte sich an gewissen Tagen jeder Woche zu gemeinsamem Gebet, zu gemeinsamer Lesung der heiligen Schrift zum Zwecke der Erbauung und zu gegenseitigem Austausch über das Eine, was not ist. Eine Zeitlang hielt ihnen auch Professor Linder privat (in Nachahmung August Hermann Franckes) ein sogenanntes collegium philobiblicum, in welchem er die Schrift erbaulich auslegte und Anleitung gab, aus den biblischen Texten praktische Predigtthemata abzuleiten. Zwar mussten die gläubig gewordenen und von der Welt sich zurück ziehenden Studenten natürlich viel Spott und Hohn über sich ergehen lassen. Mystiker, wie man damals die Gläubigen in Sachsen zu nennen pflegte, Pietisten, Frömmler, Obskuranten, Finsterlinge und dergleichen waren noch nicht die schlimmsten Titel, die man ihnen gab. Teils gehasst als verächtliche Heuchler, teils bemitleidet als unglückliche, verführte religiöse Schwärmer, waren sie ausgestoßen von der ungläubigen Welt, zum Teil selbst von ihren eigenen nächsten Blutsverwandten. Dabei waren sie aber innig fröhlich in ihrem Gott und Heiland, und alle, welche von ihnen treu geblieben sind, haben in der Folge an diese Zeit ihrer ersten Liebe als an die seligste Zeit ihres ganzes Lebens zurück gedacht. – Anfänglich war in diesem Kreise von einem Unterschied der Lehre der verschiedenen Kirchen keine Rede, obwohl der Glaube, welcher allein durch das liebe Bibelbuch in diesen Jünglingen angezündet worden war, natürlich kein anderer als der lutherische war. So blieb es jedoch nicht. Mit dem Wachstum in der Erkenntnis entstand nach einiger Zeit teils von selbst, teils durch den oben genannten in der Lehre wohlgegründeten alten Kandidaten Kühn auch die Frage: Welches Glaubens seid ihr? Seid ihr lutherisch? oder reformiert? oder uniert? Zwar war die Folge hiervor eine Sichtung; allein die allermeisten erkannten bald, dass kein anderer als der lutherische Glaube es sei, den Gott der Heilige Geist längst als den wahren, in Not und Anfechtung allein feststehenden in ihnen versiegelt habe, noch ehe sie gewusst hätten, welcher Kirche Glaube er sei. Nur wenige waren daher ihrer, welche jetzt absprangen. Tiefer hingegen ging der Eindruck, den es auf die jungen Gläubigen machte, als Kandidat Kühn, welcher selbst erst nach langen, schweren Ängsten und Kämpfen unter den furchtbarsten Schrecken des Gesetzes zur Gewissheit der Vergebung der Sünden und seines Gnadenstandes gekommen war, nun das erweckte Häuflein gerade so zu führen suchte, wie Gott ihn geführt hatte. Er suchte uns nämlich davon zu überzeugen, dass unser ganzes Christentum nicht eher auf festem Grunde ruhe, als bis auch wir, wie er, einen hohen Grad von Reue und wahre Höllenschrecken in heißen Bußkämpfen empfunden haben würden. Die Folge hiervon war ein ziemlich allgemeiner Umschlag aus einem evangelisch-fröhlichen in ein gesetzlich-düsteres Christentum.“ (S. 11 f.)

    Die von diesen Studenten am meisten benützten Erbauungsschriften waren die von Joh. Arndt, Aug. Hermann Francke, C.H. von Bogatzky, Spener, Werner, J.C. Schade, Joh. Jak. Rambach, Steinmetz, J.Ph. Fresenius. „Je weniger“, schreibt Walther a.a.O., „ein Buch zum Glauben lockte und je gesetzlicher es auf Zerknirschung des Herzens und auf vorausgehende völlige Tötung des alten Menschen drang, für ein umso besseres Buch galt es uns. Selbst solche Schriften lasen wir meistens nur so weit, als dieselben die Schmerzen und Übungen der Buße beschrieben; kam danach auch die Beschreibung des Glaubens und der Trost für die Bußfertigen, da schlugen wir gewöhnlich das Buch zu, denn, dachten wir, das ist noch nichts für uns.“ (St. 17 f.)[3]

    Walther geriet in schwere Seelennöte und Kämpfe. „Die einzige Familie“, schreibt er a.a.O., „welche uns in Leipzig verstand, die uns auch jederzeit offen stand und in welcher wir stets an Leib und Seele Erquickung fanden, war die Familie des seligen, in den Wegen des Herrn viel erfahrenen Steuerrevisors Barthel und seiner gottseligen Gemahlin.“ (S. 19)

    Ein Brief von dem damaligen Pastor M. Stephan in Dresden, Sachsen, dem späteren Leiter der sächsischen Auswanderung, befreite ihn von seinen Anfechtungen. „Als Walther niemand zu raten wusste, als im Gegenteil auch die gläubigen Pastoren, welche in dem Rufe großer christlicher Erfahrung standen und denen er sich hilfesuchend aufschloss, ihn alle zu Stephan wiesen, erst dann wendete auch er sich schriftlich an Stephan, denselben um Rat aus Gottes Wort bittend. – Als er die Antwort erhielt, erbrach er den Brief nicht eher, als bis er Gott brünstig angerufen hatte, ihn zu bewahren, dass er nicht falschen Trost annehme, wenn solcher in dem empfangenen Antwortschreiben enthalten sein sollte. Aber als er dasselbe gelesen hatte, war es ihm nicht anders, denn als sei er plötzlich aus der Hölle in den Himmel versetzt. Die so lange geweinten Tränen der Angst und Not verwandelten sich jetzt in Tränen wahrhaft himmlischer Freude.“ (Büngers Lebenslauf, S. 29)

    Neben den geistlichen Nöten hatte er zugleich mit einer allem Anschein nach tötlichen Brustkrankheit während seiner Studienzeit zu kämpfen. Diese Krankheit nötigte ihn auch, seine Studien während des Wintersemesters 1831-1832 (ein halbes Jahr) zu unterbrechen, um im elterlichen Hause Genesung unter ärztlicher Behandlung zu suchen. Während dieser Zeit fielen ihm Luthers Werke, die sich in seines Vaters Bibliothek befanden, in die Hände, in die er sich denn, sonst mit nichts beschäftigt, jetzt tief versenkte. Da war es, dass in ihm jene lebendige Überzeugung von der alleinigen Schriftgemäßheit der Lehre unserer lutherischen Kirche und von der Notwendigkeit der Entschiedenheit im Bekenntnis erzeugt wurde, die ihn von dieser Zeit an nie wieder verlassen hat. Nach erlangter leiblicher Heilung durch ein einfaches Hausmittel kehrte er 1832 um Ostern nach Leipzig zurück, um seine theologischen Studien zu vollenden. Am Oster-Heiligenabend 1832 schrieb Kandidat Brohm an Kandidat O. Fürbringer: „Vor etwa acht Tagen schrieb er (Walther) an mich, woraus zu ersehen, dass seine Seele wohl auch sehr leidet, doch im Genesen sich befindet, körperlich geht’s anscheinend auch besser, so dass er nach Ostern fortstudieren will, doch, schreibt er, ‚ohne Hoffnung’, zu einem Predigtamt je physisch tüchtig zu werden.“

    Gott half, dass er seine theologischen Studien vollenden konnte. Im Jahr 1833 um Ostern verließ er die Universität.

    Noch sei hier eines lieblichen Ereignisses aus seiner Studentenzeit gedacht: Im Dezember 1830 hatte er zwei Knaben aus der Familie S. zu unterrichten. Eines Tages fand er in den Papieren des Eduard S. folgende Bemerkung: „Ich kam schnell von dem Herrn K. weg und zu dem Herrn Walther, welchem ich meine ganze Seligkeit zu verdanken habe. Ich wusste, ehe ich zu ihm kam, weder, dass ich ein Sünder wäre, noch etwas von Christo und seiner Gnade, auch nichts von der Bibel. Meinem jetzigen Lehrer habe ich dies alles zu verdanken; ich als ein schwacher sündiger Mensch kann es ihm nicht vergelten, Gott wird ihn belohnen, dass er ihm eine Seele dem Himmel zugeführt hat.“ – Hierzu schrieb Walther in seinem Tagebuch: „Gott, großer, gütiger, barmherziger Gott, Dank sei dir, dass du auch in diesem Kinde deinen Geist wirksam sein zu lassen nicht verschmäht hast; dir sei Lob, Dank, Preis und Ehre in alle Ewigkeit dafür. O Herr Jesu, vollende du auch das Werk, das du hier so herrlich angefangen, lass ihn dir nichts aus deinen Händen reißen. Hilf ihm einst aus zu deinem himmlischen Reiche. Amen.“

III.

Examen – Hauslehrer

    Im elterlichen Hause bereitete er sich nun auf das erste Examen (pro licentia concionandi) vor, welches er im September in Leipzig bestand. In einem Brief, in dem er seinem Bruder das bevorstehende Examen mitteilt, spricht er merkwürdigerweise schon Bedenken aus, in den Dienst der sächsischen Landeskirche einzutreten. Er bekam wohl bald danach einen Antrag, eine Hauslehrerstelle bei Herrn Rat Friedemann Löber in Cahla im Altenburgischen zu übernehmen.

Die Hauslehrerstelle in Cahla nahm er denn um Ostern 1834 an und bekleidete sie bis zum Ende November 1836. Der Rat Löber war der älteste Bruder des sel. Pastors G.H. Löber in Altenburg, Perry County, Missouri. Walther unterrichtete zugleich auch die Kinder des jüngern Bruders, August Löber. Unter diesen war auch Richard Löber, jetzt Hofprediger in Dresden. Der sel. Pastor G.H. Löber war damals Pastor in Eichenberg. Walther hatte daher viel Umgang mit demselben und rührt das innige Verhältnis, in welchem beide stets zu einander standen, schon aus jener Zeit.

„Als ich im Jahre 1834“, berichtet Walther selbst, „noch Hauslehrer in C. war, disputierte ich zuweilen mit meinem Herrn Prinzipal darüber, ob alles, was in der Bibel stehe, zuverlässige, göttliche Wahrheit sei. Mein Prinzipal war zwar dem Christentum durchaus nicht feind, aber in seiner Jugend hatte er manche rationalistische Ideen eingesogen, die er noch immer nicht ganz überwunden hatte. So meinte er z.B., dass das, was die Bibel über den Sternenhimmel sage, doch wohl nur Meinungen Moses gewesen seien, die ihm der Heilige Geist nicht geoffenbart und eingegeben habe. Er glaubte daher, dass die Sterne nicht bloße Lichter, sondern von ähnlichen Geschöpfen bewohnt seien wie unsere Erde. Ich suchte ihm dies nun zwar, so gut ich es dazumal vermochte, auszureden, aber ohne Erfolg. So kam er denn einstmals mit freudestrahlendem Angesicht auf mein Zimmer, ein Zeitungsblatt in seinen Händen, und sprach: ‚Mein lieber Herr Kandidat, Sie sind geschlagen! Soeben lese ich in dieser Zeitung, dass der am Anfang dieses Jahres (1834) nach Afrika gereiste große Astronom Herschel der Jüngere mittels seines neuen ungeheuren, riesengroßen Fernrohrs Geschöpfe wie Menschen auf dem Monde entdeckt habe. Lesen Sie nur!’ Ich tat das. Und in der Tat, in der Zeitung stand wirklich, was mir mein Herr Prinzipal soeben berichtet hatte. Ich aber sprach nun: ‚Mein teurer Herr Prinzipal, ich bitte Sie, Sie werden doch das nicht glauben? – Ja, ich sage Ihnen: Und wenn ich selbst in das Fernrohr guckte und sähe durch dasselbe eine Art Menschen, wie wir sind, auf dem Monde herumlaufen, so würde ich doch nicht glauben, dass der Mond der Wohnplatz von einer Art Menschen sei, sondern denken, dass die angeblichen Menschen im Fernrohr stecken müssten’; worauf mein Herr Prinzipal erwiderte: ‚Ich sehe wohl, mit Ihnen ist nichts anzufangen’, und ärgerlich mein Zimmer verließ. Doch was geschah? Nach etwa einem halben Jahre erschien in den Zeitungen eine Widerrufung jener Nachricht mit der folgenden Aufklärung. Ein geldarmer, aber gescheiter Franzose habe die Absicht gehabt, nach Amerika über zu siedeln, und um sich Reisegeld zu verschaffen, habe er schnell eine Flugschrift geschrieben, in welcher er einen erdichteten Brief Herschels mit jener staunenerregenden Nachricht mitgeteilt habe. Er habe sich auch nicht verrechnet. Seine Flugschrift sei sogleich in zahllosen Exemplaren verkauft worden und habe ihm wirklich mehr als das ihm nötige Reisegeld eingetragen. In Amerika glücklich angekommen, habe er aber von dort gemeldet, sein Büchlein sei nur ein Scherz gewesen. – Natürlich habe ich meinem teuren Herrn Prinzipal diesen Ausgang der Sache nicht schadenfroh vorgehalten. Wie es schien, standen ihm jedoch seit jener Zeit alle mit der Bibel streitenden astronomischen Behauptungen nicht mehr so fest wie früher.“[4]

 

IV.

Vokation nach Bräunsdorf – Ordination – Antrittspredigt – Zustand der Gemeinde

    Doch nun nahte die Zeit, da er Gott im heiligen Predigtamt dienen sollte. In demselben Jahr (1836) wurde er, nach abgelegtem zweiten Examen (pro candidatura) in Dresden, von dem aufrichtig gläubigen Staatsminister Graf von Einsiedel an das Pastorat in Bräunsdorf bei Penig in Sachsen, eine Stelle seines Pastronats, berufen. Am dritten Sonntag im Advent hielt er eine Gastpredigt und am zweiten Sonntag nach Epiphanias 1837 wurde er ordiniert. Wie er hier seinen Einzug hielt, wie er ordiniert wurde und seine Antrittspredigt hielt, wie er seine Gemeinde vorfand und wie er in derselben zu wirken gedachte, lassen wir ihn selbst erzählen. An seinen Patron schrieb er folgendermaßen.6

                        „Hochgeborner Graf,

Hochgebietender Herr Kabinettsminister

                                   Gnädiger Herr!

    Ew. Exz. haben stets eine so teilnehmende Aufmerksamkeit an den Tag gelegt auf alles, was Kirche und Reich Gottes im Kleinen wie im Großen betrifft, und gerade dann wohl in besonderem Grade, wenn es die einzelnen Kirchengemeinden anging, welche in Ew. Exz. ihren Kirchenpatron verehren dürfen; ich täusche mich daher gewiss nicht, wenn ich mich Ew. Exz. gnädiger Zustimmung schon im Voraus versichert halte, Hochderselben über die Erfahrungen, welche ich in der bisherigen Verwaltung des geistlichen Amtes gemacht habe, welches mir durch Ew. Exz. Gnade übertragen worden, einige Mitteilung zu tun.

    Am 15.7 dieses Monats ist endlich mein Anzug erfolgt. Mit einigem Widerstreben hatte ich mich aber auf Bitten mehrerer hiesiger Gemeindeglieder, welche außerdem nicht dabei hätten gegenwärtig sein können, dazu verstehen müssen, den Einzug schon am 10. desselben Monats zu halten. Mehr als hundert Menschen fanden sich am letztgedachten Tage in Chursdorf, wo ich mich eben aufhielt, ein, um mich selbst in ihre Mitte zu führen. Eine noch größere Anzahl, worunter die hiesige Schuljugend mit ihrem Lehrer, erwartete mich an der Grenze des Bräunsdorfer Gebietes. Vor der Pfarrwohnung angekommen, begrüßte mich der Schulmeister im Namen der Gemeinde in einer wohlgemeinten Anrede, die ich mit Versicherungen des Dankes und mit meinen ... Wünschen und Bitten erwiderte. Nicht ohne mancherlei Besorgnisse erwartete ich nun in Bräunsdorf selbst den Tag, an welchem ich unter Gebet und Handauflegung zu dem Amte, das die Versöhnung predigt, feierlich geweiht werden sollte. Ich fürchtete, von Seiten des Ephorus hierbei Veränderungen gemacht sehen zu müssen, welche mir vielleicht den Trost, welche die Gewissheit gibt, nicht nur rechtmäßig berufen, sondern auch ordiniert und ausgesendet zu sein, entziehen könnten. Gott hat aber – ich preise ihn darum – mein Gebet um Herzlenkung seiner Widersacher auf eine Weise erhört, wie ich es kaum zu hoffen gewagt hatte. Zu meiner großen Freude hatte der Superintendent gerade den Pastor P. zu meinem Beichtvater für den erwähnten Tag erwählt, dass ich nun sogleich mit Beginn dieses für mich vor allem wichtigen und heiligen Tages den Trost der Absolution durch das Amt unverkürzt genießen konnte. Gleich freudig und dankbar nahm ich es aber auch wie aus Gottes Händen, dass mir der Superintendent nicht nur das heilige Abendmahl unverfälscht reichte, sondern auch die Handlung der Ordination, zwar mit einer unchristlichen Rede begleitet, aber doch so nach der Praxis unserer und der apostolischen Kirche verrichtete, dass mir durch dieselbe ebenso wohl die rechte Verpflichtung auferlegt als auch vor Gott gültig die Macht und die Befugnis, das Evangelium zu predigen, das Amt der Schlüssel zu handhaben und die heiligen Sakramente nach der Einsetzung Jesu Christi zu verwalten, im Namen des dreieinigen Gottes gegeben wurde. Doppelt rührend musste mir dieser Augenblick sein, da außer dem Pastor aus Kaufungen und einem andern mir befreundeten Geistlichen aus der Nähe noch mein alter Vater, mein älterer Bruder und mein Schwager, der Pastor Keyl, handauflegend die Worte der Weihe aus vollem Herzen über mich sprachen.

    Dieses alles ging mit der sich hieran anschließenden Verlesung der von Ew. Exzellenz ausgehändigten Vokation, einer von mir gefertigten Darstellung meines Lebensganges und der mir von dem Hohen Oberkonsistorium zu Dresden erteilten Zensur, nebst der Investitur [Einsetzung] der Haltung der Anzugspredigt voraus. Reich gestärkt durch das Vorausgegangene predigte ich nun über Jer. 1,6-8: ‚Ich aber sprach: Ach, Herr, Herr, ich usw. – spricht der Herr.’ Nachdem ich in der Einleitung gezeigt hatte, wie die Erwägung der Wichtigkeit und der Schwere des Amtes und der Größe der von mir mit demselben zu übernehmenden einstigen Rechenschaft und das dabei in mir überaus lebendige Gefühl meiner Ohnmacht und Untüchtigkeit mich allerdings heute gar sehr niederschlagen wollen: So behandelte ich, um meine zukünftige Gemeinde an diesem Tage sogleich einen Blick in mein Herz tun zu lassen, nach dem übrigen Text das Thema: Was einen christlichen Prediger bei dem Antritt seines Amtes getrost und freudig mache. Ich sagte, es sei dies dreierlei: 1.) dass er nicht komme nach eigener Wahl, sondern nach Gottes Berufung; denn damit tröste Gott auch den Jeremia, wenn er zu ihm spreche: ‚Du sollst gehen, wohin ich dich sende’; 2.) dass er nicht komme mit eigener Weisheit, sondern mit Gottes Wort; denn auch damit tröste Gott den Propheten, wenn er ihm zurufe: ‚Du sollst predigen, was ich dich heiße’; endlich 3.) dass er nicht komme in eigener Kraft, sondern unter Gottes Beistand; denn nichts anderes sei es, womit der Herr auch noch zuletzt seinen Propheten unter vielen Völkern aufrichte, wenn er ihm zuspreche: ‚Fürchte dich nicht - , denn ich bin bei dir.’ Hierauf schloss ich mit einem Gebete, worin ich Gott besonders darum bat, dass er durch seinen leiblichen und geistlichen Segen Vergelter der Aufmerksamkeit sein wolle, welche Ew. Exzellenz, als das Hohe Werkzeug seiner Gnade an mir, auf mich Unwürdigen geworfen haben.

    Fast von gleicher Wichtigkeit war mir der folgende Tag; an diesem wurde ich nämlich auf der Superintendentur in Penig konfirmiert und mit einem teuren Eide auf die Bekenntnisschriften unserer Kirche verpflichtet. Gott sei gelobt in alle Ewigkeit, dass ich durch seine große Gnade und Barmherzigkeit diesen Schwur nicht als eine Gewissensfessel ansehen brauche, sondern gerade durch selbigen das mich so sehr stärkende Gefühl lebhaft geworden ist, nun Lehrfreiheit zu haben, nämlich die Freiheit, zu lehren das reine Wort Gottes, an welchem mein armes Herz festhält als an dem festen Anker meiner Hoffnung für die gegenwärtige und zukünftige Welt.

    Ja, ich darf wohl eine solche von Zeit zu Zeit wiederholte Mitteilung hierüber an Hochdieselben als eine Schuldigkeit ansehen.

    Dreierlei ist es hauptsächlich, worüber ich Ew. Exzellenz Nachricht geben zu müssen glaube, erstlich, in welchem Zustande ich die Gemeinde und ihre Schule vorgefunden, zweitens, was ich bereits zu tun mich beflissen, und drittens, was ich etwa für einen Erfolg meines Dienstes am Wort hier habe wahrnehmen können.

    Was nun zuerst den .. Zustand der hiesigen Gemeinde betrifft, so bin ich bald zu der Überzeugung gekommen, dass eigentlich geistliches Leben wohl in keinem Gliede derselben vorhanden sei. Wie hätte es auch erweckt werden sollen, da hier fast vierzig Jahre lang, vielleicht noch längere Zeit, das lebendige Wort Gottes nicht gepredigt worden ist! Von naturalistischem Unglauben sind, wie es scheint, hier nur sehr wenige angesteckt; unter diese wenigen gehört allem Anschein nach der hiesige Papiermüller K. Ein äußerlicher Respekt vor Gottes Wort und dem Prediger ist herrschend, aber freilich nur insoweit er mit einer völligen fleischlichen Sicherheit vereinbar ist. Die Sünden der Unzucht, der Sabbathsschändung, der Völlerei, der Unverschämtheit und Rohheit gehen hauptsächlich im Schwange, die Unwissenheit im Worte Gottes ist grenzenlos; dabei steht die Gemeinde auf einer sehr niedrigen Stufe auch weltlicher Kenntnisse; nur sehr wenige von den Erwachsenen sind im Stande, ihren Namen richtig zu schreiben. – Was die hiesige Schule betrifft, so zeichnet sie sich unstreitig vor vielen merklich aus; es herrscht darin Ordnung, Fleiß und Gehorsam; selbst aus den jungen Leuten der Gemeinde kann man diejenigen leicht heraus finden, welche den Unterricht N’s. genossen haben; sie sind gewöhnlich teils unterrichteter, teils weniger roh als die andern. Der Religionsunterricht ist moralisierend, ein merkwürdiges Gemisch von Wahrheit und Lüge.

    Mein Hauptbestreben ist nun dahin gegangen, vor allem die Grundlehren des göttliches Worts so deutlich, so einfach, so gründlich und so dringend als durch Gottes Gnade mir nur möglich war, vorzutragen und auf diese Weise meine Zuhörer zu einer lebendigen Erkenntnis ihrer Blindheit, Ohnmacht und Verderbtheit und zugleich des unendlichen Gnadenreichtums in Jesu Christo und zu einer rechten Einsicht in das wahre Wesen des seligmachenden Glaubens und eines wahrhaft christlichen Lebens zu bringen. Dabei bin ich immer darauf ausgegangen, Liebe und Lust zum eigenen Forschen im Worte Gottes in ihnen zu erwecken und ihnen die vielen Vorurteile, welche sie gegen die heilige Schrift und die reine Lehre und besonders gegen eine ernstliche Gottseligkeit haben, möglichst zu benehmen. Besonders nötig schien mir die Aufmerksamkeit auf das hier nicht seltene Vertrauen auf Ehrbarkeit vor der Welt und eine pharisäische Gerechtigkeit und auf den bloß äußerlichen Gebrauch der heiligen Sakramente. Außer den Predigten, deren ich an jedem Kommunion- und Festtage zwei halte, kommt mir hierzu hauptsächlich die Einführung der alle vierzehn Tage stattfindenden Kirchenexamina über den Katechismus mit den Ledigen zu statten; hier kann ich mich über manches aussprechen, was sich in den Predigten entweder gar nicht oder doch nicht auf eine der Einsicht der Gemeinde entsprechende und fruchtbare Weise vortragen lässt. Einen Hauptteil der Seelsorge machen hiernach die Krankenbesuche aus - .“

V.

Anfeindungen wegen seines entschiedenen Auftretens – Gewissensbedrückung – trauriger Zustand der sächsischen Landeskirche

    Walther kam in eine überaus schwierige Lage. Er stand unter einem gottlosen rationalistischen Superintendenten, der ihm alles Herzeleid antat und sich gegen ihn mit dessen ungläubigem und feindselig gesinnten Dorfschulmeister, als seinem Spion, verband. Wegen seines entschiedenen Auftretens aufgrund des Wortes Gottes, des Bekenntnisses, auf das er doch verpflichtet war, und der alten kirchlichen Ordnungen und wegen seines Protestes gegen rationalistische Neuerungen in der Kirche und Schule, wurde Walther wiederholt in Anklagezustand versetzt, mit amtlichen Rügen überhäuft und in kostspielige Prozesse verwickelt. Die rationalistische Agende, die er gebrauchen, und das rationalistische Gesangbuch und rationalistische Schulbücher, die er dulden sollte, lagen schwer auf seinem Gewissen.

    Walthers Vater war mit der entschiedenen Stellung seiner Söhne Hermann und Ferdinand, sowie seines Schwiegersohnes P. Keyl, nicht zufrieden. Als sie einst mit einander darüber geredet hatten, sagten die Söhne zu ihm: „Am jüngsten Tag wird’s offenbar werden“, dass nämlich die reine lutherische Lehre die richtige ist. Ihre Stellung gegenüber dem lieben Vater war daher gewiss eine recht schwere. Schon als Ferdinand sich zum Examen vorbereitete, drang sein Vater in ihn, dass er doch nicht so offen gegen die Vernunftlehren der Professoren auftreten solle, da er sonst gewisslich den Repuls [Zurückweisung, Ablehnung, Anm. d. Hrsg.] bekommen würde.

    Was der oben genannte Superintendent für ein Mann war, können wir aus dem sehen, was Walther über denselben in Büngers Lebenslauf mitteilt. Walther hatte in einer vor demselben gehaltenen sogenannten Zirkularpredigt bezeugt, dass der Tod erst durch den Sündenfall unsrer ersten Eltern in die Welt gekommen sei. Dies rügte seine Hochwürden als eine längst veraltete Idee; und als Walther hierauf den Superintendenten daran erinnerte,dass derselbe ja selbst ihn vor einem Jahr an derselben Stelle, wo er jetzt vor ihm stehe, auf die symbolischen Bücher [Bekenntnisschriften, Anm. d. Hrsg.] der evangelisch-lutherischen Kirche vereidigt habe, in welchen diese Lehre enthalten sei, da antwortete der Superintendent: „Sie sind nicht auf den Buchstaben, sondern nur auf den Geist der Symbole verpflichtet worden.“ Walther antwortete: In der Verpflichtungsformel sei davon keine Rede gewesen; übrigens stehe ja in der heiligen Schrift klar und deutlich geschrieben: „An welchem Tage du davon isst, wirst du des Todes sterben.“ Der Superintendent erwiderte: „Ach was! Da ist der geistliche Tod gemeint.“ Walther entgegnete: „Sagt Gott nicht sogleich nach dem Falle zu Adam: ‚Du bist Erde und sollst zu Erde werden’? ist da etwa auch der geistliche Tod gemeint?“ Der Herr Superintendent schlug hierauf die Augen nieder, schwieg und entließ Walther. (S. 32 f.)

    Der Glaubensdruck, unter dem die wahren Lutheraner in Sachsen lagen, war ein ganz entsetzlicher. Walther beschreibt den schauerlichen Zustand der sächsischen Landeskirche in Büngers Lebenslauf. Diese Schilderung teilen wir umso lieber mit, da Walther darin auch Beispiele aus seiner Erfahrung anführt. „Wie damals die unbedingte Vereidigung auf das Konkordienbuch nichts als ein leeres Komödienspiel war, so waren zugleich die wichtigsten landeskirchlichen Einrichtungen eben so viel tatsächliche offenkundige Verleugnungen des beschworenen kirchlichen Bekenntnisses, welche deutlich bewiesen, dass man nur aufgrund jesuitischer Moralgrundsätze behaupten könne, die sächsische Landeskirche sei noch eine lutherische, also rechtgläubige Kirche, weil in derselben das Bekenntnis noch zu Recht bestehe. Da war erstlich schon seit 1812 ein Kirchenbuch oder eine sogenannte Agende eingeführt, die ein lutherisch gläubiger Prediger nur mit bösem Gewissen gebrauchen konnte, indem dieselbe teils die göttliche Wahrheit offenbar verleugnende, teils die christliche Lehre elendiglich verwässernde Formulare enthielt. Hierzu kam noch dieses: Während niemand darnach fragte, ob sich die rationalistischen ungläubigen Prediger nach der Agende richteten, welchen dieselbe noch zu christlich klang, so durfte es hingegen ein lutherisch gläubiger Prediger nicht wagen, von derselben irgendwie abzugehen. Tat er dies und kam es vor seine Vorgesetzten, so wurde er deswegen auf das ernstlichste zur Rechenschaft gezogen. Als unter anderem Schreiber dieses (Walther) sich der alten Absolutionsformel bedient hatte, die die Agende nicht enthielt, und sein ungläubiger Schullehrer ihn deswegen bei seinem Superintendenten verklagte, berichtete derselbe die Sache alsbald an das Landeskonsistorium, welches ihm hierauf den Gebrauch der alten Absolutionsformel streng untersagte, ihn auf’s neue verpflichtete, laut der Agende die Vergebung der Sünden in allen Fällen, wo die Absolution erteilt werde, nur zu verkündigen, und ihn zur Tragung der durch die schriftlichen Verhandlungen aufgelaufenen Kosten verurteilte. Übrigens kam ein gläubiger Prediger in fast noch größere Gewissensnot, wenn er die eigens für besondere Gelegenheiten vom Konsistorium verfertigten und ihm zugesandten elenden Gebete aufs seiner Kanzel verlesen und Gott vortragen sollte. – Ferner war ein über alle Maßen elendes rationalistisches Gesangbuch eingeführt. Auch die im Gebrauch befindlichen Schulbücher waren fast alle von dem Sauerteig des Rationalismus gänzlich durchsäuert, so dass ein gläubiger Prediger als sogenannter geistlicher Ortsinspektor fort und fort in schweren Gewissensnöten steckte. Wo sich noch einigermaßen reine Schulbücher erhalten hatten, da arbeiteten die rationalistischen Superintendenten mit allem Eifer darauf hin, dass dieselben abgeschafft und durch rationalistische ersetzt wurden. Als Schreiber dieses (Walther) auf die Einführung eines in christlichem Geiste verfassten Schulbuches hinzuwirken versuchte, verklagte ihn sogleich sein gottloser Schulmeister bei seinem Superintendenten, welcher sich nun mit dem unwissenden Ortsschulvorstand verband und mit demselben die sofortige Einführung eines ebenso miserablen als widerchristlichen sogenannten ‚Schulfreundes’ erzwingen wollte. Es gelang dies jedoch durch Gottes gnädige Fügung allein darum nicht, weil sich Schreiber dieses (Walther) an seinen frommen Kirchenpatron, den Staatsminister Grafen Detlev von Einsiedel, wendete, welcher nicht nur, um die Gemeinde zu gewinnen, derselben eine große Anzahl Exemplare eines guten Schullesebuchs zum Geschenk machte, sondern sich auf die Sache bei der Kreisinspektion verwendete, welche hierin in höchster Instanz zu entscheiden hatte. Zwar hatte Schreiber dieses (Walther) die nicht unbedeutenden Kosten des deswegen geführten Prozesses zu tragen (was er natürlich mit Freuden tat), allein, noch am Tage vor seiner Auswanderung erstattete ihm seine Gemeinde unaufgefordert dieselben wieder zurück, mit der Erklärung, dass der Prozess doch nur um des Wohles ihrer Kinder willen geführt worden sei. – Im höchsten Grade gewissensbeschwerend war ferner für lutherisch-gläubige Pastoren der sächsischen Landeskirche, dass sie gegen Gottes klares Wort vermöge ihres landeskirchlichen Amtes nicht nur zu kirchlicher, sakramentlicher und amtsbrüderlicher Gemeinschaft mit Irrlehrern, ja, mit den offenbarsten Ketzern gezwungen waren, sondern dieselben sogar für ihre Oberhirten anerkennen, sich von denselben examinieren, ordinieren, auf die Bekenntnisse beeidigen und in das Amt einführen lassen, ja, denselben gestatten mussten, die göttliche Wahrheit vor ihrer, der Prediger eigenen Gemeinden zu lästern und ihre Teufelslehre vor denselben auszuschäumen. Als Schreiber dieses (Walther) seine Probepredigt hielt und bald darauf vor seiner Gemeinde ordiniert wurde, lästerte der amtierende Superintendent in seinen Ansprachen an ihn Elia und David als gemeine Mörder, indem er ihn vor einem die Freuden dieses Lebens verachtenden Christentum warnte und ihn lästerlich aufforderte, ein so heiteres Christentum zu predigen, wie Christus auf der Hochzeit zu Kana mit der Tat gepredigt habe! Selbstverständlich bereitete endlich einem lutherisch gläubigen Prediger auch dies keine geringe Pein in seinem Gewissen, dass ihm die Übung der Beichtanmeldung, die Suspension auch der unbußfertigsten Menschen vom heiligen Abendmahl, überhaupt alle Übung der Kirchenzucht untersagt war. – In nicht geringerer Not steckten aber schon damals in Sachsen auch die lutherisch gläubigen Laien. Offenbar falsche Propheten sollten sie für ihre Hirten und Seelsorger anerkennen, von denselben ihre Kinder taufen und konfirmieren, sich von ihnen in der Beichte absolvieren und das heilige Abendmahl reichen lassen. Ihre Kinder sollten sie ungläubigen Schulmeistern zum Unterricht in der Religion und zur christlichen Erziehung überlassen und ihnen zu diesem Zweck gottlose Schulbücher kaufen und selbst in die Hände geben. So oft gläubigen Eltern ein Kind geboren wurde, war große Not. In der Agende befand sich unter den fünf darin enthaltenen Taufformularen nur ein einigermaßen erträgliches. Da musste nun der Vater zu seinem ungläubigen Pastor eilen und denselben um den Gebrauch dieses einen Formulars demütigst bitten; und auch diese Bitte wurde ihm nur selten gewährt, so dass er meist mit tief verwundetem Gewissen sein von einem Feinde Christi zwar im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, aber mit Hinzutuung eines rationalistischen Gewäsches getauftes Kind aus der Kirche wieder nach Hause trug.8 – So schwer es endlich vielen armen lutherisch gläubigen Laien wurde, oft viele Stunden weit gehen zu müssen, wollten sie einmal eine christliche Predigt hören, so war dies doch noch das Geringste, was sie zu tragen hatten. Viele, nachdem sie während der ganzen Woche vom Morgen bis zum späten Abend im Schweiße ihres Angesichts hart gearbeitet hatten, um den Ihrigen das kärgliche tägliche Brot zu erwerben, brachen regelmäßig beim Anbruch des Sonntags schon bald nach Mitternacht auf, um in einer fernen Kirche ihre verschmachteten Herzen an der Predigt des reinen seligmachenden Wortes Gottes zu erquicken. War dies geschehen, so traten sie hierauf am Abend des Sonntags den Rückweg fröhlich an und begannen nun am Montag, an ihren Seelen gestärkt, wieder die sie und die Ihrigen kümmerlich nährende Wochenarbeit. Wie gerne würden damals die lutherisch gläubigen Prediger und Laien alles daran gegeben haben, die Erlaubnis zu erhalten, sich zu einer von der tief verderbten abgefallenen Landeskirche separierten lutherischen Freikirche zusammen zu schließen! Aber an ihre Freigebung zu einem solchen Zwecke war damals schlechterdings nicht zu denken. Auswanderung in ein Land, in welchem Religionsfreiheit herrscht, erkannten sie daher als den einzigen Ausweg, aus der immer unterträglicher werdenden Gewissensbedrückung heraus zu kommen, die alles Glaubensleben in ihnen zu ersticken drohte.“ (S. 33 ff.)

VI.

Auswanderung – Ankunft in St. Louis, Mo. – Pastor in Perry County, Mo. – Gründung der Lehranstalten in Perry County – Anfechtungen

    Als daher schon im anderen Jahr seiner Amtsverwaltung der oben genannte Pastor zu Dresden alle unter Glaubensdruck liegenden Lutheraner, namentlich Sachsens, Prediger und Laien, aufforderte, mit ihm nach Amerika auszuwandern, um da die kirchliche Freiheit zu suchen und zu genießen, die ihnen in der Heimat versagt sei, schloss sich Walther mit seinem Bruder Otto Hermann, der Pfarrvikar des Vaters war, an die sich schnell bildende Auswanderergesellschaft an.

    Am 16. Sonntag nach Trinitatis 1838 legte er sein Amt nieder, obwohl mit blutendem Herzen und nach schweren inneren und äußeren Kämpfen. Auch seine Gemeinde, unter welcher er nicht ohne Segen gewirkt hatte, hörte seine Abschiedspredigt mit lautem Schluchzen an. Einige Familien derselben wanderten auch mit ihm aus. Er sollte mit dem Schiff „Amalia“ fahren; aber – o wunderbare Fügung Gottes! – als er in Bremen ankommt, wird er nicht mehr zugelasssen. Auf dem Schiff „Johann Georg“, auf welches er sich dann begibt, ist auch kein Raum mehr übrig; da erbietet sich ein junger Mann, ihm Platz zu machen, und geht auf ein anderes Schiff, während Walther unter dessen Namen9 bleibt. Von dem Schiff „Amalia“ und dessen Passagieren hat man nie wieder etwas gehört; es ist ohne Zweifel zugrunde gegangen.

    Das Schiff, auf welchem Walther sich befand, fuhr am 3. November 1838 von Bremerhafen ab und kam nach stürmischer Fahrt am 5. Januar 1839 in New Orleans an. Nach einer glücklichen Fahrt auf dem Mississippi gelangte Walther im Februar in St. Louis an.

    Von der etwa 800 Seelen zählenden Auswanderergemeinde blieb ein kleiner Teil in St. Louis, dem ersten Zielort derselben, welcher noch in demselben Jahr den seligen Pastor Otto Hermann Walther, Walthers älteren Bruder, zum Prediger berief. Die andern ließen sich in Perry County, Missouri, nieder und teilten sich da in mehrere kleine Gemeinden, welche die übrigen ausgewanderten Pastoren beriefen. Walther, der im Monat Mai nach Perry County gekommen war, übernahm Dresden und dann Johannisberg. Trotzdem in der Ansiedlung bittere Armut herrschte, dachten doch die damals in derselben sich aufhaltenden Kandidaten Ottomar Fürbringer, Theodor J. Brohm und Joh. Friedrich Bünger (welcher bald nach Pfingsten 1839 mit der New Yorker Gemeinde, den sogenannten Berlinern, angekommen war) daran, eine Anstalt zur Erziehung von Predigern und Lehrern zu gründen. Die Pastoren Walther, G.H. Löber und Keyl gingen mit Freuden auf den Plan der Kandidaten ein und sagten ihre tätige Mithilfe zu. Mit Walther kauften sie in der Ansiedlung Dresden sechs Acker Land und sorgten auch für die Errichtung einer Blockhütte, wobei sie die Hauptarbeitt taten, da die Ansiedler selbst mit großer Armut zu kämpfen hatten.

Im Sommer (1839) erschien im hiesigen „Anzeiger des Westens“ folgende Anzeige:

„Unterrichts- und Erziehungsanstalt

    „Wir, die Unterzeichneten, beabsichtigen eine Unterrichts- und Erziehungsanstalt zu errichten, die sich von den gewöhnlichen Elementarschulen besonders dadurch unterscheidet, dass sie außer den allgemeinen Elementarkenntnissen sämtliche Gymnasialwissenschaften umfasst, die zu einer wahrhaft christlichen und wissenschaftlichen Ausbildung erforderlich sind, als: Religion, lateinische, griechische und hebräische, deutsche, französische und englische Sprache, Geschichte, Geographie, Mathematik, Physik, Naturgeschichte, Anfangsgründe der Philosophie, Musik, Zeichnen. In genannten Disziplinen sollen die Zöglinge unserer Anstalt so weit gefördert werden, dass sie nach Absolvierung eines vollständigen Lehrkursus zu den Unversitätsstudien tüchtig sind. Die verehrlichen Eltern, welche ihre Kinder unserer Anstalt übergeben wollen, werden ersucht, von Plan und Errichtung derselben bei Pastor O.H. Walther in St. Louis, Poplar Straße No. 14, zwischen 1str und 2ter Straße, nähere Kenntnis zu nehmen. – Der Unterricht soll, geliebt’s Gott, den 1. Oktober d.J. seinen Anfang nehmen.

            Am Ansiedlungsplatz der deutschen Lutheraner in Perry County, unweit
                des Obrazo, am 13. August 1839.

                                                                               C.Ferd. W. Walther,

                                                                               Ottomar Fürbringer,

Th. Jul. Brohm,

    Der Unterricht, an dem auch Walther sich anfänglich beteiligte, scheint nach „Lutheraner“, Jahrg. 4, 47, erst im Dezember begonnen zu haben.

    Die ersten Schüler waren: Hermann Bünger (der bald wegzog), Theod. Schubert, Walthers Neffe (der bald starb), Fr. J. Biltz, J.A.F.W. Müller, Ch. H. Löber.

    Indes war es der Exulantengesellschaft offenbar geworden, dass sie ihrem bisherigen Führer Stephan nicht mehr folgen könnte. Da geriet denn auch Walther in neue große Seelennot. Zwar hielt die Gesellschaft bis auf sehr wenige Glieder trotz aller erfahrenen Täuschungen fest zusammen und gründete, wie oben bemerkt, unter unsäglichen Entbehrungen eine Anzahl Gemeinden; allein die Erfahrungen, welche die Ausgewanderten gemacht hatten, hatten die Wirkung, dass alles bis dahin Feststehende, das sie zur Auswanderung bewogen hatte, ihnen nun wankend wurde, das Eine ausgenommen, Gottes Wort und das Bekenntnis unserer Kirche, das nun Prediger und Zuhörer als den einzigen ihnen übrig gebliebenen unzerbrechlichen Anker umso fester umfassten.

    Zu den leiblichen Nöten kamen also auch große Seelennöte. In Gewissensverwirrung erklärte man die Auswanderung an sich für Sünde und unterschied nicht die Auswanderung an sich und die dabei vorgekommenen Vergehen, z. B. das Zerreißen der Familienbande. Man zweifelte, ob noch eine christliche Gemeinde vorhanden sei; man hegte Misstrauen gegen alle Pastoren; man zweifelte an der Gültigkeit der Amtshandlungen. Den Pastoren fiel es schwer auf’s Herz, dass sie ihre Gemeinden in Deutschland verlassen hatten, dass sie an den bei der Auswanderung vorgekommenen Sünden mit Schuld waren usw.

    Eine Beschreibung der traurigen Zustände entnehmen wir einem Brief Walthers, den er von „Dresdenau“ am 4. Mai an seinen Bruder schrieb. Er schreibt darin u.a.: „Die Hauptfragen, um die es sich jetzt unter uns handelt, sind: Sind unsere Gemeinden christlutherische Gemeinden? oder sind sie Rotten? Sekten? Haben sie die Macht zu vozieren [berufen] und zu bannen? Sind wir Pastoren oder nicht? Sind unsere Vokationen [Berufungen] gültig? Gehören wir noch nach Deutschland? insonderheit Pastor Löber, der nicht einmal eine obrigkeitliche Entlassung aus dem Amte bekommen hat? Haben wir hier können göttlich berufen sein, da wir unsern deutschen göttlichen Beruf verlassen haben und nach unserem falschen Gewissen davon gelaufen sind? Sollen uns die Gemeinden nicht jetzt absetzen, da sie erst jetzt mit uns einsehen, welches große Ärgernis wir gegeben haben? Wäre es nicht besser, wenn die Gemeinden uns wenigstens entließen, eine Zeitlang sich bloß durch die Übung des geistlichen Priestertums zu erhalten suchten und dann entweder die alten oder neue Pastoren sich erwählten? Es ist mir unmöglich, Dir auf alle diese Fragen alle die verschiedenen Antworten zu schreiben, die darauf gegeben werden. Herr Marbach zweifelt auf das Allerstärkste daran, dass unsere Gemeinden christlutherische Gemeinden seien – dass sie gültig vozieren und bannen könnten und dass wir Pastoren seien; Herr Sp. leugnet es auf’s bestimmteste. Beide aber raten eine interimistische Auflösung alles kirchlichen Gemeindeverbandes, besuchen daher den öffentlichen Gottesdienst nicht mehr und beschränken sich auf den Hausgottesdienst; ihnen in der Hauptsache gleich denkt der vormalige Kandidat Klügel und zum Teil Herr Steuerrevisor Barthel....

                                                     Dein Mitsünder und Miterlöster

                                                                                                        C.F.W.W.“

VII.

Disputation in Altenburg 1841 – hohe Bedeutung derselben

So bitter und schwer diese Anfechtungen waren, so heilsam waren sie; denn durch dieselben wurde er nicht nur zubereitet zu seiner späteren segensreichen Wirksamkeit, sondern auch schon damals zur heilsamen Befreiung der armen verwirrten Gewissen.

Auch leiblich sehr angegriffen, dass er seinem Amte nicht vorstehen konnte, hielt er sich bei seinem Schwager, dem seligen Pastor Keyl, in Frohna, auf und hier vertiefte er sich, soweit es seine Schwachheit zuließ, in Luthers und anderer Väter Schriften, zog dieselben in den Fragen, die damals die Gemüter bewegten, zu Rate und gelangte durch Gottes Gnade zur Gewissheit. Er hatte sich einen reichen Vorrat theologischer Zeugnisse gesammelt. Er war daher wohl gerüstet, als im April des folgenden Jahres 1841 in Altenburg eine Disputation anberaumt wurde, in welcher es sich darum handelte, ob hier noch eine christliche Gemeinde und Kirche vorhanden sei oder nicht. Der Advokat A. Marbach war der Hauptwortführer der Gegner. Die von Walther siegreich verteidigten Thesen sind folgende:

1.

Die wahre Kirche im eigentlichsten und vollkommensten Sinne ist die Gesamtheit aller wahrhaft Gläubigen, welche von Anfang der Welt bis ans Ende aus allen Völkern und Sprachen vom Heiligen Geist durch das Wort berufen und geheiligt werden. Und weil diese wahrhaft Gläubigen nur Gott kennt (2. Tim. 2,19), so wird sie auch die unsichtbare Kirche genannt. Zu dieser wahren Kirche gehört niemand, der nicht mit Christus geistlich vereinigt ist; denn sie ist der geistliche Leib Christi.

2.

Der Name der wahren Kirche gehört auch allen den sichtbaren Haufen von Menschen, bei welchen Gottes Wort rein gelehrt und die heiligen Sakramente nach Christi Einsetzung verwaltet werden. In dieser Kirche sind zwar auch Gottlose, Heuchler und Ketzer, aber sie sind keine wahren Glieder derselben und machen die Kirche nicht aus.

3.

Der Name der Kirche und in einem gewissen Sinn auch der Name der wahren Kirche gebührt auch solchen sichtbaren Haufen von Menschen, die sich unter dem Bekenntnisse eines verfälschten Glaubens vereinigt haben und sich darum eines teilweisen Abfalls von der Wahrheit schuldig machen; wenn sie nur so viel von Gottes Wort und den heiligen Sakramenten rein haben, dass dadurch Kinder Gottes geboren werden können. Werden solche Haufen wahre Kirchen genannt, so soll damit nicht ausgedrückt sein, dass sie rechtgläubige, sondern nur, dass sie wirkliche Kirchen seien, im Gegensatz zu allen weltlichen Gemeinschaften.

4.

Irrgläubigen Haufen wird der Name Kirche nicht missbräuchlich beigelegt, sondern nach der Redeweise des Wortes Gottes selbst. Es ist auch nicht gleichgültig, dass solchen Gemeinschaften dieser hohe Name vergönnt wird; denn daraus folgt,

1. dass Glieder auch solcher Haufen selig werden können; denn außer der Kirche ist kein Heil.

5.

2. Die äußerliche Trennung eines irrgläubigen Haufens von einer rechtgläubigen Kirche ist nicht eine notwendige Trennung von der allgemeinen christlichen Kirche, kein Abfall zum Heidentum und nimmt jenem Haufen noch nicht den Namen der Kirche.

6.

3. Auch irrgläubige Haufen haben die Kirchengewalt, auch unter ihnen können die Güter der Kirche gültig verwaltet, das Predigtamt aufgerichtet, die Sakramente gültig administriert [verwaltet, Anm. des Hrsg.] und die Schlüssel des Himmelreichs gehandhabt werden.

7.

4. Auch irrgläubige Haufen sind nicht aufzulösen, sondern nur zu reformieren.

8.

Die rechtgläubige Kirche ist hauptsächlich nach dem gemeinsamen rechtgläubigen öffentlichen Bekenntnisse zu beurteilen, wozu sich die Glieder derselben verbunden erkennen und bekennen.10

 

VIII.

Beruf an die Gemeinde in St. Louis – Annahme des Berufes – Kampf mit Separatisten – Trost – Sieg

    Als Walther an dieser Disputation teil nahm, hatte er eine Vokation [Berufung, Anm. d. Hrsg.] der Gemeinde in St. Louis in Händen. Am 21. Januar 1841 war sein teurer Bruder, Pastor der Gemeinde in St. Louis, in Christus entschlafen.11 Am 8. Februar wählte die Gemeinde unsern Walther zu dessen Nachfolger. Er nahm aber diese Berufung nicht sogleich an, sondern erbat sich Bedenkzeit.

    Die Gemeinde beschloss, noch einige Zeit auf Walthers Antwort zu warten. Inzwischen war Walther zur Gewissheit gelangt und die erwähnte Disputation gehalten worden. Er reiste nach St. Louis, um über die Vokation mit der Gemeinde zu reden. Am 26. April (1841) erschien er in der Gemeindeversammlung und erklärte, dass alles, was ihn bisher abgehalten habe, den Ruf anzunehmen, nun aus dem Wege geräumt sei: 1. Er sei wieder genesen; 2. er sei durch fleißiges Forschen in den alten Kirchenlehrern zu der Erkenntnis gelangt, dass, wenn von Seiten der Berufenden alles nach göttlicher Ordnung geschehen, der Berufende durchaus sich nicht weigern solle, den Beruf anzunehmen; 3. das, das er bei der Auswanderung versehen, seien nicht solche Sünden, die ihn (1. Tim. 3,7; Tit. 1,7) des Amts unwürdig machen; 4. er sei nun völlig gewiss, dass der Gemeinde der Ruhm einer christlichen Gemeinde nicht genommen, ihr daher auch die Rechte einer solchen nicht abgesprochen werden können,

    Am Sonntag darauf, Sonntag Jubilate, hielt er seine Antrittspredigt. Da er noch immer körperlich schwach war, beschloss die Gemeinde, dass er einige Zeit sonntags nur einmal predigen solle. So trat er denn nun, fest im Glauben, dass er göttlich berufen sei, durch die Anfechtungen fest gegründet in der namentlich für Gemeindeleitung so wichtigen Lehre von Kirche, vom Amt, vom geistlichen Priestertum usw., seine segensreiche Wirksamkeit in St. Louis an, segensreich nicht nur für diese Gemeinde, sondern bald auch für weitere, für die weitesten Kreise.

    Doch noch sollte Walther nicht zur Ruhe kommen. Unruhige Geister, Separatisten, machten ihm das Leben schwer und beunruhigten die Gemeinde. Ihr Anführer war Sp., der Walther schon in Perry County viel Herzeleid getan hatte und der durch demütige Äußerungen Walthers immer frecher geworden zu sein scheint. Unermüdlich agitierten sie gegen Walther, beschuldigten ihn der Priesterherrschaft, suchten die Gemeinde zu bewegen, ihn zu entfernen, bestritten die Rechtmäßigkeit des Gemeindebestandes und forderten, dass die Gemeinde sich auflöse. Gar manche Gemeindeversammlung musste deshalb veranstaltet, gar manche Unterhandlung mit diesen Leuten gepflogen werden.

    Es gelang jenen Geistern nicht, die Gemeinde zu zerrütten. Durch die Zeugnisse des Wortes Gottes und der Bekenntnisschriften, wie auch Luthers und anderer treuer Väter wurde die Gemeinde immer mehr befestigt.

IX.

Gesegnete Amtswirksamkeit – Gemeindeordnung – Dreieinigkeitskirche – Konferenz bei Walther in Sachen der Lehranstalt in Perry County und des Grabau’schen „Hirtenbriefs“ – Bünger Walthers treuer Gehilfe

    Die Gemeinde hatte indessen unter der gesegneten Wirksamkeit Walthers auch nach außen zugenommen, doch noch mehr erstarkte sie innerlich. In den Gemeindeversammlungen wurde die Lehre fleißig getrieben. Anfangs wurden besonders solche Lehren besprochen, welche sich auf den vorliegenden Streit bezogen, hernach auch andere. Eine Gemeindeordnung und eine Vorsteherordnung wurden entworfen und für verschiedene Paragraphen der ersteren und für die kirchliche Ordnung der Laienältesten in manchen Versammlungen Zeugnisse unserer Lehrer von Walther vorgelegt und besprochen. Der in den USA gebräuchliche Name „Kirchenrat“ wurde verworfen. Obgleich die Gemeinde noch in kümmerlichen Verhältnissen sich befand, sorgte sie doch frühzeitig für die Armen in ihrer Mitte und entwarf eine Armenkassenordnung, unterstützte die Anstalt in Perry County, ja, vergaß auch auswärtige Arme nicht und erhob z.B. im Sommer 1842 eine Kollekte für die Verunglückten Hamburgs.

    Die Gottesdienste wurden bis Spätherbst 1842 – mit einigen Unterbrechungen12 – in dem Unterraum der Episkopalkirche (Christ Church) gehalten. Da aber der Vorstand dieser Kirche immer mehr Schwierigkeiten machte und sonst kein Lokal zu bekommen war, so musste die Gemeinde bald daran denken, ein eigenes Gotteshaus zu errichten. Im Januar 1842 begann man über den Bau einer Kirche und den Aufkauf eines Bauplatzes zu sprechen. Ein Platz an der Lombardstraße zwischen 3. und 4. Straße wurde gekauft und der Bau vergeben. Bei den über den Bau gepflogenen Verhandlungen sprach Walther den Wunsch aus: 1. dass der Name der Kirche nicht der eines Menschen sei, 2. dass er ein Bekenntnis enthalte, und 3. dass er nicht sogleich den Spott der Welt errege. Die Kirche erhielt dann den Namen „Dreieinigkeitskirche“. In Bezug auf diesen Namen heißt es in dem von Walther verfassten und im Grundstein niedergelegten Dokument, in welchem auch Nachricht über das Entstehen, die Schicksale und den inneren und äußeren Zustand der Gemeinde gegeben wurde: „Wisse es, o Leser, wer du auch sein magst, darum haben wir unserer Kirche den hohen und heiligen Namen ‚Dreieinigkeitskirche’ gegeben, weil wir keinen andern Gott für den wahren erkennen als den dreieinigen, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiligen Geist, wie er sich uns in seinem Wort geoffenbart hat. Wisse es, o Leser, nur dazu haben wir den Grund zu unserer Kirche gelegt, dass darin das reine Wort Gottes nach der Auslegung der apostolischen und nach ihr der evangelisch-lutherischen Kirche uns und unsern Nachkommen verkündigt und die heiligen Sakramente, die heilige Taufe und das heilige Abendmahl, nach der Einsetzung Jesu Christi, des eingebornen Sohnes Gottes, von berufenen Dienern der Kirche verwaltet werden.“

Eine vorgefundene Notiz von Walther lautet: „Am 22. Juni 1842 wurde schriftlich die Nachricht in den Grund unserer Dreieinigkeitskirche gelegt, dass zu dieser Zeit die Gemeinde bestanden habe der Seelenzahl nach aus 325 Seelen, nach der Selbständigkeit aus 131 einzelnen Personen, nach der Stimmfähigkeit aus 112 Gliedern.“ Am 2. Adventssonntag, den 4. Dezember 1842, wurde die Kirche eingeweiht.

Im Frühjahr 1843 wurde die Gemeindeordnung, nachdem sie in vielen Gemeindeversammlungen, mit Zugrundelegung von Zeugnissen unserer lutherischen Bekenntnisse und lutherischen Kirchenlehrer, gründlich durchgesprochen war, unterschrieben. Bei der Aufforderung zur Unterschrift hob Walther folgende vier Punkte hervor: 1. dass es Gottes Wille sei, dass eine jede Gemeinde ihre Ordnung habe, 2. dass Gott seinen Kindern Freiheit gegeben habe, alles einzurichten nach ihren Bedürfnissen, 3. dass wir die Kirche jederzeit hierin als Vorgängerin haben, und 4. dass eine Ordnung namentlich hier in diesem Lande notwendig sei, wo die Obrigkeit sich der Kirche nicht annehme.

Im Sommer 1843 zogen Walther und seine Gemeinde die Förderung der Anstalt in Perry County ernstlich in Betracht. Die gerade in St. Louis anwesenden Pastoren Löber, Gruber, Fürbringer und Schieferdecker lud die Gemeinde ein, am 22. Juni in ihrer Versammlung zu erscheinen und ihre Ansichten wegen der Anstalt vorzulegen. Man erkannte die klare Notwendigkeit einer solchen Anstalt. Man hielt es für wünschenswert, dass die Anstalt nach St. Louis verlegt werde, doch sah man, dass der Plan zur Zeit noch nicht ausführbar sei. Auch wurde beantragt, dass die Anstalt ein Institut der lutherischen Gemeinden in St. Louis und Perry County werde, damit sie mehr Festigkeit gewinne. In späteren Versammlungen wurde die Beratung fortgesetzt. Kandidat Gönner wurde als Kandidat für das Lehramt am College vorgeschlagen. Es bildete sich eine „Gesellschaft für das College“, welche die Sache der Anstalt in die Hand nahm. Kandidat J.J. Gönner wurde als Rektor für die Anstalt berufen. Die Perry Countyer traten der Berufung bei. Am 18. März 1844 beschloss die Gemeinde, die Collegesache als Gemeindesache zu betrachten und die Anstalt, wenn auch nur durch freiwillige Beiträge, zu unterstützen. Und die gewährte Unterstützung war in der Tat eine für die damligen Verhältnisse gar reichliche.

Die erwähnte Zusammenkunft der Pastoren hatte noch einen anderen Zweck. Es handelte sich um eine gemeinsame Antwort auf den sogenannten „Hirtenbrief“ des Pastors J.A.A. Grabau in Buffalo, New York. Dieser Pastor Grabau war ein Führer einiger aus Preußen eingewanderter lutherischer Gemeinden, welche sich in und um Buffalo, New York, und in Wisconsin niedergelassen hatten. An diese Gemeinden richtete er unter dem 1. Dezember 1840 einen „Hirtenbrief“, um sie über Berufung ins Predigtamt, Kirchenordnungen usw. zu belehren und zu ermahnen. In demselben sprach er aber ganz gefährliche Grundsätze aus in Bezug auf das gegenseitige Verhältnis zwischen Predigern und Gemeinden, Ordination, Kirchenordnungen usw. Der „Hirtenbrief“ war auch den sächsischen Pastoren zur Begutachtung zugesandt worden. Diese waren nämlich nicht lange nach ihrer Ankunft in Amerika mit Pastor Grabau in Buffalo und Pastor Krause in Wisconsin in briefliche Verbindung getreten und hatten sich nicht wenig der Hoffnung gefreut, dass sie ganz vornehmlich mit diesen Glaubensgenossen in einer ebenso kirchlich entschiedenenen als brüderlich vertrauten Gemeinschaft des Glaubens und des Bekenntnisses würden stehen können.13 Sie hatten bisher ihre Bedenken darüber „bloß in kürzeren Andeutungen“ ausgesprochen. Es galt aber, eine ausführliche Beurteilung des „Hirtenbriefes“ abzufassen und dem Pastor Grabau zukommen zu lassen.

Über diesen doppelten Zweck der erwähnten Zusammenkunft der sächsischen Pastoren in St. Louis schrieb der selige Pastor Gotthold Heinrich Löber in der genannten „Beurteilung“ des Hirtenbriefs, datiert St. Louis, den 3. Juli 1843, u.a.: „.... Sollen wir zuvörderst ein summarisches Urteil über den Inhalt des Hirtenbriefes geben, so scheint uns dabei einesteils hinsichtlich der so sehr hervorgehobenen alten Kirchenordnungen Wesentliches und Unwesentliches, Göttliches und Menschliches verwechselt und somit die christliche Freiheit beschränkt, andernteils aber dem Predigtamt mehr als ihm zukommt, zugeschrieben und somit das geistliche Priestertum der Gemeinden hintangesetzt zu werden.“14

Wer sieht hier nicht die herrliche Frucht der Anfechungen und Kämpfe, die Walther und seine Mitarbeiter zu bestehen hatten? Der gnädige Gott hatte sie aus gefährlichen, romanisierenden Lehren herausgeführt und sie die Herrlichkeit der biblisch-lutherischen Lehre von Kirche, Predigtamt, christlicher Freiheit u.a. erkennen lassen, und so sie zu Werkzeugen bereitet, die diesen anderwärts auftauchenden Irrungen mutig entgegen treten, dagegen die biblisch-lutherische Lehre tapfer verteidigen sollten. Walther schrieb später: „Es ist uns kein Zweifel, hätte sich Gott nach seiner unergründlichen Barmherzigkeit unser nicht angenommen und uns über unsere romanisierende Lehre und Praxis nicht mit Gewalt die Augen geöffnet, so würden wir nicht nur hier allein zur Zerstörung der Christenheit gewirkt haben, sondern auch endlich ewig verloren gegangen sein. - - Aber, o des treuen Gottes! Was Satan böse zu machen gedachte, das gedachte Gott gut zu machen. Hier mussten wir erst durch unsere Irrtümer bis an den Abgrund zeitlichen und ewigen Verderbens geführt werden, um sodann, daraus durch Gottes Eingreifen ohne unser Zutun gerettet, dass wir so sagen, als gebrannte Kinder gegen dieselben anderwärts auftauchenden Irrtümer desto unbeweglicher zu zeugen.“15

Im Frühjahr 1844 beschloss die Gemeinde, Walther eine Erleichterung in der Amtsverwaltung zu verschaffen und einen Gehilfen zu berufen. Die Wahl fiel auf den Kandidaten J.F. Bünger, der seit dem Sommer 1840 die Gemeindeschule übernommen hatte. Die Annahme des Berufs von Seiten Büngers verzögerte sich, da er von einer Landgemeinde in St. Louis County berufen worden war. Er nahm dann doch den Beruf als „zweiter Pastor“ an, da ihm gestattet worden war, die Landgemeinde als Filial alle vierzehn Tage zu bedienen. Walther hatte an ihm einen überaus treuen Gehilfen.

 

X.

„Der Lutheraner“, von Walther herausgegeben, führt Gleichgesinnte zusammen – Schritte zur Bildung eines rechtgläubigen Synodalverbandes

Doch nun kam die Zeit, da Walthers Wirksamkeit in weitere, in weiteste Kreise sich erstrecken sollte. Gott regte in ihm den Gedanken an, ein kirchliches Blatt herauszugeben. Er selbst schreibt über die Entstehungsgeschichte des Blattes: „Eine Reihe von Jahren suchten wir uns in der Stille in der erkannten Wahrheit immer tiefer zu gründen. Der gefundene Schatz und unsere Kirche, in der wir diesen Schatz gefunden hatten und von der wir sahen, dass sie denselben allein habe, wurde uns daher immer teurer und werter. Mit tiefer Betrübnis sahen wir aus den wenigen hiesigen Blättern, die wir damals lasen, teils wie falsch die Lehre unserer Kirche von den Feinden derselben dargestellt und wie frech sie angegriffen und verlästert wurde, teils wie fast niemand diese lügenhaften Entstellungen strafte und diese schamlosen Angriffe zurück schlug, teils wie verkehrt selbst die Vorstellungen vieler Freunde der lutherischen Kirche von deren eigentlicher Lehre waren, teils wie wir Sachsen noch immer für eine romanisierende, eine besondere Lehre führende Sekte galten. Dies brachte endlich in Gemeinschaft mit mehreren andern mit uns ausgewanderten lutherischen Predigern den Entschluss in uns zur Reife, ein Blättchen herauszugeben, das unserer lieben Kirche unter dem offenen ehrlichen Namen ‚Der Lutheraner’ nach den hiesigen Bedürfnissen, so viel Gott Gnade dazu geben würde, dienen sollte. Die Aussichten für das Bestehen eines solchen Blattes waren sehr, sehr trübe. Unsere eingewanderten Gemeinden waren noch sehr arm und mussten schon kaum zu erschwingende Opfer bringen, um hier die Wohltaten recht geordneter und wohl versorgter evangelisch-lutherischer Gemeinden genießen zu können. Von ihnen war es kaum zu erwarten, dass sie allein den Bestand des Blattes würden sichern können, und sonst hatten wir fast gar keine Bekanntschaft und Verbindung mit Predigern und Gemeinden. Nur zweien, die gegenwärtig an der Spitze auch der sogenannten sächsischen Gemeinden als Synodalbeamte stehen, W. und S., wagten wir das Blatt zuzuschicken. Unsere Erwartungen, oder wenigstens unsere Ansprüche, gingen nicht weiter als dahin, etwa so viel Blätter in weitere Kreise zu bringen, als nötig seien, um ein unmissverständliches öffentliches Zeugnis von dem abzulegen, was eigentlich lutherische Kirche und was eigentlich ihre Lehre sei.“16

In einer Gemeindeversammlung am 3. Juni 144 legte er der Gemeinde seinen Plan vor und forderte sie auf, ihn bei der Herausgabe zu unterstützen. Die Gemeinde sagte ihm ihre Unterstützung einstimmig zu. In einer späteren Versammlung – am 12. August – erklärten nicht nur viele Gemeindeglieder, zwei Exemplare nehmen zu wollen, sondern es wurde auch von der Gemeinde beschlossen, da noch $ 4.68 bei der Herausgabe der ersten Nummer zu decken waren, diese Summe vom Überschuss der Gemeindekasse zu nehmen, wenn sie nicht durch eine freiwillige Kollekte aufgebracht werden könnte, und das solle auch bei der Herausgabe der folgenden Nummern geschehen. So wurde denn die erste Nummer Anfang September (1844) ausgegeben. In derselben gibt die Posaune einen klaren Klang von sich. Als Motto steht an der Spitze: „Gottes Wort und Luthers Lehr vergehet nun [nie, Anm. d. Hrsg.] und nimmermehr.“ Der Inhalt dieser ersten Nummer war: „Vorbemerkungen über Ursache, Zweck und Inhalt des Blattes.“ „Zeugnisse Luthers: Welches der Hauptartikel der christlichen Lehre sei.“ „Von dem Namen ‚Lutheraner’. Ist es nicht unrecht, sich so zu nennen?“ – „Ein Beleg aus der Geschichte der Kirchenversammlung zu Nizäa, wie unser Glaube nicht auf Menschenweisheit bestehe, sondern auf Gottes Kraft.“ „Luthers eigenes Urteil über sein scharfes Schreiben.“

Dieses Blatt wurde durch Gottes Gnade das Werkzeug, dass sich damals die Wenigen kennen lernten und zusammen fanden, welche in Amerika noch bei dem Glaubens Luthers und dem Bekenntnis der Ungeänderten Augsburgischen Konfession, wie es in dem Konkordienbuch von 1580 niedergelegt ist, zu bleiben entschlossen waren. „Eine große Freude im Jahre 1844 war es für mich“, schreibt Dr. Sihler in seiner Selbstbiographie, „als die erste Nummer des ‚Lutheraner’ in St. Louis erschien. ... und nachdem ich die folgenden Nummern bekommen hatte, säumte ich nicht, das Blatt meinen Gemeinden zu empfehlen und in ihnen auszubreiten; denn ein solches Blatt tat den Lutheranern hiesigen Landes not, die großenteils nicht wussten, was lutherisch sei und warum sie lutherische Christen sich nannten. Natürlich kam ich dann auch mit dem werten Herausgeber zunächst in eingehende briefliche Berührung.“ (Lebenslauf II, S. 39 f.) Von Pastor Friedrich Wyneken schreibt Dir. Lindemann: „Gerade zu jener Zeit, als Wyneken Luthers Lehre gegen seine eigene Synode (Synode des Westens) zu verteidigen hatte, erhielt er die erste Nummer des ‚Lutheraner’, der seit 1. September 1844 in St. Louis von Pastor C.F.W. Walther herausgegeben wurde. Er hatte sich überzeugt, dass er von seiner Synode nichts zu hoffen hatte; deshalb war ihm jenes Blatt ein Engel des Trostes. Sobald er es flüchtig durchgelesen hatte, rief er hocherfreut aus: ‚Gott sei Dank, es gibt noch  mehr Lutheraner in Amerika!’ Neue Hoffnung beseelte ihn für die Kirche dieses Landes; er sah es Tag werden nach finsterer Nacht.“ (Ehrendenkmal treuer Zeugen Christi, IV, S. 294)

Eine erste, eine Hauptfrucht des „Lutheraner“ war die Bildung der deutschen ev.-luth. Synode von Missouri, Ohio u.a. St., eines Körpers, dessen Ziel von Anfang an Lehrreinheit und Lehreinheit war, welchem nach Gottes wunderbarem Rat die Lehre des göttlichen Worts in der Lauterkeit des apostolischen und des Reformationszeitalters gegeben wurde. Die Pastoren, die durch den „Lutheraner“ sich kennen lernten als solche, die bei dem Bekenntnis der Ungeänderten Augsburgischen Konfession zu bleiben entschlossen waren, traten zunächst in brieflichen Verkehr; fühlten aber bald das Bedürfnis, mit einander persönlich bekannt zu werden und, wo möglich, mit einander zu einem besonderen kirchlichen Körper zusammen zu treten. So machten sich denn im Frühjahr 1846 die Pastoren Sihler, Ernst und Lochner auf den Weg nach St. Louis, wohin, nach angenommener Verabredung, Walther auch die Pastoren Löber, Keyl und Gruber aus Perry County, Missouri, Fürbringer und Schieferdecker aus Illinois zu einer Konferenz eingeladen hatte. Auch in einer Gemeindeversammlung (am 11. Mai) legte Walther der Gemeinde das Vorhaben vor und zeigte, wie notwendig und heilsam es sei, wenn eine Synodalverbindung der rechtgläubigen Prediger und Gemeinden in den Vereinigten Staaten zustande käme, ohne Schmälerung der Gemeinderechte. Nachdem die Gemeinde die Gründe dafür angehört hatte, beschloss sie, in eine solche Synodalverbindung treten zu wollen, wenn die Konstitution [Verfassung, Anm. d. Hrsg.] derselben Gottes Wort nicht entgegen und den Gemeinderechten nicht nachteilig sei.

Dr. Sihler schreibt über die Konferenz in seiner Selbstbiographie: „Pastor Walther nahm uns in seinem Hause sehr liebreich auf und seine werte Eheliebste, eine geborne Bünger, ... bewirtete uns auf’s beste. Den bedeutendsten Eindruck auf uns machte unleugbar Pastor Walther, damals noch nicht fünfunddreißig Jahre alt, in seinen Gesichtszügen aber merkwürdig gealtert, wohl durch die vielen und schweren Kämpfe, die er durchzumachen hatte. Seine Gedanken und Worte aber waren voll Geist und Leben. Er war dann auch in unseren Konferenzen vornehmlich das belebende und gestaltende Prinzip in dem Entwurf der Grundzüge für einen rechtgläubigen, das ist, lutherischen Gemeindeverband oder Synode. Er offenbarte hierin zuerst sein bedeutendes organisatorisches Talent, davon ich blutwenig besaß, und vor allem wurde mir sehr eindrücklich, wie in diesem seinem Entwurfe jedem einzelnen Punkte die reine lutherische Schriftlehre vom Wesen der Kirche, des öffentlichen kirchlichen Lehramtes, des Kirchenregiments und kirchlicher Ordnungen zugrunde lag und daraus die klare Gestaltung aller einzelnen Glieder des Entwurfs erfolgte.“ (Lebenslauf II, S. 52 f.)

XI.

Entwurf der Synodalverfassung – der Gemeinde vorgelegt – Walthers Reise nach Fort Wayne – Zusammentreffen mit Crämer – Konferenz in Fort Wayne. – Herausgabe eines Gesangbuchs

Wir lassen uns nun von einem andern daran Beteiligten, Herrn Pastor Fr. Lochner, den Hergang erzählen. Er schreibt: „Wegen der Anknüpfung einer kirchlichen Verbindung mit den sächsischen Lutheranern machten wir drei: der selige Dr. Sihler, Pastor A. Ernst, damals Pastor in Neu-Dettelsau bei Marysville, Ohio, und ich, damals Pastor in Toledo, Ohio, Anfang Mai 1846 uns auf den Weg nach St. Louis. Sihler und Ernst waren bereits aus der Synode von Ohio ausgetreten; ich aber gehörte mit dem seligen Pastor Hattstädt, Pastor (später: Professor) Crämer und Pastor Trautmann der Michigan-Synode an, war aber mit jenen entschlossen, auszutreten, falls sie auf ihrer ersten Versammlung, die im Juni stattfinden sollte, ihren in praxi angenommenen unionistischen Standpunkt nicht aufgeben würde, wozu wenig Hoffnung war.

Unterwegs trafen wir am 12. Mai mit den Pastoren Löber, Keyl und Gruber zusammen, die bei Wittenberg Landing abends einstiegen, und tags darauf trafen wir mit denselben bei Walther ein. Welch eine ganz andere Persönlichkeit erschien uns da, da wir uns in ihm zwar einen geistvollen, aber doch mehr behäbig aussehenden Mann vorgestellt hatten! Und mit welcher Liebe, mit welcher Freude und Freundlichkeit empfing er uns Fremdlinge und wie rücksichtsvoll behandelte er uns in den nachfolgenden Tagen! Bald hatte er unser ganzes Vertrauen, unsere ganze Liebe gewonnen. Besonders atmeten wir beide, Ernst und ich, auf, denen es etwas eng um’s Herz geworden und der Mut etwas entfallen war, da uns auf der Fahrt der selige Keyl scharf examiniert hatte, ob wir auch recht nach Luther predigten, und wir nicht genügend Bescheid zu geben wussten!

Mit Pastor Fürbringer waren wir drei Walthers Gäste. Aber wie bescheiden, um nicht zu sagen ärmlich, waren damals unseres lieben Wirtes äußerliche Verhältnisse! Gegenüber der alten Dreieinigkeitskirche, wo jetzt die Sachsenmühle steht, befand sich ein zweistöckiges Blockhäuschen.17 Den oberen Teil nach vorn bewohnte Schuhmacher Neumüller, ein Schwager Walthers, den hintern Teil die selige Pastorin Bünger, Walthers und bald darauf auch meine Schwiegermutter, der das Häuschen gehörte. Walther wohnte in dem unteren Teil zur Miete. Dieser untere Teil bestand aus einem Wohnzimmer, das zugleich Schlafzimmer für ihn, Frau und zwei Kinder war, einer daran stoßenden kleinen Sommerküche und seinem Studierzimmer. Letzteres musste aber zugleich als Fremdenzimmer dienen. War es Zeit zum Schlafengehen, so wurde die Lounge umgeklappt, um als Doppelbett für Dr. Sihler und Pastor Fürbringer zu dienen, und unter derselben ein niedriges Gestell hervorgezogen, das als Lagerstätte für Pastor Ernst und mich diente. Während des Frühstücks am Morgen ging dann jedesmal die Verwandlung des improvisierten Schlafzimmers ins Studierzimmer vor sich.

Nachdem erst unsere von Pastor Löhe empfangene Instruktion durchgenommen worden war und nachdem wir über einige Punkte derselben eine befriedigende Antwort gegeben hatten, so ging es an die Arbeit – an den gemeinsamen Entwurf einer Synodalverfassung. Die Ausarbeitung dieser Vorlage nahm so ziemlich eine Woche in Anspruch. Was waren das für herrliche, und namentlich für uns drei so lehrreiche, so gesegnete Tage! Wie ging uns da schon namentlich durch Walther so manches Licht über Kirche und Amt auf! Aber auch wie fühlten wir gegenüber Walther und seinen Amtsbrüdern unsern damals noch so großen Mangel in jeder Beziehung!

Als wir mit dieser Vorlage zustande gekommen waren, beschlossen wir sofort Abschriften dieser Vorlage anzufertigen, dieselben an Gleichgesinnte zu schicken und diese zu einer Konferenz nach Fort Wayne für Juli einzuladen.

Gleichzeitig wohnten wir auf Einladung Walthers einer Extragemeindeversammlung bei, in welcher er der Gemeinde die Vorlage zur Besprechung unterbreitete. Aber, aber, auf welche Opposition stieß dieselbe, welche Bedenken wurden gegen dieselbe laut, wie sah man überhaupt in einer Synodalverbindung, trotzdem dieselbe nur eine beratende Gewalt haben sollte, immer wieder und immer wieder den Popanz eines deutschen Konsistoriums! Und Walther? Während mir damals noch blutjungem Neuling ob einem solchen Opponieren seitens einer Gemeinde, ja, einer solchen erkenntnisreichen Gemeinde, oft der Verstand stillstehen wollte, da ich gemeint hatte, die Gemeinde würde einem Walther gegenüber und bei dessen Darlegungen sofort Ja und Amen sagen, und bei dem neben mir sitzenden Dr. Sihler Mienen und Gebärden gar manchmal anzeigten, dass auch er hätte aus der Haut fahren mögen, war Walther nicht aus der Ruhe zu bringen. Mit einer bewunderungswürdigen Geduld ging er auf jeden Einwand ein, suchte jedes Bedenken zu heben. Und ob er auch mitunter dem einen odern andern etwas ernst erwidern musste, so geschah dies doch mit Vermeidung alles fleischlichen Eifers, geschah alles so maß- und würdevoll. In allen seinen Reden aber war er bemüht, der Gemeinde zu zeigen, dass eine Synodalverfassung dieser Art, weit entfernt, der Gemeinde ihre Rechte zu schmälern, dieselben vielmehr zu wahren suche. Wenn auch nicht bei allen, so war doch am Schluss dieser spät in die Nacht dauernden Versammlung bei den meisten jegliches Bedenken gefallen. Wir Gäste aber hatten für die Leitung einer Gemeindeversammlung damals viel gelernt.“

In acht weiteren Gemeindeversammlungen wurde der Entwurf der Synodalverfassung besprochen und in der letzten – am 18. Juni – beschlossen, dass Pastor Walther die Konferenz in Fort Wayne besuche, auf der der Entwurf nochmals durchgenommen werden sollte und zu der Dr. Sihler auch noch andere Gleichgesinnte einladen wollte, die nicht im Stande gewesen waren, nach St. Louis zu kommen. Sechszehn Pastoren fanden sich in Fort Wayne ein. Sechs Pastoren, die nicht gegenwärtig sein konnten, hatten der Konferenz ihre herzliche Zustimmung zu dem Vorhaben versichern lassen. Der Entwurf wurde mit wenigen Änderungen angenommen und der Beschluss gefasst, aufgrund desselben im April 1847 in Chicago zu einer Synode zusammen zu treten.

Herr Prof. Crämer schildert sein erstes Zusammentreffen mit Walther wie folgt: „ ... Mir lag sehr viel daran, den Mann persönlich näher kennen zu lernen, den ich schon aus seinem „Lutheraner“ als eine Säule echt biblisch-lutherischer Wahrheit erkannt hatte. Walther dagegen wollte auch wissen, was das für ein Mann sei, den Löhe herüber gesandt hatte, das Kolonisations- und Missionswesen anzurichten und ein Leiter seiner Zöglinge zu sein. Bald waren wir daher in ein ernstes Gespräch über die Lehre in allen Punkten vertieft, welches die ganze lange Fahrt hindurch währte Natürlich kam da auch die Lehre von der Gnadenwahl zur Sprache, und ich danke Gott, hier eine Gelegenheit zu haben, bezeugen zu können, dass der teure Gottesmann schon damals die biblisch-lutherische Lehre von der Gnadenwahl, wie er sie in dem neuerlich ausgebrochenen Streit über dieselbe so siegreich verfocht, entschieden als seines Glaubens Überzeugung aussprach.“

Über die Konferenz selbst schreibt Dr. Sihler: „Der Hauptzweck dieser Zusammenkunft war, in Gegenwart und mit Zuziehung der östlichen Brüder die Grundsätze jenes von Pastor Walther in St. Louis verfassten Entwurfs einer rechtgläubigen lutherischen Synodalverfassung von Neuem durchzugehen und zum Abschluss zu bringen, was denn auch nach Ablauf von ungefähr einer Woche zu allgemeiner Befriedigung geschah. Natürlich mussten auch hier, wie in St. Louis, die sächsischen Brüder, resp. Walther, das Kraut fett machen; denn wir Östliche waren so ziemlich Neulinge für diese heikle und schwierige Arbeit. Doch hatten wir alle frischen Mut und gute Zuversicht, und beschlossen am Ende, im Frühjahr 1847 zur Bildung eines rechtgläubigen Synödleins mit Deputierten der Gemeinden in Chicago zusammen zu kommen.“ (Lebenslauf II, S. 72)

In der Gemeindeversammlung am 1. Februar legte Pastor Walther der Gemeinde folgende Fragen vor: 1. ob jemand in der Gemeinde sei, der zwar gegen eine Synode nichts einzuwenden habe, aber vielleicht mit der vorliegenden Verfassung nicht übereinstimmen könne; 2. ob jemand in der Gemeinde sei, der da glaube, eine Synode sei nicht notwendig oder nicht heilsam. In der Versammlung am 22. Februar erklärte die Gemeinde, dass die Synode notwendig und heilsam sei, und beschloss, sich derselben anzuschließen, wenn der Verfassung ein Paragraph beigefügt werde, in dem ausgesprochen wird, dass die Synode nur einberatender Körper sei und dass daher kein Beschluss derselben für eine Gemeinde bindende Kraft habe, wenn derselbe der Gemeinde etwas auferlege.18

Bis zum Sommer 1847 waren in der Gemeinde alte Gesangbücher aus dem vorigen [18.] Jahrhundert, das Dresdner, Chemnitzer, Zwickauer u.a., gebraucht worden; da aber der Gebrauch verschiedener Gesangbücher unbequem war und die vorhandene Zahl nicht mehr reichen wollte, war Walther auf die Herausgabe eines neuen lutherischen Gesangbuches bedacht. Schon in einer Gemeindeversammlung am 10. November 1845 hatte er die Herausgabe eines solchen zur Sprache gebracht. Da die Gemeinde beschloss, den Verlag zu übernehmen, ging Walther mit einigen Amtsbrüdern in Missouri daran, die Lieder zu sammeln. Von welchen Grundsätzen er und seine Mitarbeiter dabei sich leiten ließen, gibt er selbst so an: „Was die aufgenommenen Lieder betrifft, so ist bei Auswahl derselben hauptsächlich darauf Rücksicht genommen worden, dass sie rein seien in der Lehre, dass sie in der rechtgläubigen deutsch-lutherischen Kirche schon eine möglichst allgemeine Aufnahme gefunden und somit von derselben ein möglichst einstimmiges Zeugnis, das sie auf dem rechten Geist geflossen sind, erhalten haben. ...“19

XII.

Erste Synodalversammlung – Walther zum Präses gewählt – großes Feuer in St. Louis – Brandpredigt – Reise zur dritten Synodalversammlung – Cholera in St. Louis – Walther zum Professor gewählt – College nach St. Louis verlegt – Grundsteinlegung

Als am 26. April 1847 die deutsche ev.-luth. Synode von Missouri, Ohio u.a.St. [und anderen Staaten, Anm. d. Hrsg.] sich organisierte, war es ganz natürlich, dass der Mann, welcher so viel zur Gründung derselben beigetragen hatte, Pastor Walther, zum Präses gewählt wurde. Als es sich bei dieser ersten Versammlung auch um ein herauszugebendes Synodalorgan handelte, bot Walther seinen „Lutheraner“ der Synode an. Die Synode nahm das Anerbieten mit Dank an und beschloss, dass der bisherige Herausgeber fernerhin Redakteur dieses Blattes bleibe, dass das völlige Eigentumsrecht desselbem mit Beginn des vierten Jahrgangs an die Synode übergehe und dass auf dem Titel der Zusatz gemacht werde: „Herausgegeben von der deutschen ev.-luth. Synode von Missouri, Ohio u.a.St., redigiert von C.F.W. Walther.“

„In Betreff der Errichtung, Erhaltung und Beaufsichtigung von Anstalten zur Heranbildung künftiger Prediger und Schullehrer zum Dienst der Kirche ... erachtete die Synode es als sehr wünschenswert, dass die bis jetzt nur durch einige ihrer Mitglieder mit ihr in Verbindung stehenden derartigen Privatanstalten unter die unmittelbare Aufsicht der Synode gestellt werden möchten.“ Die Gemeinde in St. Louis, sowie die in Altenburg, Perry County, Missouri, unter deren Pflege vornehmlich die Anstalt in Altenburg gestanden hatte, erklärten sich bereit, dieselbe der Synode zu überlassen. Aber während die in Altenburg wünschte, dass die Anstalt in ihrer Mitte bleibe, wünschte die in St. Louis, sie möchte hierher verlegt werden. Auf der nächsten Synodalversammlung 1848 in St. Louis wurde nach Erwägung der Gründe beider Gemeinden St. Louis als der geeignete Platz erklärt. In einer während der Sitzungszeit der Synode gehaltenen Gemeindeversammlung versprach die Gemeinde, den Überschuss aus der Gottesacker- und Gesangbuchkasse in die Collegekasse fließen lassen zu wollen. Auf der dritten Synodalversammlung in Fort Wayne 1849 wurde beschlossen, die Verlegung der Anstalt nach St. Louis baldmöglichst vorzunehmen und an die Stelle Pastor Löbers, der, die Abnahme der Leibeskräfte spürend, der schweren Arbeit an der Anstalt enthoben zu sein wünschte, einen anderen Professor der Theologie zu wählen.

Mit schwerem Herzen hatte Pastor Walther diesmal die Reise zur Synode angetreten. Die Cholera nahte heran und am Himmelfahrtsabend hatte ein großes Feuer in wenig Stunden 640 Häuser und 27 Dampfschiffe in Asche gelegt. Auch Gemeindeglieder wurden bei dem Unglück betroffen. In der am Sonntag Exaudi gehaltenen Brandpredigt sagte Walther in der Einleitung: Empörung ganzer Völker wider ihre Regierungen, blutige, ganze Erdteile verwüstende Kriege zu Lande und zu Wasser und eine den ganzen Erdkreis durchschreitende pestartige Seuche, das sind die schrecklichen Prediger, welchen Gott jetzt den Befehl gegeben hat: Gehet hin in alle Welt und prediget Buße allen Kreaturen! Auch in unserer Stadt ist die Stimme dieser drei von Gott gesandten Prediger schon seit Jahr und Tag erschollen. Aber was ist geschehen? Hat Saint Louis, wie einst Ninive, auf Gottes furchtbare Bußpredigt Buße getan? – Wohl haben sich noch einige Seelen gefunden in dieser Stadt, welche, wie Hesekiel schreibt im 9. Kapitel, ‚seufzen und jammern über alle Gräuel, so darinnen geschehen’. Aber die große Mehrzahl der hiesigen Einwohner hat nur ihr Gespött mit Gottes Strafen und Gerichten getrieben, und in beispielloser Verruchtheit haben gerade diejenigen, welche die Führer des Volks sein wollen, die Schreiber unserer Tagesblätter, zum Ärgernis von Jung und Alt, ungestraft es verhöhnt, dass es noch Menschen in unserer Stadt gibt, die an einen Gott glauben und sich daher unter seine gewaltige Hand demütigen und gemeinschaftlich und bußfertig sein Erbarmen anflehen wollten. Aber siehe! Nun ist auch in Erfüllung gegangen, was Gottes Wort uns zuruft: ‚Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten!’

Ein großes furchtbares Unglück hat grade an dem Tage, wo man Gottes Wort öffentlich verhöhnt hatte, unsere Stadt betroffen. Kaum waren am letzten Himmelfahrtstage die Kirchenglocken und Christengebete um Erbarmung verklungen, da ertönte der Schall der Feuerglocken alsbald durch alle Straßen und Gassen unserer Stadt. Die Nacht wurde plötzlich zum Tage. Es war das Werk weniger Stunden, so hatten wütende Flammen den größten Teil der Schiffe unseres Hafens und mehrere der belebtesten und reichsten Straßen unserer Stadt in Asche gelegt. Tausende sind dadurch nicht nur in wenigen Stunden ihres Obdachs und aller ihrer irdischen Habe beraubt worden, sondern auch viele Menschen dabei teils in den Fluten, teils in den Flammen umgekommen, teils von den einstürzenden Wohnungen jämmerlich zerschmettert und getötet worden. Die Macht des verheerenden Elements spottete aller menschlichen Macht, die es dämpfen zu wollen unternahm, und jeder menschlichen Vorkehrung, die man traf, dem Umsichgreifen der den Himmel rötenden Feuerglut ein Ziel zu setzen. Als die Schreckensnacht vorüber war und die Sonne des neuen Tages unsere unglückliche Stadt wieder beleuchtete, da waren Güter, Millionen am Werte, eine Speise der gefräßigen Flamme geworden; und wer mag die Tränen und Seufzer zählen, die dieses Unglück ausgepresst hat und auspressen wird! – Ach, auch mehrere teure Glieder unserer Gemeinde gehören zu den hart Geschlagenen, die mit Tränen auf die Schutthaufen blicken, darein ihre Wohnungen und alle ihre Habe verwandelt ist.“20

Über die Reise zur Synode berichtet Pastor Fr. Lochner: „Im Sommer 1849 reiste ich mit Pastor Walther, Pastor Fick und Kassierer Barthel zur Synode nach Fort Wayne. Die Abreise geschah nicht ohne Sorge, denn soeben hatten sich die ersten Fälle von Cholera in St. Louis gezeigt und die Hin- und Herreise nahm damals zwei Wochen in Anspruch und ebenso viel Zeit auch der Aufenthalt in Fort Wayne. Wie manchmal sang da Walther mit uns, wenn wir abends bei einander auf dem Verdeck während der Mississippi- und Ohio-Fahrt saßen, Luthers gewaltiges Lied: ‚Mitten wir im Leben sind’ usw.

Auf dieser Reise las Walther mit uns den Grabauischen Hirtenbrief und die sich an denselben knüpfende Korrespondenz der sächsischen Pastoren mit Grabau. Damals in der Lehre von Kirche und Amt doch noch nicht recht klar und durch Löhes Aphorismen etwas bedenklich gemacht, kam ich hier erst durch Walther zur Klarheit und Festigkeit. Wie gut war das, da ich im nächsten Jahr nach Milwaukee berufen wurde und nun als sogenannter ‚Rottenpriester’ in den damals recht entbrannten Kampf mit der Buffalo-Synode hinein musste! Wie oft habe ich nachher Walther in meinem Herzen gesegnet, dass er mich auf dieser Reise zur Klarheit und Gewissheit führte, wie oft überhaupt Gott für den auf dieser Reise empfangenen Segen gedankt!“

Als das Wahlkollegium seine Bekanntmachung, über die Wahl eines theologischen Professors, im „Lutheraner“ veröffentlicht hatte, wurde dieselbe, da Pastor Walther darin als Kandidat, und zwar an erster Stelle, genannt war, in der Gemeindeversammlung am 6. August zur Sprache gebracht und in einer der nächsten, am 20. August, wurde durch Stimmenmehrheit beschlossen, dass man gegen die Aufstellung des Herrn Pastor Walther als Kandidat protestieren wolle. Pastor Bünger dagegen zeigte, wie wichtig es sei, dass die ausgezeichneten Gaben des Pastor Walther, welche ihm der Herr verliehen, am College benützt werden, und machte darauf aufmerksam, dass man ihn vielleicht als Pastor behalten könne, wenn ihm ein Vikar beigegeben würde. Ein anderer Vorschlag ging dahin, dass Herrn Pastor Walther nur das Direktorat an der Anstalt übertragen werde. In der Versammlung am folgenden Tage wurde eine Schrift vorgelegt, worin die Gründe angegeben wurden, weshalb die Gemeinde gegen die Wahl des Herrn Pastor Walther protestieren müsse, und worin ausgeführt wurde, dass ihm nur das Direktorat übertragen werden sollte. In einer bald darauf, am 23. August, gehaltenen Versammlung wurde beschlossen, dass, wenn Herr Pastor Walther zum Professor gewählt würde, man ihn nur dann in Frieden ziehen lassen könne, wenn er noch Pastor bleiben könne.

Walther wurde zum theologischen Professor gewählt. Am 8. Oktober meldete er dies der Gemeinde und am 10. Oktober erklärte er, dass er den Beruf als einen göttlichen erkenne und nun zu wissen wünsche, welche Funktionen er als Pastor noch zu übernehmen habe. Man kam überein, dass er als Pfarrer dreizehn Mal im Jahr predige, den Gemeinde- und Vorsteherversammlungen beiwohne und die Oberaufsicht über die Gemeinde führe.

Der Bau des Anstaltsgebäudes wurde noch im Herbst auf dem von der Gemeinde geschenkten, damals noch außerhalb der Stadtgrenzen gelegenen Grundstück (2 Acker vom Gottesackerland) in Angriff genommen. Als am 8. November der Grundstein gelegt wurde, hielt Pastor Walther die Rede und zeigte, wie die Kirche sich immer als eine treue, aufrichtige Freundin und Pflegerin der Kunst und Wissenschaft erwiesen habe und ihrer Natur und Bestimmung nach erweisen müsse.

XIII.

Walthers gesegnete Wirksamkeit – Beginn des Unterrichts an der Anstalt – Synodalrede 1850 – Kampf gegen romanisierende Lutheraner

Als Walther das Pastorat an der Gemeinde niederlegte und die theologische Professur an der Anstalt übernahm, zählte die Gemeinde 944 Seelen, 245 Stimmberechtigte, 424 Kinder in vier Schulen, hatte zwei Kirchen und einen Gottesacker. Sie war unter seiner Leitung auch äußerlich bedeutend gewachsen, aber vornehmlich innerlich, in Folge seiner gründlichen Predigten, und in Folge seiner gewissenhaften Seelsorge und seiner ausgezeichneten Leitung der Gemeindeversammlungen. Von den in den Gemeindeversammlungen vorgetragenen und besprochenen Lehrgegenständen nennen wir außer den schon erwähnten noch folgende: die Nottaufe durch Laien, Rechte der Gemeinde, Predigtamt, Verbindlichkeit der Kirchenordnungen, Katechismusexamina, die Lehre vom Sonntag, Predigerwahl, Notwendigkeit des Besuches der Gemeindeversammlungen, brüderliche Bestrafung, Krankenpflege, Besuch der Sonntagsschulen Falschgläubiger u.a.

Im Januar 1850 begann Professor Walther seinen Unterricht an der Anstalt,21, und zwar vorerst in seiner Wohnung an der Lombardstraße, zwischen 3. und 4. Straße, da das Anstaltsgebäude noch nicht vollendet war. Am 4. Juni zog er in dasselbe ein. Er musste sich mit wenig Räumlichkeiten begnügen; denn außer ihm und seiner Familie sollten in dem Gebäude (dem Südflügel, 42 Fuß lang und 36 Fuß breit, der außer dem Erdgeschoss damals nur zwei Stockwerke hatte) noch ein Lehrer, der Hausverwalter mit Familie, sechs Studenten und zehn Gymnasiasten untergebracht werden. Bei der Einweihung des „Concordia-Collegiums“ am 11. Juni hielt er eine lateinische Rede.

Da mit dem Präsidium damals das Visitatorenamt verbunden war, konnte er dasselbe als Professor nicht länger fortführen. An seiner Stelle wählte die Synode im Herbst (1850) Pastor Fr. Wyneken zum Präses. Die Synodalrede, die Walther auf dieser Synode als seitheriger Präses hielt, war überaus ernsten Inhalts. Er sagte: „Wir beginnen diesmal unsere Synodalverhandlungen, wie bisher noch nie. Die Geschichte unserer Synodalgemeinde ist offenbar gegenwärtig in ein neues Stadium getreten. Gott hatte uns bis zur Zeit unserer letztjährigen Versammlung nach seiner großen Barmherzigkeit mit schweren Heimsuchungen verschont und uns die Gnade verliehen, dass wir uns ungestört bauen konnten ... Unsere gegenwärtigen Sitzungen beginnen wir nicht nur mit der Empfindung harter Schläge der göttlichen Hand, die wir seit unserm letzten Zusammensein haben erfahren müssen, sondern auch mit der Aussicht auf schwere Prüfungen und entscheidungsvolle Kämpfe, in die uns dieselbe Hand hineingeführt hat.“ Nachdem er hierauf des Todes ausgezeichnet Glieder der Synode: Löber, Wolter, Buttermann und Flessa gedacht und auf andere traurige Erscheinungen in Gemeinden hingewiesen, fuhr er fort: „So wichtig und empfindlich jedoch ... diese Erfahrungen uns gewesen sind und noch sind, so kann ich doch nicht umhin, vor Ihnen die Überzeugung auszusprechen, dass unsere Synode in einer ganz andern Beziehung einer noch ungleich wichtigeren und entscheidungsvolleren, der schwersten Prüfung entgegen geht, welche die Kirche je erfahren kann, einer Prüfung, gegen welche die durch blutige Verfolgungen nur gering anzuschlagen ist, kurz, es ist dies nämlich – die Versuchung zu falscher Lehre.“ Im Folgenden zeigte er, wie zwar die lutherische Kirche seit ungefähr drei Jahrzehnten wieder erwacht sei, wie aber viele mit der von Gott geschenkten Erkenntnis nicht treu umgegangen seien, sondern sich auf falsche Bahnen haben führen lassen. Zu diesen rechnete er dann auch die, welche wieder Dinge in die Kirche herein bringen, von denen Luther sie mit großer Mühe und hartem Kampf gereinigt hat, welche die Kirche Jesu Christi als eine sichtbare, wohl organisierte äußere Anstalt beschreiben, welche die Gewissen wieder zu manchen menschlichen Satzungen und kirchlichen Ordnungen verbinden, welche die Rechte des geistlichen Priestertums aller Christen als Chimären geistlich stolzer Schwärmer bekämpfen und den sogenannten Laien selbst das Recht der Wahl ihrer Prediger und das Stimmrecht auf den Synoden und in den Kirchengerichten absprechen, welche das Predigtamt aus der Kraft der Ordination durch Prediger, die sie für eine göttliche Ordnung erklären, herleiten, welche das Amt der Prediger zu einem vor dem Laienpriestertum bevorzugten besonderen Stande machen, welche den Predigern eine Gewalt und Herrschaft de iure divino (aus göttlichem Recht) zuschreiben auch in den Dingen, welche in Gottes Wort weder geboten noch verboten sind, und welche die Kraft des Worts und der Sakramente von dem Amt dessen abhängig machen, der diese Gnadenmittel handhabt. „Obgleich nun“, fährt dann Walther fort, „diese letztere Richtung sowohl in der lutherischen Kirche Deutschlands wie Amerikas schon längere Zeit deutlich hervor getreten ist, so ist doch dieselbe noch bis vor Kurzem ohne Einfluss auf unsere Synode geblieben. In neuester Zeit jedoch sind wir endlich, wie Sie wisssen, von zwei Seiten her mit derselben in einen ernsten Konflikt geraten. Die Zeit, wo die Glieder der Synode stille Zuschauer des Kampfes sein konnten, den diese Richtung hervorgerufen hat, ist daher vorüber. Der Ruf zum Kampf für oder wider ist auch an uns ergangen.“

Die romanisierenden Lutheraner Amerikas, auf welche Walther sich hier bezog, waren der schon erwähnte Pastor Grabau und Gleichgesinnte. Wir teilten oben mit, dass die sächsischen Pastoren in Missouri Grabau eine Beurteilung seines Hirtenbriefes hatten zugehen lassen. Dieser Kritik setzte Grabau eine Antikritik entgegen. Darauf ließen die sächsischen Pastoren Grabau wieder eine Erwiderung zukommen, auf welche dann die im Jahr 1846 von Grabau gebildete Synode (die „Buffalosynode“), die sich „die luthersiche Synode der aus Preußen ausgewanderten Kirche“ (!!) nannte, ein Antwortschreiben an die sächsischen Pastoren ergehen ließ. Diese blieben die Antwort nicht schuldig. Indes hatte die Grabau’sche Synode in ihrem ausgegebenen „Synodalbrief“ die sächsischen Pastoren öffentlich angegriffen. Nachdem weitere Versuche seitens der sächsischen Pastoren zu einer gegenseitigen Verständigung als vergeblich sich erwiesen, übergaben sie als eine Protestation gegen Geltendmachung hierarchischer Grundsätze innerhalb der lutherischen Kirche Grabaus Hirtenbrief nebst den zwischen ihnen und ihm gewechselten Schriften der Öffentlichkeit.

Auf der ersten Versammlung im Jahre 1847, zu welcher, wie zu der oben erwähnten Vorkonferenz in Fort Wayne (1846), Pastor Grabau – aber vergeblich – eingeladen worden war, wurde die Missourisynode veranlasst, die Gewissen einiger Glieder zweier zur Grabau’schen Synode gehörenden Gemeinden zu beraten, die wegen der in den Gemeinden geführten falschen Lehre usw. beunruhigt waren. Auf der dritten Synodalversammlung (1849) wurde über die Schrift „Der Hirtenbrief des Herrn Pastor Grabau“ usw. von einem Komitee Bericht erstattet. Der Kampf Grabaus richtete sich nun auch gegen die Synode, da sie sich solcher Leute angenommen hatte, welche gewissenshalber aus der Grabau’schen Verbindung austreten zu müssen glaubten oder unrechtmäßig gebannt waren. So zog denn die Synode auf ihrer vierten Versammlung (1850), so weit es die Zeit erlaubte, die Lehre vom Amt in Betracht und rechtfertigte ihr Verhalten gegen die aus der Grabau’schen Verbindung Ausgetretenen, und beschloss auch, eine Schrift herauszugeben, in welcher gegenüber einem zweiten Grabau’schen Synodalbrief das eingeschlagene Verfahren gerechtfertigt und die Grabau’schen falschen Lehren usw. widerlegt werden sollten. Beides geschah zunächst im „Lutheraner“, ersteres in einer Beilage („Beiwagen“)22, letzteres in der „Ausführlichen tabellarischen Übersicht einiger offenbarer Irrtümer Grabaus, mit den eigenen Worten desselben vorgelegt und mit der falschen römischen sowie mit der reinen lutherischen Lehre verglichen“;23 letzteres dann noch in einer besonderen Schrift Professor Walthers: „Die Stimme unserer Kirche in der Frage von Kirche und Amt. Eine Sammlung von Zeugnissen über diese Frage aus den Bekenntnisschriften der evang.-lutherischen Kirche und aus den Privatschriften rechtgläubiger Lehrer derselben. Von der deutschen evang.-lutherischen Synode von Missouri, Ohio u.a.St. als ein Zeugnis ihres Glaubens zur Abwehr der Angriffe des Herrn P. Grabau in Buffalo, New York, vorgelegt durch C.F.W. Walther“ usw. Diese Schrift konnte mit Recht als ein Zeugnis des Glaubens der Missourisynode bezeichnet werden, denn Walther hatte auf der Synodalversammlung im folgenden Jahre (1851) den Entwurf dieser Schrift der Synode zur Prüfung vorgelegt. „Die Vorlesung selbst“, heißt es in dem betreffenden Synodalbericht, „und die daran sich knüpfenden Diskussionen (Erörterungen) über kirchliche Lehre und Praxis nahmen mit wenigen Unterbrechungen acht Sitzungen in Anspruch. Es war dies unstreitig der Teil der Verhandlungen, der sich am fruchtbringendsten erwies, die Herzen aller mit großer Freudigkeit über die Schriftmäßigkeit, Klarheit und Lieblichkeit unserer Lehre erfüllte, und sie empfinden ließ, wie der Friede des Geistes Gottes die süße, wohlschmeckende Frucht rechter Einigkeit und Gewissheit des Glaubens sei.“ (S. 10 f.)

XIV.

Prof. Walther und P. Wyneken von der Synode als Delegaten nach Deutschland gewählt – Verhandlung mit Pfarrer Löhe

Von der Synodalversammlung 1850 war auch beschlossen worden, Herrn Pfarrer Wilhelm Löhe in Bayern zu ersuchen, der nächstjährigen Versammlung beizuwohnen. Denn Löhe und seine Freunde gehörten auch mit zu den Lutheranern, auf die Walther in der erwähnten ernsten Synodalrede sich bezogen, die eine falsche, romanisierende Richtung einschlugen. Löhe war bisher der Synode treuester Freund und Beförderer gewesen, ein großer Teil der Pastoren waren von Löhe ausgebildet und von ihm herüber gesandt worden, das von ihm gegründete praktische Predigerseminar hatte er der Missourisynode übergeben. Nun aber stellte sich je mehr und mehr heraus, dass zwischen Pastor Löhe und der Missourisynode eine Lehrdifferenz stattfinde, welche die bis dahin bestandene Einigkeit zu stören, ja endlich gänzlich aufzuheben drohte. Dies konnte der Synode nicht gleichgültig sein. Eine am 14. und 15. Mai gehaltene außerordentliche Konferenz des St. Louiser Bezirks machte daher den Vorschlag, zwei Brüder unseres Synodalverbandes nach Deutschland zu senden, um ein ersehntes Einverständnis mit den dortigen Lutheranern, mit denen wir bisher in genauerer Verbindung gestanden, wegen der schwebenden Lehrdifferenzen unter Gottes Segen herbeizuführen. In einer am 19. Mai gehaltenen Gemeindeversaymmlung teilte Prof. Walther diesen Plan der St. Louiser Gemeinde mit. Es sei, sagte er, schon viel mit Löhe schriftlich verhandelt, aber damit nichts augerichtet worden; es würde gewiss von glücklicherem Erfolg sein, wenn von der amerikanischen lutherischen Kirche einige Delegaten nach Deutschland gesandt würden; es sei die heilige Pflicht, alles abzuwenden, damit keine Trennung entstehe. Zugleich forderte er die Gemeindeglieder auf, sich auszusprechen, ob eine Delegation nötig sei und welche Personen die Gemeinde für passend halte. In der nächsten Gemeindeversammlung erklärte die Gemeinde, dass sie die Notwendigkeit einer Delegation erkenne. In der Versammlung am 29. Mai trat Prof. Biewend auf und zeigte, was für Gaben die Delegaten haben müssten und dass er diese Gaben ganz besonders in Walther und Wyneken fände, und legte deshalb der Gemeinde ans Herz, beide Herren, wenn auch mit großen Opfern, dazu herzugeben. In zwei folgenden Gemeindeversammlungen erklärte Prof. Walther, dass er keine Freudigkeit habe, als Delegat der Synode nach Deutschland zu reisen.

Als die Synode im Juni 1851 in Milwaukee zusammen trat, wurde die Delegation nach Deutschland zuerst als Gegenstand der Beratung aufgenommen. Präses Wyneken legte in einem besonderen Schreiben diese Angelegenheit der Synode dringend ans Herz, indem er darauf hinwies, dass uns vor allem dazu das Gebot verbinde: „Seid fleißig zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens.“

Gleichzeitig wurde ein Schreiben, von Dr. Sihler und andern Brüdern unterschrieben, vorgelegt, das denselben Gegenstand empfahl. In diesem Schreiben wurden Professor Walther und Pastor Wyneken als Delegaten vorgeschlagen. Die Notwendigkeit einer Delegation wurde von allen Synodalen anerkannt und Walther und Wyneken einstimmig als Delegaten erwählt. Die Gemeinde in St. Louis, die Pastor Wyneken bediente, gab ihre Einwilligung, ihren Pastor die Reise tun zu lassen, wenn Dr. Sihler, wie auf der Synode angedeutet worden war, die Bedienung der Gemeinde übernähme.

Die Abreise23 wurde durch eine mehrwöchige Krankheit Walthers verzögert. Am 15. August abends konnte er abreisen. Nach fünf Tagen kam er in New York an. Die Seereise war glücklich. In Deutschland angekommen, besuchten sie, Walther und Wyneken, dem Wunsch der Synode gemäß, auch andere Stimmführer der lutherischen Kirche und einige Konferenzen. Dr. Guericke in Halle besuchten sie zweimal. Dieser ermahnte sie treulich und herzlich, an der erkannten Wahrheit festzuhalten. In Leipzig traf Walther Dr. Marbach, der einst mit den Sachsen nach Missouri ausgewandert, aber, unzufrieden mit den damals sich hier entwickelnden Verhältnissen, wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Im Missionshause hatte Walther eine Unterredung mit Dr. Kahnis. In Waldenburg wurden von Pastor Pasig Vorkehrungen zur Abhaltung von Konferenzen an zwei Tagen getroffen. Dr. Harleß widmete ihnen während der Zeit ihres Aufenthalts in Dresden täglich so viel Stunden, dass sie demselben nicht nur ein lebendiges Bild der Zustände in den Vereinigten Staaten entwerfen, sondern mit demselben sich auch über das, was gerade zur Zeit die Missouri-Synode bewegte, ausführlicher aussprechen konnten. Mit dem größten Interesse vernahm er ihren Bericht, sprach die freudigsten Hoffnungen von der amerikanisch-lutherischen Kirche für die Kirche überhaupt aus, versicherte sie gerade in den jetzt in Frage gestellten und streitig gewordenen Punkten seiner Zustimmung in die von Missouri vertretene Lehre und drückte den Wunsch aus, dass von nun an ein lebendiger Verkehr zwischen der Kirche diesseits und jenseits des Ozeans hergestellt und unterhalten werden möchte.

Doch ihr eigentliches Reiseziel war Neuendettelsau. Sie wurden von Löhe herzlich empfangen. Es währte nicht lange, so befanden sie sich in einer ebenso lebendigen wie freundlichen Unterredung über die Lehrpunkte, über welche eine Differenz zu Tage getreten war. Es kam schon bei dieser ersten Unterredung, welche bis nachts am folgenden Tage sich fortsetzte, zu einer Verständigung. Löhe widmete eine ganze Nummer seines Blattes „Kirchliche Mitteilungen aus und über Nordamerika“ dem Andenken an den Besuch der missourischen Delegaten. Die schön ausgestattete Nummer trug den Titel: „Zum Gedächtnis der Anwesenheit der ehrwürdigen Brüder Walther und Wyneken in Deutschland“. Schön ist, was Löhe in dieser Nummer von der Veranstaltung der Delegation seitens der Missouri-Synode sagt.

In Erlangen traf Walther seinen Jugendfreund Dr. Delitzsch, und wurde durch diesen bei dessen Kollegen, den Professoren Hofmann, Thomasius, Höfling und Schmid eingeführt. Es vergingen wenige Tage, an denen Walther und Wyneken nicht bei dem einen oder dem andern der genannten Professoren, erhaltener Einladung zufolge, an deren Tische aßen und an den Konferenzen derselben Teil nahmen. Dass es da an Disputationen nicht gefehlt hat, lässt sich denken. Da Walther die Schrift: „Die Stimme unserer Kirche in der Frage von Kirche und Amt“ vor seiner Abreise wegen eingetretener Krankheit nicht hatte vollenden können, so benutzte er den Aufenthalt in Erlangen dazu.

Zweimal trafen die Delegaten Herrn Pfarrer Löhe in Nürnberg und noch zweimal besuchten sie ihn in Neuendettelsau. Nachdem sie noch einige Besuche in Norddeutschland gemacht hatten, schickten sie sich zur Rückreise. Am 2. Februar 1852 gelangten sie wieder glücklich in St. Louis an.

Die Delegation ist ohne Zweifel von großem Segen gewesen. Das wird der jüngste Tag klar machen. Viele Bedenken auf beiden Seiten fielen, man war einander näher gerückt, das freundliche Verhältnis wurde mit jeder Unterredung inniger; aber zu einer völligen Einigung in allen streitigen Punkten kam es nicht. Und leider war die Wiederherstellung eines freundlichen Verhältnisses nur eine vorübergehende. Wir glauben, dass Dr. Sihler recht hat, wenn er in seiner Selbstbiographie schreibt: „Den Hauptzweck ihrer Reise hatten sie leider nicht erreicht. Pfarrer Löhe konnte freilich den zwingenden Beweisgründen des Professor Walther nichts Triftiges entgegen setzen; doch blieb er bei seinen vagen Behauptungen stehen, dass die Bekenntnisschriften unserer Kirche keine so verbindende Kraft hätten, wie wir dafür hielten.“ (Lebenslauf II, S. 146)

XV.

Bibelgesellschaft – ein neues theologisches Monatsblatt „Lehre und Wehre“ – Kampf mit der Buffalosynode – Walther in P. Grabaus Kirche in Buffalo

In einer im April 1853 gehaltenen Gemeindeversammlung gab Prof. Walther der Gemeinde zu bedenken, doch dafür zu sorgen, dass man immer billige und gute Bibeln bekommen könne, die den rechten Luthertext enthielten, und regte den Gedanken an eine zu stiftende Bibelgesellschaft an. Die schon am 24. April gestiftete Bibelgesellschaft importierte zuerst gute Bibeln von Deutschland und ließ später selbst zwei Ausgaben herstellen, nachdem sie vorher das bekannte Altenburger Bibelwerk24 herausgegeben hatte. Walther, ihr Stifter, blieb ihr Präses bis an seinen Tod.25

Im Jahr 1853 beschloss die Synode, nebem dem „Lutheraner“, der nach wie vor alle vierzehn Tage erscheinen, dessen Schreibart aber fortan noch mehr, als es bisher geschehen, dem Fassungsvermögen des Volkes angepasst werden solle, noch ein Monatsblatt herauszugeben für Prediger und solche vom Volk, welche fähig sind, mehr wissenschaftlich geschriebene Abhandlungen zu verstehen. Der Beschluss kam jedoch nicht zur Ausführung. Prof. Walther brachte die Herausgabe eines solchen Monatsblattes auf der nächsten Synodalversammlung wieder zur Sprache und zeigte das dringende Bedürfnis derselben. Die Herausgabe wurde aufs Neue beschlossen und Prof. Walther mit der Redaktion betraut.

Über Aufgabe und Ziel des Blattes wurde u.a. gesagt: „Das Blatt soll nicht ein Kirchenfreund, sondern ein Kirchendiener sein, nicht über oder neben, sondern in und unter der Kirche stehen. Es wird sich nicht zu einem Tummelplatz für die diejenigen hergeben, welche darauf ausgehen, die Lehre der rechtgläubigen Kirche und ihre geheiligten Institutionen anzugreifen und, wenn auch nicht umzustoßen – denn das vermögen selbst der Höllen Pforten nicht, geschweige das Geschwätz weisheitskrämerischer Menschen – doch sich daran zu versuchen und zu rütteln“ usw.

Der Kampf mit der Buffalosynode dauerte bis zum Jahr 1857. In Synodalsitzungen und im „Lutheraner“ musste gegen deren romanisierende Grundsätze gezeugt werden. Der Kampf gegen die Missourisynode war seitens der Buffalosynode, resp. Pastor Grabaus, in der leidenschaftlichsten und gehässigsten Weise geführt worden. Diejenigen Pastoren, welche Gemeinden bedienten, in welchen sich Leute fanden, die gewissenshalber von der Grabau’schen Verbindung sich losgesagt hatten oder ungerecht in den Bann getan waren, hießen „Rottenprediger“, Walther und Löber u.a. hießen „Rottenbeschützer“, „Ketzer“, unsere Synode „Ahabssynode“, „Gräuelsynode“, „Babelstempel“. Alle Anträge der Missourisynode zu Zusammenkünften, um die Lehrunterschiede zu besprechen, wurden von der Buffalosynode ausgeschlagen. Um sich aber den Schein zu geben, als suche sie den Frieden, hatte sie den Vorschlag gemacht, ein allgemeines Schiedsgericht zu errichten, durch dessen Erkenntnis und Urteil der Streit beigelegt werden solle. So gab denn unsere Synode die Enderklärung ab, dass, „da unser Streit mit der Synode von Buffalo seinen Grund in nichts anderem als in der falsche Lehre derselben hat“, ... „wir bei dem von Anfang an und später wiederholt der Synode von Buffalo von uns gemachten Antrage unabänderlich verbleiben, dass zur Beilegung des zwischen uns und der genannten Synode obschwebenden Streites vorerst ein Kolloquium über die stattfindenden Lehrdifferenzen angestellt werde“, und dass wir „jeden fernern Friedensantrag von Seiten der Buffalosynode, welcher nicht einen Frieden auf Grund der Einigung in der Lehre bezweckt, als einen Antrag zu einem falschen, Gott missfälligen Frieden im Voraus und ein für allemal zurückweisen.“ Auch erklärte die Synode, dass „Herr Prof. Walther als Redakteur des ‚Lutheraner’ in dem Streit mit der Synode von Buffalo nicht Privatansichten vertreten, sondern durchaus in ihrem Sinne verfahren habe“. Walther berücksichtigte Grabau und Genossen von da an nur noch selten im „Lutheraner“.

Walther hatte einmal Gelegenheit, den Pastor Grabau predigen zu hören und sich von ihm absolvieren zu lassen. Er pflegte dies öfter zu erzählen. Herr Pastor Hochstetter schreibt: Er (Walther) erzählte mir bei der ersten Zusammenkunft im Herbst 1866 Folgendes: Als er, begleitet von Student Hugo Hanser, nach Rainham, Ontario, reiste, um den dortigen Pastor für eine Arbeit zu gewinnen (im Winter 1855 bis 1856), hielt er sich den Sonntag über in Buffalo auf und ließ sich von einem befreundeten Gemeindeglied, Peter Schulz, morgens in Pastor Grabaus Kirche führen. Kaum hatten die beiden auf der Empore Platz genommen, so sah man einen Grabau’schen Kirchenvorsteher zu Pastor Grabau in die Sakristei gehen; weshalb P. Schulz zu Prof. Walther sagte: ‚Sie sind schon bei Pastor Grabau gemeldet.’ Pastor Grabau predigte über Joh. 8,46-59. ‚Ich wunderte mich’, sagte Walther, ‚wie langsam und matt Pastor Grabau zu predigen anfing, als ob er zu schwach sei, die Predigt zu Ende zu bringen. Mit einem Male aber schrie er: Sind sie schon tot, die, welche Steine aufheben gegen die Buffalo-Synode? Sie sind nicht weit von hier, die Erzfeinde und Rottenbeschützer! – Nach dem Schluss dieser Predigt aber’, so erzählte Walther weiter, ‚folgte die öffentliche Beichte und Absolution. Da kniete ich mich auch mit den andern Zuhörern nieder und dachte, während Grabau die Absolution sprach: Nun sieh, mein alter Grabau, jetzt musst du mir doch die Absolution meiner Sünden sprechen, wenn du mich schon für einen Rottenbeschützer hältst!’“

XVI.

Kampf mit der Iowasynode – Walthers Aufforderung zu freien lutherischen Konferenzen – vier freie Konferenzen werden gehalten

Indes war ein neuer Kampf entbrannt, bei dem es sich ebenfalls um Bewahrung wichtiger, teurer Wahrheiten handelte und bei welchem Walther auch in vorderster Reihe kämpfte. Pfarrer Löhe, von dem wir oben berichtet haben, hatte im Grunde seine kirchenregimentlichen Ideen behalten. Miss-Stimmung erfüllte ihn, da er sah, dass er diese seine Lieblingsideen bei den Missouriern nicht verwirklichen konnte, dass sein Anerbieten, die missourischen, aus Franken eingewanderten Gemeinden in Michigan sollten mit ihm in „kirchenrechtliche“ Gemeinschaft treten, keinen Anklang fand. Er wurde deshalb unserer Synode wieder und immer mehr entfremdet. Das durch die Delegation wieder hergestellte freundschaftliche Verhältnis war von kurzer Dauer. Sein Misstrauen gegen Missouri ging auch auf die nun von ihm ausgesandten Männer über. Er hatte den Delegaten die Errichtung eines Schullehrerseminars versprochen, aber der dann dafür ausersehene Lehrer Großmann erhielt schon die Weisung, sich nur „möglichst innig“ der Synode von Missouri anzuschließen. Das Seminar wurde 1852 in Saginow City, Michigan, inmitten der dortigen zu unserer Synode gehörenden Gemeinde errichtet. Aber Großmann, der die Löheschen Ansichten festhielt, fühlte sich unter den Missouriern nicht wohl. Vergeblich versuchte er der Gemeidne, deren Glied er war, seine Löheschen Ansichten beizubringen. So zog er denn 1853 mit seinem Seminar nach Iowa, wohin schon vorher ein anderer Zögling Löhes, Pastor Deindörfer in Michigan, der aus unserer Synode ausgetreten war, sich gewendet hatte. So entstandt im Jahr 1854 – als Oppositionssynode – die Iowasynode, welcher Löhe hinfort seine Zöglinge zuweisen wollte und welche die Löheschen Grundsätze und Lieblingsideen hier in Amerika zu Geltung bringen sollte.

Die neue Synode stimmte also ganz mit Löhe, namentlich in seinen unlutherischen Lehren von Kirche und Amt, die mit denen der Buffalosynode verwandt waren; daher denn die Iowa- und die Buffalosynode einmal einander nahe standen. Da aber diese Ansichten der Iowasynode mit der Lehre unserer Bekenntnisse nicht stimmten, so nahm sie mit Löhe nicht nur in diesem Punkte, sondern überhaupt eine freiere Stellung zu den Bekenntnissen ein und wollte sich nicht von dem ganzen Lehrgehalt der Bekenntnisse gebunden achten, sondern nur das als gewissensbindend annehmen, was in denselben bekenntnismäßig gesagt sei. Sie wollte mit Löhe einer weiteren Fortbildung der Lehre entgegen streben und erklärte wichtige Lehren, z.B. die von Kirche und Amt, für „offene Fragen“, betreffs welcher verschiedene Meinungen geduldet werden könnten und sollten, bis die Kirche entschieden habe. Die Glieder der Synode huldigten teils dem Chiliasmus (dem Wahn von einem noch zuerwartenden tausendjährigen Reiche Christi vor dem jüngsten Tage), teils waren sie, wenn sie denselben für ihre Person nicht annahmen, gehalten, denselben zu dulden. In Folge dieser chiliastischen Anschauungen leugnete sie – wider die Bekenntnisschriften –, dass der Papst der Antichrist sei.

Unsere Synode musste gegen diese unlutherische Richtung Zeugnis ablegen, musste aber auch – und namentlich Walther – manche Schmähung über sich ergehen lassen.

Um was es sich in diesem Kampf gegen Löhe und seine Freunde handelte, zeigte, Walther in einer Anmerkung zu einem für den „Lutheraner“ eingesandten Artikel „über die Stellung der Iowasynode zu den symbolischen Büchern der ev.-luth. Kirche“. Er schreibt: „Es ist offenbar eine Zeit gekommen, in welcher im Innern unserer Kirche um so gefährlichere Gegner unserer kirchlichen Bekenntnisse aufgestanden sind, je größere Verdienste sich dieselben sonst um unsere Kirche erworben haben. Hier gilt es, von Menschen absehen und zu seinem Vater und zu seiner Mutter sprechen: Ich kenne ihn nicht; und zu seinem Sohne: Ich weiß nicht. 5. Mose 33,9. Wehe unserer Synode und allen ihren Gliedern, wenn sie jetzt nicht treu sind, da der Augapfel unserer Kirche laut und immer lauter von denen angegriffen wird, die viele von uns erst zu demselben hingeführt haben und die nun, durch ihre vormalige Treue zu Ansehen in der Kirche gekommen, dieses Ansehen dazu benutzen wollen, uns wieder allgemach davon abzuführen. Wir meinen hier Männer, wie einen Löhe. Hier nachgiebig sein ist eine gräulichere Sünde als die miserabelste Union. ... Lassen wir mitten in der lutherischen Kirche das Abgehen von irgendeinem Punkt des Bekenntnisses zu, so reißen wir die lutherische Kirche selbst nieder und erweisen uns als die Verräter, die innerhalb ihrer Mauern Platz genommen haben, um ihre Befestigungen unter dem Scheine der Ausbesserung zu schleifen und den Feinden den Eingang auf ihren Trümmern weit auf zu tun.“ („Lutheraner“, Jahrg. 11, S. 203)26

Dass es Walther nicht darum zu tun war, nur zu streiten, wie die Feinde immer behaupteten, dass er bei allem Eifer gegen die falsche Lehre und für die reine Lehre ein rechter Friedenstheolog war, dass ihm sehr daran lag, recht viele um das teure Bekenntnis unserer Kirche zu scharen, zeigt seine öffentliche Anfrage am Schluss des Vorworts zum zweiten Jahrgang von „Lehre und Wehre“ 1856. Er sagt daselbst: „So wagen wir denn hiermit die öffentliche Anfrage: Sollte nicht zur Erstrebung der endlichen Darstellung einer einigen evangelisch-lutherischen Kirche von Nord-Amerika die jeweilige Zusammenkunft von solchen Gliedern der verschiedenen lutherisch sich nennenden Synoden, welche die ungeänderte Augsburgische Konfession von 1530 für den reinen und treuen Ausdruck der Lehre der heiligen Schrift und ihres eigenen Glaubens ohne Vorbehalt erkennen und bekennen, ersprießlich und förderlich sein? Wir unsererseits wären von Herzen bereit, an einer solchen Konferenz rechtgläubiger Lutheraner, wenn und wo dieselbe auch nach dem Wunsch der Mehrzahl der Teilnehmer stattfinden sollte, teil zu nehmen, und wir können im Voraus die gleiche Willigkeit hierzu von mehreren hiesigen Theologen und Laien versichern, denen das Gedeihen unserer teuren evangelisch-lutherischen Kirche in dieser unserer neuen Heimat nicht weniger die tiefste Sehnsucht ihres Herzens ist und denen wir bereits den hiermit ausgesprochenen Gedanken mitgeteilt haben. Da es Tatsache ist, dass auch unter denjenigen hiesigen Lutheranern, welche von Herzen dem Grundbekenntnisse unserer Kirche anhangen, noch manche Verschiedenheit der Überzeugung vorhanden ist, deren Erörterung in unseren Zeitschriften leicht mehr dazu beitragen kann, die von allen ersehnte Einigung unserer Kirche aufzuhalten als zu fördern, so kann ein persönlicher mündlicher Verkehr und Austausch ohne Zweifel nicht anders als heilsam sein und würde derselbe gewiss vor allem den unvergleichlichen Segen bringen, dass der freilich noch fort und fort auch innerhalb unserer Kirche nötige Kampf das Gepräge eines gegenseitigen Wetteifers von Brüdern für die treue Bewahrung des köstlichen Kleinodes der Lehrreinheit und –einheit bekäme und behielte.“ (Lehre und Wehre II, S. 4 f.) Zum Schluss bemerkt er, „dass die Zusammenkünfte und Beratungen bei aller Öffentlichkeit natürlich nur privaten Charakters sein und alle Gegenwärtigen, ohne dabei eine Vertretung ihrer resp. Synoden zu beabsichtigen, nur für ihre Person teilnehmen sollten“.

Der Vorschlag fand Beifall. Bald konnten in „Lehre und Wehre“ und andern kirchlichen Blättern beistimmende Namen veröffentlicht werden, deren Mehrzahl sich für Columbus, Ohio, als den geeignetsten Ort der Zusammenkunft erklärten.

Noch in demselben Jahr fand die erste freie evangelisch-lutherische Konferenz zu Columbus statt vom 1. bis 7. Oktober 1856. Es nahmen daran teil 54 Prediger und 19 Laien, aus vier verschiedenen Synoden: der von Missouri, von New York, von Ohio und von Pennsylvanien. Von den wegen des Gegenstandes, der vorgenommen werden sollte, gemachten Vorschlägen ging der ohne Zweifel von Walther gemachte Vorschlag durch, das Augsburgische Bekenntnis Artikel für Artikel zu besprechen. Dafür wurde geltend gemacht, dass gerade der im Jahr vorher innerhalb der sogenannten lutherischen Generalsynode gemachte schändliche Angriff auf das Augsburgische Bekenntnis27 und der dadurch gebotene Kampf für dieses gute Bekenntnis diese Versammlung hervorgerufen habe. Auf dieser ersten Konferenz wurden die ersten sieben Artikel besprochen. Wir fügen hier gleich an, dass noch drei solcher freien Konferenzen in den folgenden Jahren gehalten wurden, nämlich in Pittsburg vom 29. Oktober bis 4. November 1857, in Cleveland vom 5. bis 11. August 1858 und in Fort Wayne vom 14. bis 20. Juli 1859,28 und dass auf denselben die Artikel 7 bis 14 und 28 des Augsburgischen Bekenntnisses besprochen wurden. Die ersten drei Konferenzen konnte Walther besuchen. Er hat an den Verhandlungen den lebhaftesten Anteil genommen. Bei der vierten konnte er wegen eines Halsleidens nicht gegenwärtig sein. Die Versammlung drückte ihre herzliche Betrübnis darüber aus, dass „Herr Prof. Walther, welcher die erste Anregung zu diesen freien Konferenzen gegeben und durch welchen Gott der Herr denselben so manchen Segen habe zufließen lassen, - verhindert worden sei, diesmal an den Verhandlungen teil zu nehmen; zugleich mit dem Wunsche, dass es Gott gefallen möge, dieses edle Werkzeug bald wieder herzustellen und seiner Kirche noch lange zu erhalten.“

XVII.

Walther krank – wird genötigt, eine Gesundheitsreise nach Deutschland zu machen – kehrt gestärkt und gekräftigt zurück

Walthers Halsleiden verschlimmerte sich, sein Gesundheitszustand erregte immer mehr Besorgnis. Da kam im Januar 1860 Präses Wyneken, der Ende 1858 seinen Wohnsitz in Fort Wayne aufgeschlagen hatte, mit Professor Crämer nach St. Louis, um ihn zu bestimmen, eine Reise nach Deutschland zur Wiedererlangung seiner Gesundheit zu machen. In der Gemeindeversammlung fand der Vorschlag lebhaften Beifall. Die Lehrer an der Anstalt wurden ersucht, mit dem Vorstand der Gemeinde Walther die Gesinnung der Gemeinde mitzuteilen und in ihn zu dringen, die Reise zu unternehmen. Die Gemeinde verpflichtete sich, alle Reisekosten zu beschaffen. Auch von anderer Seite kamen Zusagen von Beiträgen.

Walther ließ sich endlich bewegen. Am 6. Februar 1860 reiste er, in Begleitung seines Sohnes Constantin und seines Neffen, S. Keyl, ab. Auf dem Mississippidampfer schrieb er für den „Lutheraner“ eine Beurteilung und Empfehlung der Röbbelen’schen Schrift: „Das zwanzigste Kapitel der Offenbarung St. Johannis“, worin Luthers Auslegung: „Die tausend Jahre müssen anfangen, da dies Buch (die Offenbarung St. Johannis) ist gemacht“, begründet wird.

In New Orleans kam er am 12. Februar an und hielt sich hier bis zum 10. März auf. An diesem Tag fuhr er mit der „Oder“ ab nach Hamburg. Auf dem Meer dichtete er einige Lieder.

Wir fügen hier einige im Tagebuch verzeichnete Gedanken an, die zeigen, womit damals, wie sonst so oft, sein Geist sich beschäftigte:

„Eine Ermahnung an unsere Synode, die Einigkeit, in der sie steht, zu bewahren.

Sie ist etwas in unsern Tagen Beispielloses, ein Wunder Gottes.

Sie ist eine Wiederkehr der Tage unserer Väter und von Apg. 2.

Sie ist eine Gnadenheimsuchung und Gnadengeschenk Gottes.

Lasst uns ruhig zusehen, wie man überall fortschreiten und Neues erfinden will, die rechtgläubige Kirche zu korrigieren, die Väter zur Schule zu führen; mag sich die neue Weisheit noch so sehr spreizen, wie Spreu wird sie der Wind der Zeit verwehen und die alte Wahrheit gleich der alten Sonne fortleuchten.

Diese Einigkeit macht uns stark trotz unserer Schwachheit.

Lasst uns die Schmach mit Freuden tragen, dass wir die Theologie des 16ten Jahrhunderts repristinieren [nachsprechen, Anm. d. Hrsg.], nicht reproduzieren; lasst uns hinblicken auf die, welche den Ruhm suchen, die reine lutherische Lehre nicht als Schüler rezipiert, sondern selbständig reproduziert zu haben.

Nicht eine Einigkeit der Stagnation, sondern eine Einigkeit bei lebendiger Bewegung.

Einigkeit nicht nur unter uns selbst, sondern auch mit der rechtgläubigen Kirche aller Zeiten.“29

Am 4. Mai kam er glücklich in Hamburg an. In Leipzig, welches er mehrere Male besuchte, traf er, zum Teil wiederholt, mit Dr. Marbach, Graul und Hardeland, Pastor Ahlfeldt und den Leipziger Professoren und andern zusammen. In Leipzig konsultierte er zwei Ärzte, die ihm das Bad ab- und eine Schweizerreise anrieten. In Sachsen besuchte er seine Verwandten. In Halle wurde er von Dr. Guericke freundlich aufgenommen. In Zeiz besuchte er den durch seine Beiträge zu der Guericke’schen Zeitschrift bekannten Ströbel. Als er am 7. Juni wieder in Leipzig ankam, erfuhr er, dass Dr. Marbach (der mit den Sachsen ausgewandert, aber wieder zurückgekehrt war, „dessen Herz jedoch bei der Kirche in Amerika blieb und an dem unsere Synode, mit der er in Geist und Glauben völlig einig war, den innigsten Freund und Anwalt hatte“) am Tage vorher selig gestorben war. Am 9. wohnte er dem Begräbnis desselben bei. Die von Pastor Fr. Ahlfeld gehaltene Grabrede teilte er im „Lutheraner“30 mit.

Am 12. Juni trat er die Reise in die Schweiz an. Auf der Rückreise besuchte er Pastor Hornung in Straßburg, bei dem er Pastor Magnus traf, in Durlach Pastor Eichhorn, in Ispringen Pastor Max Frommel, in Steeden Pastor Brunn, in Hermannsburg Pastor Harms und aandere. Am 4. August trat er die Rückreise nach Amerika an. Am 20. August landete er in New York und kam am 28. August, wie der „Lutheraner“31 meldete, „nicht nur glücklich, sondern auch von seinem Körperleiden genesen“, in St. Louis an.

Auf der im Oktober zu St. Louis stattfindenden allgemeinen Synodalversammlung konnte Präses Wyneken in seinem Bericht mitteilen: „Unser lieber teurer Lehrer, Herr Professor Walther, steht, Gott sei gedankt, gestärkt und gekräftigt von seiner Reise nach Deutschland zurück gekehrt, wieder unter uns. Der Herr wolle ihn uns noch lange zum Segen erhalten.“

XVIII.

Das praktische Seminar in St. Louis – 25jähriges Amtsjubiläum – „Die rechte Gestalt einer vom Staat unabhängigen ev.-luth. Ortsgemeinde“ –Walther wieder Allgemeiner Präses – Kolloquium mit der Buffalo- und Iowasynode – „Die evangelisch-lutherische Kirche die wahre sichtbare Kirche Gottes auf Erden

In dieser Synodalversammlung (1860) wurde auch beschlossen, dass die beiden Seminare, das theoretische und das praktische (letzteres damals in Fort Wayne, Indiana), örtlich vereinigt werden, dass deshalb das praktische Seminar von Fort Wayne nach St. Louis, dagegen das mit dem hiesigen theoretischen Seminar verbundene Gymnasium von hier nach Fort Wayne verpflanzt werde. In Folge des ausgebrochenen Bürgerkrieges musste die hiesige Anstalt schon im Monat Mai 1861 geschlossen werden, und so kam der Beschluss der Synode schon am Anfang des neuen Schuljahres (im September) zur Ausführung. So hat denn nun Prof. Walther auch in den folgenden Jahren, bis zum Jahr 1875, in welchem die praktische Anstalt nach Springfield, Illinois, verlegt wurde, an dieser Anstalt Unterricht erteilt.

Als der Bürgerkrieg, der auch Prof. Walther manches Weh und Herzeleid brachte, ausgebrochen war, wurde in der Gemeindeversammlung am 4. Februar 1861 beschlossen, eine besondere Bitte, betreffend die allgemeine Not des Landes, in das Kirchengebet mit aufzunehmen und in den Passionswochengottesdiensten nach der Predigt die Not des Landes Gott knieend vorzutragen.

Am zweiten Sonntag nach Epiphanias 1862 konnte Prof. Walther sein 25jähriges Amtsjubiläum feiern.

Im Jahr 1863 veröffentliche Walther eine überaus wichtige Schrift: „Die rechte Gestalt einer vom Staate unabhängigen evang.-luth. Ortsgemeinde“. Diese Schrift ist ein Seitenstück zu der früher von ihm verfassten Schrift: „Die Stimme unserer Kirche in der Frage von Kirche und Amt“. Dieselbe war nämlich die praktische Ausführung der Lehre von Kirche und Amt und zeigte, dass die lutherische Lehre von Kirche und Amt „gerade die festeste Grundlage bilde, auf welcher sich eine Partikularkirche in rechter Gestalt erbaue“, und „dass unsere alten rechtgläubigen Lehrer, obwohl in einer Staatskirche unter konsistorialer Verfassung lebend, sich aufgrund ihrer Lehre von Kirche, Amt, Kirchenregiment usw. die Gestalt einer vom Staat unabhängigen Ortsgemeinde nicht anders gedacht haben, als wie sich dieselbe hier dargestellt findet“.

Auf der im Oktober 1864 in Fort Wayne gehaltenen Extraversammlung der Allgemeinen Synode wurde Prof. Walther wieder zum Allgemeinen Präses gewählt, nachdem die Synode die Befugnisse des Amtes des Allgemeinen Präsies modifiziert und die Bestimmung getroffen hatte, dass derselbe nicht mehr die Einzelgemeinden zu besuchen verpflichtet sein solle, sondern Inspektor über das Ganze der Synode, besonders über die Bezirkspräsides, sein solle.

Zu besonderer großer Freude gereichte Walther der Bau der neuen großen, schönen Dreieinigkeitskirche und die Liebe und Lust, mit welcher der Bezirk daran ging. Die Einweihung fand am 3. und 4. Dezember 1865 statt. Walther hielt die erste Festpredigt über Psalm 87. Das Thema lautete: „Der herrliche Wunderbau der Kirche Gottes auf Erden“; er zeigte: „1., dass sie so schwach scheint und doch so unerschütterlich fest steht, 2., dass sie so arm zu sein scheint und doch so unermessliche Schätze besitzt, 3., dass sie so klein zu sein scheint und doch eine so große unzählbare Schar umfasst“.

Im November 1866 fand das Kolloquium mit der Buffalosynode in Buffalo, New York, statt. Pastor Grabau nämlich, der die bis dahin angebotenen Religionsgespräche ausgeschlagen und zu vereiteln gewusst hatte, hatte sich von seiner Synode losgesagt, weil sie sich seine Willkürherrschaft nicht länger gefallen lassen wollte. Kaum hatte Grabau die Synode von Buffalo verlassen, so regte sich das von ihm bisher niedergehaltene Verlangen nach Frieden in den Gliedern derselben alsbald stärker als je. Die Willigkeit, mit Missouri ein Religionsgespräch über die Lehrunterschiede zu halten, zeigte der neue Senior Fr. G. Maschhop unter dem 31. August Prof. Walther als Allgemeinem Präses an. Auf Wunsch Walthers fand zuvor am 10., 11. und 12. Oktober ein vorbereitendes freundliches Privatgespräch in Fort Wayne statt zwischen Walther und Dr. Sihler einerseits und den Pastoren von Rohr und Hochstetter andererseits. Walther konnte der am 31. Oktober in St. Louis zusammentretenden Synode melden, „dass der Ausgang desselben von einem offiziellen öffentlichen Kolloquium, unter Gottes gnädigem Segen, den besten Erfolg zur Herstellung eines wahren Kirchenfriedens hoffen lässt“. (Synodalbericht XIII, 25) Mit Freuden vernahm die Synode diese Nachricht und traf die für das abzuhaltende Kolloquium nötigen Bestimmungen und wählte die Kolloquenten, darunter auch Prof. Walther. Das Kolloquium wurde vom 20. November bis 5. Dezember gehalten. Auf dem Kolloquium hielt einer der Buffaloer Kolloquenten bis zum Ende an gewissen Buffaloer Lehren fest. Die andern aber erklärten am Schluss: „In Anbetracht dessen, dass sie den zu Protokoll gegebenen Erklärungen der missourischen Kolloquenten beistimmen und dass diese ihrerseits mit den Erklärungen der Unterzeichneten“ (Buffaloer Kolloquenten) „sich einverstanden erklärt haben, - ist nunmehr die Lehreinigkeit zwischen der Missourisynode und uns völlig hergestellt.“ Die missourischen Kolloquenten gaben darauf Folgendes zu Protokoll: „Vorstehender Erklärung kommen die sämtlichen gegenwärtigen Vertreter der Missourisynode mit der Erklärung von ihrer Seite entgegen, dass auch sie mit Dank und Preis gegen den Herrn vollständige Lehreinigkeit mit den Vorgenannten für das Ergebnis dieses Kolloquiums erkennen, und reichen daher denselben im Angesicht der ganzen Kirche hierdurch die Bruderhand.“32

Als im folgenden Jahr der nördliche Bezirk der Missouri-Synode im Juni in Adrian versammelt war, reichte die zu gleicher Zeit in Toledo tagende Iowasynode durch eine aus den Herren Professor G. Fritschel und Professor Klindworth bestehende Deputation ein Schreiben ein, worin sie ein Kolloquium begehrte. Der Bezirk gab seine Zustimmung und ersuchte den gegenwärtigen Allgemeinen Präses, Prof. Walther, die Zustimmung der andern drei Bezirke einzuholen. Das Kolloquium wurde vom 13. bis 19. November (1867) zu Milwaukee, Wisconsin, abgehalten. Prof. Walther war einer der die Missouri-Synode vertretenden Kolloquenten. Die Hauptgegenstände, über die verhandelt wurde, waren: Die Stellung zu den kirchlichen Bekenntnisschriften, die sogenannten offenen Fragen, das tausendjährige Reich und die Lehre vom Antichrist. Aus Mangel an Zeit konnten zwei andere Differenzpunkte: die Lehren vom Amt der Schlüssel und von der Ordination, nicht besprochen werden. Das Kolloquium war zur Zeit resultatlos. Die letzte Erklärung der Kolloquenten der Iowasynode schloss mit dem Vorwurf, die Missourier begingen „eine schwere unverantwortliche Sünde von furchtbarer Tragweite“, wenn sie den Iowaern um einer Differenz willen in der Lehre vom Antichrist die kirchliche Gemeinschaft versagten. Auf diese Erklärung der Iowa’schen Kolloquenten erklärten die Kolloquenten von Missouri Folgendes: „So lange die Iowasynode nicht bestimmt und rund widerruft, was sie in ihrem Bericht von 1858 öffentlich und feierlich bekannt hat: ‚dass das Papsttum antichristisch ist oder dass man viele Päpste Antichristen nennen könne, in eben dem Sinne, in welchem 1. Joh. 2,18 von vielen Antichristen die Rede ist; aber der 2. Thess. 2 erwähnte Mensch der Sünde ist eine bestimmte menschliche Persönlichkeit, eben deshalb aber auch zukünftig ... Diesen Abfall im Antichristentum müssen auch wir noch zukünftig erwarten, weil wir unter dem Menschen der Sünde nicht ein Papsttum, sondern nur eine bestimmte individuelle menschliche Persönlichkeit verstehen’ – so lange können wir ihr nicht zugestehen, dass sie in diesem Punkte bekenntnistreu sei. Dies allein ist jedoch keineswegs, wie unsere Herren Opponenten nach ihrer Schlusserklärung angeben, der Grund, warum wir mit ihr nicht kirchlich zusammen stehen, bekennen, arbeiten und kämpfen können, sondern andere in unsern Vorlagen namhaft gemachte Differenzen, die teils weder durch einen runden Widerruf noch durch ein rundes Bekenntnis ausgeglichen worden sind, teils aus Mangel an Zeit noch nicht haben diskutiert werden können. Jedoch geben wir, nach der bereits geschehenen Annäherung, die Hoffnung einer künftigen, Gott gebe, baldigen kirchlichen Einigung hiermit keineswegs auf.“33

Eine Einigung in der vollen Wahrheit war also nicht erzielt worden. Und nur auf eine solche konnten unsere Kolloquenten eingehen. „Wir wollen völlige Einigkeit erzielen“, sagte Prof. Walther wiederholt, „wir möchten sie gewinnen! Welch ein Jubel wäre es, welch ein Segen für die Kirche, wenn wir einander die Hand reichen könnten und in völliger Glaubenseinigkeit fortan mit einander wirken!“34

In diesem Jahr (1867) veröffentliche Walther seine Schrift: „Die evangelisch-lutherische Kirche die wahre sichtbare Kirche Gottes auf Erden“, - welche den Lehrverhandlungen der Allgemeinen Synode im Jahr 1866 zu Grunde gelegt worden war und später auch bei Bezirksversammlungen zu Grunde gelegt wurde.

XIX.

Vereinbarung mit anderen Synoden – Krankheit – neue Wohnung – Synodalkonferenz – Jubelsynode – Englisch-lutherische Konferenz

In demselben Jahr, 1867 im November, erhielt Walther ein von dem Allgemeinen Präses der Ohiosynode, Prof. M. Loy, und den Bezirkspräsides derselben unterzeichnetes Schreiben, worin dieselben ihm mitteilen, dass die Ohiosynode ein Komitee ernannt habe, das mit der Synode von Missouri konferieren und die nötigen Schritte tun solle, ein freundschaftliches Verhältnis anzubahnen, und ihn ersuchen, diesen Wunsch der Synode von Missouri mitzuteilen. Nach Einholung der Zustimmung unserer Bezirkspräsides ist denn auch das begehrte Gespräch am 4. bis 6. März 1868 zu Columbus, Ohio, gehalten worden. Es war die Absicht der Konferierenden gewesen, die vereinbarten Punkte35 nicht eher zu veröffentlichten, als bis sie den beiden Synoden zur Verhandlung und Beschlussnahme vorgelegt wären. Aber Walther, der das Dokument dem an allen Erlebnissen der lutherischen Kirche in Amerika so innigen Anteil nehmenden Pastor Brunn in Deutschland privat mitgeteilt hatte, hatte übersehen, dies ausdrücklich zu bemerken. So fand dasselbe aus Brunns Monatsblatt den Weg in amerikanische Blätter, ehe es von der Synode besprochen wurde. Die schließliche Erklärung der Missourisynode, im Jahr 1869, war: „Die Synode von Missouri ist bereit, ihre Vereinbarung mit der Ehrw. Synode von Ohio u.a.St. in der Weise, wie es in den neun Punkten näher bestimmt ist, zu vollziehen, sobald dieselbe die Erklärung abzugeben bereit ist, dass sie auch in den Punkten, in welchen sie nach ihrer eigenen Erklärung noch nicht mit uns harmoniert, mit uns übereinstimme.“36

Im Juni 1869 wurde Walther von den Beamten der Illinoissynode ersucht, zu gegenseitiger Verständigung und Anerkennung Vertretern der Illinoissynode eine freundliche Besprechung mit Vertretern der Missourisynode zu gestatten. Das Gespräch fand am 4. und 5. August 1869 in St. Louis statt und die Missourisynode, der die vereinbarten Punkte vorgelegt wurden, erachtete die fernere Abhaltung sowohl freier wie offizieller Konferenzen durch Glieder beider Synoden, sowie gegenseitigen Besuch der Synodalversammlungen für den allein richtigen Weg zur Herstellung eines rechten Verhältnisses und vollen Zutrauens beider Synoden zu einander.

Am 21. und 22. Oktober 1868 fand zu Milwaukee, Wisconsin, eine Besprechung statt wegen einer Verständigung zwischen der Missourisynode und der von Wisconsin. Unter den Vertretern der Missourisynode war auch Prof. Walther. Die getroffene Vereinbarung mit der Wisconsinsynode wurde von der Missourisynode 1869 ratifiziert.

Im Jahr 1869 kehrte Walthers Halsleiden wieder. Bis zum Jahr 1870 bewohnte er Räumlichkeiten im alten Anstaltsgebäude, zuerst, wie wir gesehen haben, sehr bescheidene, da dasselbe anfangs nur aus dem südlichen Flügel bestand, später etwas mehr, als der nördliche Flügel (1851) und das Mittelgebäude (1857) errichtet wurden. In dem genannten Jahr (1870) konnte er in ein für ihn auf einem neben dem Collegeland gelegenen Bauplatz erbautes Haus einziehen. Freunde hatten dasselbe erbauen lassen und wollten es ihm zum Geschenk machen. Allein, er nahm das Geschenk nicht an. Im „Lutheraner“ gab er deshalb folgende Erklärung ab: „Eine Anzahl meiner persönlichen Freunde hat ohne mein Wissen zum Teil auf ein den Meinen gehöriges, an das Collegeland angrenzendes kleines Lot den Bau eines wertvollen Wohnhauses begonnen, in der freundlichen Absicht, mir damit ein Geschenk zu machen. Nach reiflicher Überlegung vor Gott sehe ich mich genötigt, indem ich hiermit den teuren Freunden für ihre unverdiente Güte meinen aufrichtigsten Dank sage, hierdurch zugleich öffentlich zu erklären, dass ich das große Geschenk unter keiner Bedingung annehmen kann, noch annehmen werde. Da mir diese Sache eine Sache des Gewissens ist, so bitte ich die freundlichen Geber, wenn sie mich ihrer Freundschaft nicht unwert achten, nicht weiter in mich zu dringen. Es würde nicht nur nichts meinen Entschluss ändern, sondern jede versuchte Nötigung mir um so tieferes Herzeleid bereiten. Zwar kommt es mir nicht zu, darüber Vorschläge zu machen, was mit dem seiner Vollendung entgegen gehenden Bau geschehen solle; jedoch glaube ich mir die Erinnerung erlauben zu dürfen, dass die Meinen herzlich bereit sind, das betreffende Lot abzutreten37, damit das darauf errichtete Haus verkauft und den milden Gebern das Gespendete wieder erstattet werden könne. C.F.W. Walther.“38

Im Oktober 1870 erhielt Walther ein Schreiben von einem Komitee der Ohiosynode, welches ihm meldete, dass es zu dem Zweck ernannt sei, mit ähnlichen Komitees anderer Synoden über die Tunlichkeit eines Zusammenwirkens zu konferieren, und bei ihm anfragte, ob die Missourisynode geneigt wäre, mit ihm und ähnlichen Komitees auf eine Besprechung einzugehen. Die Bezirkspräsides, denen er die Sache vorlegte, erklärtem sich mit den gemachten Vorschlägen einverstanden und so traf Walther Anordnung, dass neben den mit eingeladenen und erschienen Vertretern der norwegisch-lutherischen, sowie der Ohio- und Wisconsinsynode auch Vertreter der Missourisynode an einer zu dem angegeben Zweck am 11. bis 13. Januar 1871 in Chicago vorberatenden Sitzung teilnahmen. Das Ergebnis dieser Beratungen war die Bildung der „Evangelisch-lutherischen Synodalkonferenz“. Zugleich wurde beschlossen, im November noch einmal eine Versammlung abzuhalten und alles noch Nötige zum schließlichen Zusammentritt vorzubereiten. Diese Vorversammlung wurde in Fort Wayne unter dem Vorsitz Prof. Walthers abgehalten. Außer den genannten Synoden hatten sich auch Glieder der Synode von Illinois und der von Minnesota eingefunden, welche die Erklärung abgaben, dass ihre Synoden zu dem Plan der zu bildenden Synodalkonferenz ihre herzliche Zustimmung gegeben haben.

Die am 26. April 1872 zusammentretende Allgemeine Synode war eine Jubelsynode. In dem Eröffnungsgottesdienst, in welchem Prof. Walther die Eröffnungspredigt über Psalm 119,43 hielt, wurde das Jubiläum des 25jährigen Bestehens der Synode gefeiert. Auf Ersuchen Prof. Walthers, der befürchtete, die Eröffnungspredigt könnte ihn zu sehr erschöpfen, hielt Vizepräses Brohm die Synodalrede. Jedoch beteiligte sich Walther lebhaft an der Besprechung der von Pastor Brohm vorgelegten Thesen über die zeitgemäße Frage: „Welche Aufgaben haben wir zu lösen, damit der Segen, welchen Gott in den letzten 25 Jahren über uns ausgeschüttet hat, von uns nicht verschüttet, sondern auf unsere Nachkommen vererbt werde?“

Bei der ersten im Juli zu Milwaukee, Wisconsin, gehaltenen Versammlung der Synodalkonferenz hielt Walther die Eröffnungspredigt über 1. Tim. 4,16 und wurde zum Präses gewählt.

Im August 1872 nahm Walther an einer freien Konferenz englischsprachiger Lutheraner von Missouri teil, die in Gravelton, Missouri., gehalten wurde. Es wurden 16 von Walther vorgelegte Thesen39 über in Amerika streitige Punkte mit Belegstellen aus den lutherischen Bekenntnisschriften besprochen. Die Besprechung fand zu dem Zwecke statt, zunächst zu ermitteln, ob alle Glieder in Wahrheit im rechten Glauben einig und ob daher ein brüderliches und kirchliches Zusammenwirken möglich sei. Jeder der Anwesenden sprach seine Zustimmung aus zu jeder These und zu den geschehenen Aussprachen. So hat also Walther mit den Grund gelegt zu der sich dann bildenden „Englisch-lutherischen Konferenz von Missouri“, deren Wohl er sich bis an sein Ende angelegen sein ließ.

XX.

Krankheit – Walther soll Präses bleiben – Jubiläum des 25jährigen Bestehens der Anstalt in St. Louis – Walthers große Freude über Herrn P. Schieferdeckers Rückkehr in die Synode

Über eine Krankheit, die Walther Anfang 1873 befiel, schrieb er an seine Tochter M. am 19. März: „An mir hat Gott wieder Großes getan. Es sah gefährlich genug um mich aus. Ich war auf das Schlimmste gefasst. Aber Gott hat nur den Finger drohend gehoben und hat mich nach kaum drei Wochen wieder angelacht. Ich hatte Sorge, eine recht schmerzhafte und gefährliche Operation durchmachen zu müssen, aber selbst das hat der freundliche Gott mir erlassen. Ich armer Sünder komme mir nun vor wie ein schwaches Kind, mit welchem sein Vater zärtlicher umgeht wie mit starken. Ich weiß auch, dass für mich unwürdigen Menschen viele teure Seelen bei Gott eine Fürbitte eingelegt haben; da hat sich denn Gott erbitten lassen. Ich denke daher, wie es in jenem Morgenliede im Gebetsschatz: ‚Mein Gott, nun ist es wieder Morgen’, heißt: ‚Ach Gott, von dessen Brot ich zehr, wenn ich dir nur was nütze wär!’“

In Folge der Überanstrengung war Walther verhindert, der zweiten Versammlung der Synodalkonferenz im Juli 1873 beizuwohnen. Doch besuchte er noch als Allgemeiner Präses die Sitzungen des Mittleren Bezirks (13. bis 19. August), während welcher ihm öfter die Gedanken schwanden, und die des Östlichen Bezirks (27. August bis 2. September). Die Eröffungspredigten hatte er anderen übertragen.

Auf der im Jahr 1874 zu Fort Wayne gehaltenen Allgemeinen Synode (der ersten Delegatensynode) ersuchte Walther, da von Seiten mehrerer Synodalen verlautet hatte, man beabsichtige seine Wiederwahl zum Allgemeinen Präses, die Synode, sie wolle von ihm absehen; schon unter den jetzigen Verhältnissen leide das Seminar darunter, dass er der Synode im Präsidialamte zu dienen habe; in Zukunft aber würde der Nachteil für das Seminar noch größer werden, da anstatt der bisherigen vier nunmehr sechs Bezirke vom Allgemeinen Präses zu besuchen seien; demzufolge müssten zum großen Schaden des Seminars gerade die zwei letzten Monate des Schuljahres oftmals unterbrochen werden; man wolle doch dies berücksichtigten und ihn seinem Hauptamte nicht entziehen. Die Synode konnte sich jedoch nicht entschließen, ihn zu entlassen, und fasste darum folgende Beschlüsse: „1. Der Allgemeine Präses soll nicht gehalten sein, bei Eröffnung der Bezirkssynoden selbst zu predigen. 2. Er soll nicht veranlasst werden, den bei Bezirkssynoden abzuhaltenden Pastoralkonferenzen beizuwohnen. 3. Es ist der ernste Wille der Synode, dass Herr Prof. Walther nur vom 1. November bis Ende April eines jeden Jahres am Seminar zu St. Louis lehre, die übrige Zeit aber zum Besuch der Bezirkssynoden und zur Abhaltung des jährlichen Examens in St. Louis verwende.“ Walther wurde einstimmig zum Präses wiedergewählt. – Auf dieser Versammlung wurde auch beschlossen, das praktische Seminar vom theoretischen wieder zu trennen und nach Springfield zu verlegen.

Der 11. Juni des Jahres 1875 war für die Anstalt in St. Louis, und namentlich für Walther, ein großer Freudentag. Es wurde das Jubiläum des 25jährigen Bestehens des Concordia-Collegiums in St. Louis gefeiert.

Noch eine große Freude wurde ihm in diesem Jahr bereitet, indem sein alter Freund, Pastor Schieferdecker, in die Missouri-Synode zurückkehrte40. Wie groß seine Freude war, können wir aus einem Brief ersehen, den er am 24. Juni 1875 an Pastor Schieferdecker richtete. Derselbe lautet:

                    „Teurer alter Freund!

Wieder mir von Gott geschenkter lieber Bruder in dem Herrn Jesu!

Als ich heute von meiner Reise zur Synode in Saginow, Michigan, zurückkehrte, fand ich nebst vielen andern auch Deinen Brief vom 13. d.M. vor. Leider muss ich so schnell als möglich fast alle beantworten. Der Deinige soll aber einer der ersten sein unter diesen; aber, gedrängt von der mir so kurz zugemessenen Zeit, muss ich mich möglichst kurz fassen, wonach Du meine Liebe zu Dir und meine Teilnahme an Deinem Schicksal nicht bemessen mögest.

Erstlich versichere ich Dich der innigsten Freude und des aufrichtigsten Lobpreisens des gnadenreichen Gottes, dazu mich Deine beiden letzten Briefe bewegt haben. War mir’s doch, als müsste ich mit Simeon sagen: Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren! Die größte Wunde, welche unserer Synode je geschlagen worden ist, will sich nun wirklich schließen. Das ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder vor meinen Augen.“ - - (Hier folgt weiteres über eine Erklärung – Berufung in eine missourische Gemeinde usw.) – „Bitte, grüße die lieben Deinigen und sage denselben, wie sehr wir uns darauf freuen, sie mit Dir bald als die alten Genossen am Reich und an der Trübsal unter uns zu sehen. Gott ziehe Dich an mit Stärke und Kraft, erfülle Dich mit großer Freudigkeit und reichem Troste, und helfe Dir siegen über Bollwerke des Satans, die er Deiner Rückkehr in Deine alte geistliche Heimat entgegensetzen wird.

In Zeit und Ewigkeit in dem Herrn Jesu der Deinige

                                                                                                        C.F.W.W.“

Am 30. Juni schrieb er u.a.:

„... Du glaubst gar nicht, mit welch zitternder Freude man in unserer ganzen Synode einer Erklärung von Deiner Seite und mit derselben Deinem Wiedereinzug entgegen sieht. Alles frohlockt schon über den Gedanken, Dich bald wieder den Unsrigen nennen zu können.“ –

XXI.

Walther Doktor der Theologie

Seit 1878 trägt Prof. Walther den Titel eines Doktors der Theologie. Schon im Jahr 1855 wurde ihm der Doktortitel von der theologischen Fakultät der Göttinger Universität angetragen. Dr. J.G. Reiche, Konsistorialrat und Professor der Theologie zu Göttingen, zu der Zeit Dekan der theologischen Fakultät, richtete an ihn folgendes Schreiben, datiert Göttingen, den 5. Juni 1855: „... Ihre erfolgreichen Bestrebungen – haben auch bei uns, Ihren Göttinger Kollegen, lebhafte Teilnahme erweckt und auch in weiteren Kreisen eine verdiente Anteilnahme gefunden. Namentlich hat Ihre Schrift über Kirche und Amt durch die offene, klare, männliche Darstellung des Gegenstandes, welcher auch in der lutherischen Kirche Deutschlands eifrig verhandelt wird, großes Interesse erregt. Es würde mir und, wie ich versichern darf, meinen sämtlichen Herren Kollegen eine angenehme Befriedigung gewähren, Ew. Hochwürden bei der bevorstehenden 300jährigen Feier des Augsburgischen Religionsfriedens von Seiten unserer Göttinger theologischen Fakultät zum Doctor theologiae honoris causa zu ernennen. Jedoch wünschten wir zuvor von Ihnen selbst die Zusicherung zu erhalten, ob eine solche öffentliche Anerkennung von Seiten unserer Göttingen theologischen Fakultät Ihnen auch, bei Ihren dortigen, uns nicht völlig bekannten Verhältnissen, in jder Rücksicht erwünscht wäre, und ob Sie nicht vielleicht schon sich für die Annahme der Doktorwürde, welche eine andere Fakultät Ihnen zugedacht hat, entschieden haben. Ew. Hochwürden würden mich und meine Kollegen sehr verpflichten, wenn Sie mich darüber mit einer gefälligen Antwort baldmöglichst beehren wollten. Mit vollkommenster Hochachtung unterzeichne usw.“ Walther wandte sich an die Bezirkspräsides um Rat. Einem Schreiben an Pastor Schieferdecker, damals Präses des Westlichen Bezirks, vom 21. Juli entnehmen wir Folgendes: „Zwei Gründe sprechen in meiner Seele stark für eine Ablehnung. Erstlich, dass ich mir wie ein gekrönter Esel vorkommen würde, nähme ich die Würde an.“ Als zweiten Grund führt er die Lehrstellung der Göttinger Fakultät an. „Glaubet mir, wenn ihr mir von der Annahme abratet, dass ihr mir damit nur eine Last abnehmet. ... Gott leite Dich. Nimm die Sache, das bitte ich Dich herzlich, sogleich in ernstliche Erwägung vor Gott und schreibe mir sogleich. – Dein armseliger Walther.“ Walther schlug den Ehrentitel aus.

Als aber auf den Wunsch der ganzen Ohiosynde deren Fakultät in Columbus Walther das Doktordiplom sandte, glaubte er, nicht abschlagen zu sollen.

Als nämlich die Allgemeine Synode von Ohio im Jahr 1877 vom 23. bis 25. Oktober ihre Sitzungen in Columbus, Ohio, hielt, wurde folgendes Schreiben eingereicht und von der Synode einstimmig angenommen:

„Da Gott in seinem Worte uns lehrt, dass man die Ältesten, welche wohl vorstehen, zwiefacher Ehre wert halten solle, und ebenso das Exempel unserer Väter uns zeigt, wie sie solche Kirchendiener, welche durch Gelehrsamkeit, Treue und Fleiß im Werke des Herrn vor andern sich auszeichneten, dadurch ehrten, dass sie ihnen den Titel ‚Doctor Theologiae’ beilegten, so wird hiermit folgender Vorschlag diesem ehrwürdigen Körper zur Beschlussnahme vorgelegt:

Beschlossen: Trotzdem hier zu Land und sonst von vielen Fakultäten mit dem Titel ‚Doctor Theologiae’ ein frevles Spiel getrieben wird, indem derselbe solchen Personen verliehen wird, welche anstatt zur rechten Gottesgelehrsamkeit hin vielmehr von derselben ab und in gräuliche Irrtümer hinein führen, - der Missbrauch dieses Titels jedoch den rechten Gebrauch desselben nicht aufhebt, - wir als in Columbus, Ohio, versammelte Allgemeine Evang.-Luth. Synode von Ohio u.a.St. das Direktorium unserer Lehranstalten ersuchen, den Titel ‚Doctor Theologiae’ Herrn Professor C.F.W. Walther von St. Louis, Missouri, zu verleihen für seine vielen, der Kirche Gottes geleisteten ausgezeichneten Dienste, und dass wir gerade in diesem Jubeljahr unserer Konkordienformel mit diesem Titel den Betreffenden zu zieren umso passender halten, weil sonderlich er es mit war, der unter Gottes Gnade in diesem Lande die reine Lehre göttlichen Wortes, welche unsre werte Konkordienformel so köstlich vertritt, nicht nur zur rechten Geltung brachte, sondern auch wider alle Stürme und Verdrehungen so tapfer und überwältigend verteidigte. Möge Gott diesen treuen Zeugen noch lange seiner Kirche zum Segen erhalten!

Weiter beschlossen: Dass ein Komitee ernannt werde, um Herrn Prof. C.F.W. Walther diesen Titel in gebührender Weise zu überbringen.“

Die Synode beauftragte das Direktorium mit Ernennung des obigen Komitees und in einer bald nachher abgehaltenen Sitzung dieser Behörde wurden die Professoren Lehmann und Loy dazu ernannt41.

Es wurde daher von Walthers St. Louiser Freunden am 25. Januar 1878, abends 7 Uhr, in der Aula des Seminars eine Feierlichkeit veranstaltet. Zuerst wurde das Lied „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ usw. gesungen. Nach Überreichung des Diploms durch Herrn Pastor E.A. Brauer, dem dasselbe von Columbus zugesandt worden war, hielt Dr. Walther eine Rede.

XXII.

Die Synode nimmt Walther auf dringende Bitte das Präsidium ab – Jubelfeier 1880 – Gnadenwahlslehrstreit

Auf der im Mai 1878 gehaltenen Allgemeinen Synode (der zweiten Delegatensynode) erklärte Dr. Walther, dass er beide Synodalämter nicht mehr länger verwalten könne und eins ihm abgenommen werden müsse. Nach langer Diskussion wurde, „in Anbetracht dessen, dass Herr Prof. Dr. Walther selbst das dringende Begehren an die Synode gestellt hat, dass ihm eins seiner beiden schweren und verantwortungsvollen Ämter abgenommen werden möge, und in Anbetracht, dass das Amt eines Professors am theologischen Seminar das bei weitem wichtigere ist, beschlossen (wenn gleich mit schwerem Herzen), dass Herrn Prof. Dr. Walther das Allgemeine Präsidium, welches er seit vielen Jahren mit so großer Treue und in so reichem Segen unermüdlich verwaltet hat, gänzlich abgenommen werde, weil ihm nur auf diesem Wege eine Erleichterung seiner ihn fast erdrückenden Arbeitslast verschafft werden kann.“ Es wurde nun der Antrag gestellt, dass Dr. Walther verpflichtet werden solle, in dem Zeitraum von drei Jahren jeder Bezirkssynode wenigstens einmal beizuwohnen; man stand aber davon ab, als Walther entschieden ablehnte und seine Ablehnung begründet hatte; man konnte jedoch nicht unterlassen, wenigstens den Wunsch und die Hoffnung auszusprechen, den teuern Mann so oft wie möglich auf den Bezirksversammlungen sehen und seine Gaben genießen zu dürfen.

Das Jahr 1880 brachte ein doppeltes Jubelfest: das 300jährige Jubiläum unseres Konkordienbuches und das 350jährige Jubiläum des Augsburgischen Bekenntnisses, an deren Feier er lebhaften Anteil nahm. Hier tragen wir nun nach, dass es Walther vergönnt war, hier in Amerika außer den genannten noch fünf andere Säkularfeiern und Jubiläen zu feiern, nämlich im Jahr 1846 die 300jährige Säkularfeier des Todes Dr. Martin Luthers, 1855 das 300jährige Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens, 1867 das 350jährige Reformationsjubelfest und 1877 das 300jährige Jubiläum der Konkordienformel. An diesen Feiern nahm er nicht nur Anteil, sondern wusste auch andere zur Feier zu ermuntern, gab treffliche Anleitung, die Feiern anzustellen, und zeigte die hohe Bedeutung dieser Feste. Für das zuletzt genannte Jubiläum, das der Konkordienformel, veröffentlichte er den Text der Epitome [Kurze Darlegung der Lehre] derselben mit erläuternden Anmerkungen und einer wertvollen geschichtlichen Einleitung42.

Doch das Jubeljahr war kein Friedensjahr; in diesem Jahr brach nämlich in der Synodalkonferenz, wozu die Missourisynode gehört, ein sehr ernstlicher Streit aus, ein Streit über die Lehre von der Gnadenwahl und der Bekehrung. Auf der Jubelsynode der Missourisynode (1872) war (ohne Zweifel von Prof. Walther) ausgesprochen worden: „In der lutherischen Kirche selbst wird es noch einen schweren Kampf geben müssen, wenn die Wahrheit uns bleiben soll.“ – Ohne Zweifel stand Walther und andern vor Augen, dass noch ein Kampf bevorstehe zur Ausfegung alles und jeden Synergismus [Mitwirkung des Menschen bei der Bekehrung, Anm. d. Hrsg.]

Das Jahr 1880 brachte also den traurigen Lehrstreit über die Gnadenwahl. Traurig nennen wir denselben, weil dadurch so manche Trennung und Ärgernis durch die, welche den Streit herbeiführten, angerichtet wurde; heilsam können wir denselben aber auch nennen, weil im Verlauf desselben viele Seelen von der schändlichen Irrlehre des Synergismus (wonach der Mensch bei seiner Bekehrung etwas mitwirken könne) geheilt und dahin geführt wurden, Gott für das Werk ihrer Seligmachung alle Ehre zu geben. Wir können hier nicht den ganzen Verlauf des Streites schildern, in dem Dr. Walther an der Spitze derer stand, die für die Ehre der freien Gnade Gottes kämpften, und der in den Zeitschriften, in Traktaten, auf Synoden und Konferenzen die Wahrheit tapfer verteidigt hat. Außer seinen polemischen Aufsätzen und Schriften haben namentlich zwei volkstümliche Schriften viel zum Sieg der Wahrheit beigetragen, seine Schrift: „Der Gnadenwahlslehrstreit, das ist, einfacher, bewährter Rat für gottselige Christen, welche gern wissen möchten, wer in dem jetzigen Gnadenwahlslehrstreit lutherisch und wer unlutherisch lehre. 1881.“ – und: „Die Lehre von der Gnadenwahl in Frage und Antwort dargestellt aus dem elften Artikel der Konkordienformel der evangelisch-lutherischen Kirche. Mit einem Vor- und Nachwort versehen. 1881.“

In der erstgenannten Schrift gibt er gottseligen Christen den Rat, besonders an zwei Sätzen unserer Konkordienformel festzuhalten. Er schreibt: „Merke dir, geliebter Leser, zunächst nur zwei kurze Sätze, welche das teure Bekenntnis unserer Kirche der weitläufigen Auseinandersetzung der Lehre von der Gnadenwahl vorausgeschickt und womit es sonnenhell und klar angegeben hat, was ein Mensch vorerst und vor allem festhalten müsse und wovon er sich schlechterdings durch nichts abbringen lassen dürfe, wenn er in der Lehre von der Gnadenwahl nicht auf Irrtümer geraten, sondern auf der geraden Bahn der heiligen Schrift bleiben wolle. Der erste dieser Sätze ist folgender:

(I.) ‚Erstlich ist der Unterschied zwischen der ewigen Vorsehung Gottes und ewigen Wahl seiner Kinder zu der ewigen Seligkeit mit Fleiß zu merken. Denn praescientia vel praevisio, das ist, dass Gott alles vorher sieht und weiß, ehe es geschieht, welches man die Vorsehung Gottes nennt, geht über alle Kreaturen, gute und böse usw. Die ewige Wahl Gottes aber vel praedestinatio, das ist, Gottes Verordnung zur Seligkeit, geht nicht zumal über die Frommen und Bösen, sondern allein über die Kinder Gottes, die zum ewigen Leben erwählt und verordnet sind, ehe der Welt Grund gelegt ward; wie Paulus spricht Eph. 1,5: „Er hat uns erwählt in Christus Jesus und verordnet zur Kindschaft.“’ (S. Jubelausgabe des Konkordienbuches, S. 478)

Merke dir aber, lieber lutherischer Christ, auch den zweiten Hauptgrundsatz, welchen unser lutherisches Bekenntnis ebenfalls an die Spitze seiner Lehre von der Gnadenwahl stellt. Denn damit will unser Bekenntnis auch diesen zweiten Hauptgrundsatz für alle Lutheraner gleichsam zu einem Leitstern machen, der dieselben vor allen Irrtümern in Betreff dieser Lehre bewahren solle und könne, und den sie daher auch vorerst und vor allem festhjalten müssen. Dieser zweite Hauptgrundsatz in der Lehre von der Gnadenwahl ist aber folgender:

(II.) ‚Die Vorsehung Gottes (praescientia) sieht und weiß zuvor auch das Böse, aber nicht also, dass es Gottes gnädiger Wille wäre, dass es geschehen sollte usw. Der Anfang und Ursach des Bösen ist nicht Gottes Vorsehung (denn Gott schaffet und wirket das Böse nicht, hilft und befördert’s auch nicht) usw. Die ewige Wahl Gottes aber sieht und weiß nicht allein zuvor der Auserwählten Seligkeit, sondern ist auch aus gnädigem Willen und Wohlgefallen Gottes in Christus Jesus eine URSACHE, so da unsere Seligkeit und was zu derselben gehört, schafft, wirkt, hilft und befördert; darauf auch unsere Seligkeit also gegründet ist, dass die Pforten der Hölle nichts darwider vermögen sollen; wie geschrieben steht: „Meine Schafe wird mir niemand aus meiner Hand reißen“; und abermals: „Und es wurden gläubig, so viel ihrer zum ewigen Leben verordnet waren.“ (Matth. 16,18; Joh. 10,28; Apg. 13,48)’ (Siehe Jubelausgabe des Konkordienbuches, S. 478 f.)

Unsere beiden aus der Konkordienformel angeführten Hauptsätze stehen daher gleichsam wie zwei strenge Wächter vor dem Eingang der Lehre von der Gnadenwahl und lassen niemand ein, welcher diese Lehre umdeuten will. Will jemand behaupten, die Gnadenwahl, von welcher die Konkordienformel rede, sei eine Gnadenwahl im weiteren Sinne, so tritt ihm sogleich der erste Hauptsatz als der erste Wächter entgegen und spricht: Die Gnadenwahl geht nicht über alle Menschen, über Gute und Böse, sondern allein über Gottes auserwählte Kinder. Will ein anderer behaupten, die Gnadenwahl, von welcher die Konkordienformel rede, sei keine Ursache des Glaubens, so stellt sich ihm sogleich der zweite Hauptsatz, in welchem die Wahl die Ursache des Glaubens genannt wird, als der andere Wächter entgegen. Beide Wächter helfen auch einander gegenseitig. Sagt nämlich ein Gegner, der zweite Hauptsatz lehre freilich, dass die Gnadenwahl eine Ursache des Glaubens sei, aber es sei dies nur von einer Gnadenwahl im weiteren Sinne zu verstehen; da kommt der erste Hauptsatz, welcher eine Wahl allein der Kinder Gottes lehrt, als der erste Wächter dem zweiten zu Hilfe. Sagt aber ein Gegner, der erste Hauptsatz rede freilich nicht von einer Gnadenwahl im weiteren, sondern im engeren Sinne, aber er sage ja nichts davon, dass aus dieser Gnadenwahl auch der Glaube fließe; da kommt ihm eilends der zweite Hauptsatz zu Hilfe und bekennt dieses mit klaren Worten. Kurz, unsere Herren Gegner stehen zwischen den zwei Hauptsätzen der Konkordienformel wie zwischen zwei Feuern: Wollen sie dem ersten entrinnen, so verbrennen sie sich an dem zweiten, und wollen sie dem zweiten entrinnen, so verbrennen sie sich an dem ersten. Da ist kein Ausweg: Entweder müssen unsere Gegner unsere Lehre als die lutherische anerkennen, oder sie müssen die Konkordienformel als ein irriges, calvinisches Buch verwerfen.

Gott sei Lob und Preis, dass Er uns ein so herrliches Bekenntnis, welches einem auf allen Seiten wohl befestigten Schlosse gleich ist, beschert hat!

O, ihr lieben gläubigen Kinder Gottes innerhalb unserer teuren evangelisch-lutherischen Kirche! Haltet denn zwar vorerst gegen alle Calvinisterei unerschütterlich fest daran, dass Gott alle Menschen zum Glauben bringen, im Glauben erhalten und endlich selig machen wolle und dieses durch das Wort allen ernstlich, kräftig und wirksam anbiete, und dass daher nicht die Wahl, sondern allein die Menschen selbst, nämlich ihr halsstarriges Widerstreben daran Schuld ist, dass so viele entweder nicht zum Glauben kommen oder nicht im Glauben bis an das Ende verharren und daher ewig verloren gehen. Aber haltet auch daran fest: Dass ihr zum Glauben gekommen seid und darin beharret, davon seid nicht ihr selbst die Ursache, das kommt nicht daher, weil ihr besser als die anderen gewesen seid und weil ihr darum williger gewesen wäret, euch für den Weg zur Seligkeit, also auch für den Glauben selbst, zu entscheiden; sondern die Ursache davon ist, wie die Konkordienformel Seite 483 schreibt, diese, dass Gott, ‚ehe der Welt Grund gelegt, darüber Rat gehalten und in seinem Vorsatz verordnet hat, wie Er mich’ (also auch euch) ‚dazu bringen und darinnen erhalten wolle’, und dass er eure Seligkeit ‚in seinem ewigen Vorsatz, welcher nicht fehlen oder umgestoßen werden kann, verordnet und in die allmächtige Hand unsers Heilandes Jesus Christus, daraus uns niemand reißen kann, zu bewahren gelegt hat.’ Wer verloren geht, geht nicht darum verloren, weil ihn, wie Calvin gottloser Weise wider das klare Wort Gottes gelehrt hat, Gott zur ewigen Verdammnis bestimmt hat, denn Gott will alle Menschen selig machen, sondern aus eigener Schuld; nicht weil Gott ihn ausgeschlossen, sondern weil er selbst sich ausgeschlossen hat; nicht weil Gott mit seiner Gnade an ihm vorüber gegangen ist, sondern weil er, der Mensch, an Gottes Gnade vorüber gegangen ist, die ihn retten wollte. Wer aber selig wird, der hat es nicht sich selbst, sondern allein der Erbarmung Gottes in Christus zu danken; wie denn Gott selbst im Propheten Hosea diese beiden Wahrheiten kurz in die Worte zusammen fasst: ‚Israel du bringest dich in Unglück; denn dein Heil stehet allein bei mir.’ (Hos. 13,9) Wer dir daher einreden will, wir lehrten jene schauerliche calvinische Prädestinationslehre, der übertritt gröblich das achte Gebot, der redet falsches Zeugnis gegen seinen Nächsten, der verleumdet uns; was Gott einst richten wird; denn wir verdammen Calvins Prädestination von ganzem Herzen, so wahr uns Gott helfe!“

Aus der zweiten Schrift führen wir den schönen Schluss an, in welchem er die Lehre von der Gnadenwahl auch dem Einfältigsten klar darlegt: „Stehst du, geliebter Leser, schon im Glauben oder nicht? – Stehst du nicht im Glauben, so muss ich dir ... raten: Befasse dich jetzt noch gar nicht mit der geheimnisvollen Lehre von der Gnadenwahl! In diesem deinem glaublosen Zustand bedarfst du, dass man dich die ersten Buchstaben der göttlichen Worte lehre. Die Lehre von der Buße und Bekehrung ist, was du bedarfst. – Stehst du aber schon durch Gottes Gnade im lebendigen Glauben, so lass mich dich ferner fragen: Hast du dir deinen Glauben etwa selbst gegeben? – Du wirst sagen: Ach nein; ich habe nicht das Geringste dazu tun können, dass ich durch das Wort des Evangeliums einen lebendigen Glauben erlangt habe, und ich bin nicht zum Wort gekommen, sondern das Wort ist zu mir gekommen. – Wohl! Meinst du aber etwa, dass du also nur zufällig zum Glauben gekommen bist? – Du wirst ohne Zweifel darauf antworten: Ach nein; wenn ich das meinte, so müsste ich ja ein purer Heide sein; es geschieht ja nichts von ungefähr. – Wohlan, so lass mich dich weiter fragen: Wem hast du es dann zu danken, dass du durch das Wort zum Glauben gekommen bist? – Du sprichst: Das habe ich ganz allein der Barmherzigkeit Gottes und dem allerheiligsten Verdienst Jesu Christi zu danken. Gott war es, der mir, wie einst der Lydia, mein hartverschlossenes Herz aufgetan hat, dass ich darauf achtete, was ich aus Gottes Wort las und hörte. Ich habe das wahrlich mit nichts verdient. Um meiner vielen Sünden willen wäre ich vielmehr wert gewesen, dass mich Gott weder berufen noch zum Glauben gebracht hätte, sondern dass er mich vielmehr in meinen Sünden hätte sterben und verderben lassen. Meine Bekehrung ist mir selbst ein Geheimnis; nur so viel weiß ich, dass ich nichts dazu getan habe. – Meinst du denn, dass Gott erst in der Zeit daran gedacht habe, dich zum Glauben zu bringen? erst damals, als dir die Augen aufgingen, als du nun dein Sündenelend und Gottes Gnade in Christus erkanntest, zum Glauben kamst und ein anderer Mensch wurdest? – Du wirst sagen: Wie könnte ich das meinen! Denn ich weiß ja aus Gottes Wort, dass Gott alles das Gute, was er in der Zeit tut, nicht nur schon von Ewigkeit vorausgewusst, sondern auch schon von Ewigkeit vorausbeschlossen hat. – So lass mich dich denn nur noch eins fragen: Hoffst du auch selig zu werden? – Du wirst antworten: Ja, ich hoffe es. Wenn ich das nicht hoffte, so müsste ich ja Luthers ‚Christliche Fragestücke’ verwerfen; dann könnte ich ja nicht einmal mit der ganzen heiligen christlichen Kirche den dritten Artikel im festen Glauben hersagen, in welchem es heißt: ‚Ich glaube ... ein ewiges Leben’ und nicht mit unserm Katechismus sprechen: ‚Ich glaube, ... dass Gott mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird; das ist gewisslich wahr.’ Und mein lieber Herr Jesus Christus spricht ja: ‚Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben; und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.’ (Joh. 10,27.28) Wie dürfte ich also an meiner Seligkeit zweifeln? – Recht so, geliebter Leser! – Siehe, da hast du denn mit ganz kurzen Worten die ganze Gnadenwahlslehre als in einer Summa. Denn das und nichts anderes ist es, was die Konkordienformel von der Gnadenwahl lehrt und was wir mit derselben lehren, und nur das, was mit dieser einfältigen Lehre nicht stimmt, verwirft jenes unser Bekenntnis und wir mit demselben. Kannst du dich also in die vielen Disputationen, die jetzt über die Gnadenwahl mündlich und schriftlich angestellt werden, nicht finden, so sei nur getrost! Bleibst du bei jenem einfältigen Glauben, so hast du die rechte Gnadenwahlslehre, selbst wenn du noch nie in deinem Leben von dem Wort ‚Gnadenwahl’ etwas gehört hättest! In diesem Glauben lass dich denn auch durch nichts irre machen! ... Bleibe einfach bei jenem Sprüchlein, in welchem Gott der Herr selbst sagt: ‚Israel, du bringest dich in Unglück; denn dein Heil steht allein bei mir.’ (Hos. 13,9) Von diesem goldenen Sprüchlein weiche weder zur Rechten noch zur Linken: So gehest du auf der rechten Bahn und das Ende dieses deines Glaubensweges wird sein die ewige Seligkeit.“ (S. 57 f.)

Wir können uns nicht enthalten, im Anschluss hieran einen Brief mitzuteilen, den Walther an ein Glied einer unserer Gemeinden richtete, welches ihn ermahnte, die calvinische Lehre, in die wir geraten seien, fahren zu lassen43. Derselbe lautet:

                                                              St. Louis, Mo., den 29. März 1881

            Mein lieber Herr ..............!

Gestern erhielt ich Ihren lieben Brief vom 26. diesen Monats. Ich danke Ihnen für denselben von Herzen. Ich sehe daraus, dass es Ihnen ein Ernst ist um Ihre Seligkeit und um die reine göttliche Wahrheit. Möge Sie Gott in diesem Sinne durch seine Gnade erhalten bis an das Ende. Besonders aber habe ich mich darüber gefreut, dass Sie meine Bitte an die Leser erfüllt und für mich armen Sünder bei Gott eine brünstige Fürbitte getan haben. Gott vergelte Ihnen dies. So vertraulich Sie aber an mich geschrieben haben, ebenso will ich auch Ihnen im Vertrauen antworten. Denken Sie nicht, dass ich ein bloßer Kopfgelehrter bin. Ich bin schon vor 50 Jahren durch Gottes Gnade durch lange schwere Angst meines Herzens zur Erkenntnis meines Sündenelendes und hierauf durch Gottes Wort und Heiligen Geist auch zu einer lebendigen Erkenntnis meines Heilandes gekommen. Und jetzt, da der traurige Gnadenwahlsstreit ausgebrochen ist, schreie und weine ich Tag und Nacht auf meinen Knieen zu Gott, dass er mich nicht in Irrtum fallen lassen, sondern die Wahrheit erkennen lassen und bei derselben erhalten wolle bis an mein Ende, das nicht mehr fern ist, denn ich stehe schon im 70. Jahre. Aber Gott macht mich immer gewisser, dass die Lehre recht ist, die ich bekenne. Denn sie steht in Gottes Wort und in dem teuren Bekenntnis unserer rechtgläubigen lutherischen Kirche. Ich wundere mich, dass Sie als ein erfahrener Christ, wie ich glaube, nicht auch diese Erkenntnis haben. Meine Lehre ist, dass die Gläubigen es Gottes Barmherzigkeit und seinem ewigen Ratschluss in Christus allein zu danken haben, dass sie aus der Welt herausgerissen und zum Glauben gekommen sind; müssen Sie denn dies nicht auch sagen? Haben Sie sich denn den wahren Glauben selbst gegeben? Oder sind Sie nur aus Zufall gläubig geworden? Hat Sie aber Gott zum Glauben gebracht, muss es daher nicht Gott von Ewigkeit beschlossen haben, Sie zum Glauben zu bringen? Sie werden gewiss Ja dazu sagen. Nun, das und nichts anders ist eben die Gnadenwahl.

Es werden jetzt leider viele gottselige Christen durch allerhand spitzfindige Reden irre gemacht. Lassen Sie sich doch nicht auch irre machen und sprechen Sie mit jenem Liede zu Gottes Ehre, dem allein alle Ehre gebührt:

Hast auch in Christus mich erwählt

tief aus der Höllen Fluten,

dass mir es niemals hat gefehlt

an irgendeinem Guten;

und dass ich ja dein eigen sei,

hast du mich auch aus großer Treu

gestäupt mit Vaters Ruten.

Ich habe wieder ein klein Büchlein geschrieben; das will ich, wenn es gedruckt ist, Ihnen schicken, wenn Sie es wünschen.

Es grüßt Sie in dem Herrn Jesu

                                             Ihr Bruder

                                                                        C.F.W. Walther

Sehr weh tat es Dr. Walther, dass ein Schüler von ihm den Kampf gegen die biblisch-lutherische Lehre von der freien Gnade Gottes in Christus Jesus hervorrief und Schüler von ihm in dessen Posaune bliesen.

Ungeheuerlich ist das Geschrei, dass Walther diese Lehre erst jetzt aufgebracht habe. Unter vielem, das dagegen gesagt werden kann, sei hier nur erwähnt, dass Walther und die anderen sächsischen Pastoren, u.a. auch der sel. Pastor Löber44, durch die Disputationen mit dem Kandidaten Kl., der Dr. Luthers Schrift gegen Erasmus: „Dass der freie Wille nichts sei“, missdeutete, schon frühzeitig, noch ehe die Missourisynode entstand, in das Studium der Lehre von der Gnadenwahl aufgrund der Schrift und der Konkordienformel getrieben wurden.

Große Freude gewährte es Dr. Walther, dass es dem Satan nicht gelang, unsere Synode – wie die Gegner hofften – zu zerstören, dass die Lehre von der freien Gnade den Sieg behielt. Die Synode konnte ihre Arbeit im Segen fortführen, sie konnte sich nach Ausscheidung aller synergistischen Elemente in Frieden und in der Furcht des Herrn erbauen; ja, Gott gönnte ihr, ein besonderes Werk hinauszuführen, den Bau eines neuen Seminargebäudes.

XXIII.

Seminarbau – Tod seiner Gattin – Familie – Freude an den Enkelkindern

Die im Mai 1881 zu Fort Wayne tagende Delegatensynode hatte beschlossen, ein neues großes Anstaltsgebäude aufzuführen, und zwar auf derselben Stelle, welche das alte einnahm, das abgetragen werden sollte. Im Auftrag der Synode erließ Dr. Walther einen Aufruf an die Synodalgemeinden, in welchem er ihnen die Gründe für den Neubau darlegte und sie in recht evangelischer Weise zu reichlicher Beisteuer aufforderte45.

Am 1. Oktober 1882 konnte der Grundstein gelegt werden und am 9. September im folgenden Jahr die feierliche Einweihung stattfinden. Bei beiden Gelegenheiten hielt Dr. Walther die erste Festrede. In der bei der Einweihung gehaltenen Rede zeigte er, „dass der eigentliche Grund der Festfreude kein anderer sei, als der dreifache: der Endzweck, welchem dieser Neubau allein dienen soll; die Umstände, welche ihn allein veranlasst und notwendig gemacht haben, und die Liebe, die allein ihn errichtet und geschmückt hat.“ Beide Tage waren für ihn rechte Freudentage; denn die Förderung der Anstalt war sein Gedanke Tag und Nacht.

Am 23. August 1885 traf Walther ein schwerer Verlust. An diesem Tag entschlief seine teure Lebensgefährtin, Frau Christiane Emilie, geb. Bünger, in einem Alter von 73 Jahren. Dieselbe war eine gläubige Jüngerin des Herrn, die ihren Glauben durch stillen, gottseligen Wandel zierte und denselben besonders durch ihre Liebe zu Gottes Wort und durch Werke der Liebe und Barmherzigkeit betätigte. Sie war ihrem Gatten während 44 Jahren in Tat und Wahrheit eine Gehilfin.

    Einem an seine Kinder in New York gerichteten Brief Walthers, worin er ihnen Tod und Begräbnis seiner Gattin meldet, entnehmen wir Folgendes.

„ – Lasst euch denn diese Beschreibung ihrer letzten Leiden nicht in allzu große Traurigkeit versenken; Gott hat sie in diesem Ofen des Elends auserwählt gemacht wie Gold und Silber. Sie hat wie eine Heldin gekämpft und – herrlich gesiegt. Ihr Glaube, ihre Liebe, ihre Geduld ist von Gott bewährt gefunden worden. Ihr Leiden, so groß es war, ist nicht wert der Herrlichkeit, die sie bereits außer allem Zweifel genießt. Ihr Mund ist jetzt voll Jauchzens und ihre Zunge voll Rühmens. Wir sehnen uns wohl zu ihr, sie aber nicht zu uns. Sie ist in Sicherheit, wir noch in der Gefahr. Wir kämpfen und laufen noch, sie ruht und triumphiert. Ihr Gedächtnis wird in Segen sein, so lange es Menschen geben wird, die sie kannten. Feinde hat sie nicht gehabt. Meine Tränen sind freilich reichlich geflossen, denn was ich mit dieser meinen treuen Gehilfin verloren habe, das ist nicht auszusagen. Aber je mehr ich daran denke, dass sie nächst Gott nur für mich Tag und Nacht gelebt und gearbeitet hat, um so mehr muss ich es ihr gönnen, dass sie zur Ruhe gekommen ist und ihre Werke ihr nachfolgen. O, dass ich sie nur mehr geehrt hätte, als ich getan habe in dem Drang meiner Berufsarbeiten! Das demütigt mich sehr; aber ihr holdseliges Aufmichblicken ist mir eine trostreiche Absolution gewesen. O, wie freue ich mich darauf, sie bald wieder zu sehen. ...

      Euer schwer geschlagener, aber sich in Gottes Schickung in Demut fügender

                                                                         C.F.W. Walther“

Da wir noch nichts von den Familienverhältnissen Dr. Walthers berichtet haben, so sei hier Folgendes angeschlossen: Walthers Gattin stammte, wie er selbst, aus einem alten Predigergeschlecht. Ihr Vater war Jakob Friedrich Bünger, Pastor zu Etzdorf bei Roßwein in Sachsen. Die Trauung fand in Dresden, Perry County, Missouri, statt am 21. September 1841 und wurde durch Pastor Keyl vollzogen.

Der Ehe entsprossen sechs Kinder: 1. Christiane Magdalene, geboren den 22. November 1842, Gattin des Herrn P. S. Keyl in New York; 2. Hermann Christoph, geboren den 25. Oktober 1844, starb am 24. Juli 1848 in Folge eines unglücklichen Falles in den Keller am Gehirnschlag; 3./4. die Zwillinge Constantin und Ferdinand Gerhard, geboren am 23. Februar 1847, letzterer Pastor in Brunswick, Missouri; 5. Emma Julie, geboren den 27. Juli 1849, Gattin des Herrn P. J.H. Niemann in Cleveland, Ohio; 6. Christian Friedrich, geboren den 29. Juni 1851, starb am 29. Oktober 1852 an der Ruhr.

Die Ehe war glücklich. Es fehlte zwar das Ehekreuz nicht, Gott bescherte aber auch gar manche Freude. Namentlich hatte Walther seine Freude auch an den Enkelkindern.

XXIV.

Wunderbare Lebensführung – arbeitsvolles Leben

Ehe wir nun zu den letzten Lebenstagen des Seligen übergehen, wollen wir auf sein Leben zurück blicken und das Bild desselben uns vor Augen führen. Wie hat Gott doch so wunderbar über dem Leben des Mannes, den er zu so großen Dingen gebrauchen wollte, gewacht und dasselbe so lange erhalten! Von Jugend auf schwächlich, hat Walther wiederholt schwere Krankheiten durchmachen müssen. Es sei erinnert an die schwere Krankheit zur Zeit seines Universitätsstudiums, die ihn nötigte, nach Hause zu gehen, um voraussichtlich zu sterben; an die schwere Krankheit, die ihn während seines Aufenthalts in Perry County überfiel und ihn für lange Zeit schwächte; an die schwere Krankheit, die ihn im Jahr 1860 nötigte, eine Erholungsreise nach Deutschland zu machen. Es sei erinnert an die mancherlei Bemühungen der Synode, der Synodalbeamten, der Freunde, ihm wegen Schwächlichkeit die Arbeit zu erleichtern und ihm dies und jenes Stück derselben abzunehmen, und doch wurde die Arbeit nicht weniger und der schwächliche Mann konnte die viele Arbeit doch bis zu der Stunde ausrichten, da ihn Gott ausspannte. Die göttliche Vorsehung wachte sichtlich über Walthers Leben; darum sollte er auf dem Schiff Amalia, auf welchem er die Überfahrt machen sollte und welches unterging, keinen Platz mehr finden; darum wurde er zweimal von der Gefahr des Ertrinkens gerettet, einmal in seiner Knabenzeit, da er beim Spiel einen steilen Abhang hinab in tiefes Wasser fiel, das andere Mal im Jahr 1853, da er im Mississippi badete.

Es war ein arbeitsvolles Leben. Er war ein unermüdeter, treuer und gewissenhafter Arbeiter. Neben seinem Professorat verwaltete er auch das Amt eines Pfarrers der ersten vier Gemeinden der Stadt, predigte, beteiligte sich an den Gemeindeversammlungen, leitete in denselben Lehrverhandlungen und hielt Vorträge über wichtige Fragen46. Er beteiligte sich an den Versammlungen der Hochschulgesellschaft, der Hospital- und Waisenhausgesellschaft, der Bibelgesellschaft. Viele Jahre hindurch war er Synodalpräses und leitete auch die Lehrverhandlungen auf den Synoden. Viel Zeit nahm in Anspruch die Abfassung seiner Schriften, die Redaktion der Zeitschriften und der ihn fast erdrückende Briefwechsel, der sich über alle Weltteile erstreckte. Viel Zeit verwandte er auf die Ausarbeitung seiner Predigten, auf die Vorbereitung der Referate auf den Synoden. Auf jede seiner theologischen Vorlesungen bereitete er sich vor.

Über seine Arbeiten schrieb er am 8. Mai 1867 an seinen Neffen, damals Pastor in Wyandotte, Michigan: „Schon seit langer Zeit sind zwei liebe Briefe ... von Dir in meinen Händen und noch habe ich Dir weder auf den einen noch auf den andern geantwortet! Du wirst mir gewiss darob sehr böse sein. Aber, liebster J., habe Erbarmen mit einem Onkel, der ein arbeitsvolles Amt, das viele Zweige hat, bekleidet und daneben täglich (mit sehr wenig Ausnahmen) nicht nur einen, sondern oft eine ganze Reihe von zum Teil wichtigen Briefen, die erst ernste Überlegung bedürfen, zu schreiben hat. In solcher Lage kriegt dann Dein Onkel ein Gewissen, das fast nichts mehr weiß als von Amtspflichten und Amtssünden, und darum sich nicht regt, wenn es sich um Pflichten verwandtschaftlicher Liebe und deren Verletzung handelt. Das kannst Du mir glauben. Hunderte von Briefen schreibe ich, und meine lieben Schwestern werden fast immer vergessen, trotzdem, dass sie mich der Unbrüderlichkeit anklagen. So geht mir’s denn auch mit Dir, wenn Du mir nicht einen Gewissensfall vorzulegen hast. Weil ich aber erwarte, Dich in einigen Tagen in A. zu treffen, so ist es lediglich die Furcht vor Deinem zornigen Gesicht, die mich heute noch am Memoriertag vor dem Fest nötigt, Dir wenigstens zu schreiben, warum ist nicht geschrieben habe. Ich dachte an den Ausspruch von Goethe, der mir als ein Paradoxon, als ich ihn das erste Mal las, sehr gefallen hat, ohne dass ich ihn doch oft befolgt habe: ‚Es ist in manchen Fällen notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben als nicht zu schreiben.’ Das ist der Schlüssel meines Briefes.“

Über die Arbeit, die ihm seine Predigten machten oder die er sich dabei machte, schreibt Pastor E.A. Brauer, der längere Zeit sein Kollege an der Anstalt war: „Nicht allein schrieb er, seit er Professor war, fast ohne Ausnahme seine Predigten wörtlich nieder und korrigierte fort und fort daran, so dass meistens sein Manuskript am Rande und zwischen den Zeilen mit Zusätzen und Verbesserungen bedeckt war; sondern er memorierte dieselben auch immer mehrere Tage wörtlich mit der peinlichsten Gewissenhaftigkeit. Am Sonntagmorgen stand er schon gegen vier Uhr auf und, erfrischt durch eine gute Tasse Kaffee, welche ihm seine sorgsame Hausfrau schon vor seinem Aufstehen bereit hielt, memorierte er dann noch auf’s eifrigste bis zum Kirchgang. Später äußerte er, dass ihm dies peinlich wörtliche Memorieren sehr große Not bereite, und er gewünscht hätte, er hätte sich nach einigen Jahren genauen Memorierens der Predigt dann nicht mehr so sehr an’s Konzept gefesselt; zumal da er ja ein Meister in der freien Rede war, wie er das von Anfang an insonderheit bei den Synodalsitzungen bewiesen hat. Obwohl alle seine Predigten seine eminente Begabung wie eisernen Fleiß und die gewissenhafte Ausarbeitung bewiesen, so schrieb er mir doch vor mehreren Jahren (27. November 1881) gerade über seine Predigten in seiner wohlbekannten Demut Folgendes: ‚ ... Dass Du den von mir in der Lutherfeier-Predigt angeschlagenen Ton für den rechten hältst, das zu hören, ist mir sehr tröstlich gewesen. Denn wie kläglich ich jede Periode aus dem lieben Gott immer erst herausbetteln muss, davon hast Du keine Vorstellung, und wie viele edle Zeit ich dann auf das Auswendiglernen wie ein Schuljunge verwenden muss, schäme ich mich, Dir zu sagen; ... Du gehst an’s Predigtmachen mit Freuden, ich meist mit Todesangst; das glaube mir. „Ist etwas Guts am Predigen mein, so ist es wahrlich lauter dein“, das bekenne ich in der lebendigsten Überzeugung davon.’“

Über diese seine Predigtnot äußerte er sich oft in seinen Briefen. In einem Brief an Pastor Wyneken vom 21. Dezember 1871 bemerkt er: „Ich stecke, wie immer, in großer Not, da ich wieder predigen muss.“ So schrieb er vierzehn Tage vor dem 450jährigen Jubelfest der Reformation am 16. Oktober 1867 an seinen Schwiegersohn, Herrn Pastor S. Keyl: „Gott schenke mir und Dir ein freudiges Auftun des Mundes an dem bevorstehenden Feste. Ich liege noch in großer Traurigkeit und Seelennöten, so dass ich mit Schrecken an den Jubeltag denke. Schließe mich mit in Dein Gebet ein. Ich bin ärmer als Du vielleicht meinst. Dein vielangefochtener - .“ Und wieder am 26. Oktober 1867: „Gott helfe Dir gnädig, mit brennenden Lippen von Gottes großen Taten für sein kleines Zion also zu reden, dass das Feuer der ersten Liebe alle Glieder deiner lieben Gemeinde ergreife. Ich bin zwar ziemlich fertig mit der Predigt, aber sie missfällt mir so sehr, dass ich wünschte, sie nicht halten zu müssen. Auch bei den Predigten erfährt man wieder und immer wieder: ‚Es liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.’ Hilf Gott mit anrufen, dass er mir beistehe, das Fest wenigstens nicht zu verderben; ich will Deiner auch nicht vergessen.“ An denselben schrieb er am 15. August 1868: „Was das Halten einer Predigt betrfft, so will ich zwar noch nichts versprechen, doch sehe ich freilich nicht, wie ich dem Verdachte, ein Faulenzer zu sein, entgehen könne, wenn ich während des folgenden Sonntags müßig wäre. Nun tut mir erstlich die Gemeinde leid, wenn ich derselben eine auf der Reise zusammengestoppelte Predigt halte; zum andern ist mir’s bange, mit einer solchen Predigt auf der Reise unserm College, unserem Präsidium, unserer Synode und unserer Kirche überhaupt nur Schande zu machen, denn Du weißt, was für ein armseliger Extemporierer ich bin.“

Als Professor half er noch gern an der Seelsorge, z.B. mit Besuch der Kranken. Pastor E.A. Brauer schreibt: „Seine große Treue im Krankenbesuch bewies er insbesondere beim Unglück der jungen Johanna H., welche so schrecklich am ganzen Leibe verbrannt war, dass sie neun Wochen noch schwer zu leiden hatte, ehe der Tod sie von ihrem Schmerzenslager erlöste. Täglich besuchte sie Professor Walther. Anfangs kam ihr der Gedanke an den Tod, den Walther in seinen Gesprächen mit ihr natürlich berührte, noch schrecklich vor, - sie war eine Jungfrau von 18 Jahren – sie wollte nicht sterben. Jedesmal bereitete sich Walther während dieser ganzen Zeit für diese Besuche auf’s gewissenshafteste – wenn ich nicht irre, sogar schrifltich – vor; und er sagte mir einmal, dass ihm das keine geringe Arbeit sei. Das Resultat dieser Besuche war, dass diese arme Jungfrau endlich mit großer Freudigkeit und Seligkeitsgewissheit ihrem Tode entgegen sah und so auch dann starb.“

Es gibt wohl wenig Theologen, die so gearbeitet haben, wie er, die so ganz der Arbeit sich hingegeben, so gerne gearbeitet haben. „Die Synodalzeiten“, schrieb er einmal an Pastor Sievers sen., „in denen ich mit tätig sein darf, sind die erquickendsten und genussreichsten meines Lebens.“

Er gönnte sich wenig Erholung. In früherer Zeit dirigierte er – er war auch ein vortrefflicher Musiker – einmal einen von ihm selbst gegründeten Singchor; früher setzte er sich wohl kurze Zeit an das Piano, in späterer Zeit immer seltener, zuletzt fast gar nicht. Wenig konnte er sich seiner Familie widmen; bisweilen brachte er die Sonntagabende im Kreise der Seinen zu. Manchmal entriss ihn eine Hochzeitsfeier oder die Geburtstagsfeier eines Freundes der Arbeit. Früher besuchte er wohl sonntags einen guten Freund, z.B. den seligen Pastor Fick, als derselbe Pastor in Collinsville war. „Er hatte seine Freude an einem Vogel, den er stets selbst versorgte und, wenn er verreiste, auf das angelegentlichste den Seinigen empfahl.“ (E.A.Br.) Wenn er von seiner Gattin, vom Arzt und von Freunden dringend aufgefordert wurde, abends einen Spaziergang zu machen, so tat er es bisweilen und bat seine Kollegen, mitzugehen, aber es dauerte nicht lange, so war der gute Vorsatz wieder dahin.

So arbeitete er denn unverdrossen und unermüdet bis in sein hohes Alter, nicht um sich Ehre und Ruhm zu erwerben, sondern um Gottes Ehre zu fördern, Gottes Reich auszubreiten, für die reine Lehre, die Gott alle Ehre gibt, viele zu gewinnen.

XXV.

Walther ein rechtschaffener Christ – Gebetseifer – Demut – Gewissenhaftigkeit – Uneigennützigkeit und Genügsamkeit – Freigebigkeit – Gastfreundschaft – treuer Freund

Walther war ein Rüstzeug des Herrn, nicht ein totes, sondern ein lebendiges; er war ein aufrichtiger, rechtschaffener Christ, das heißt, ein Mann, der sich als ein armer Sünder erkannte, sich aber im Glauben fest an den Sünderheiland hielt. Sein Glaube war nicht ein toter Kopfglaube, sondern ein lebendiger Herzensglaube, der durch schwere Trübsale und Anfechtungen geläutert und bewährt worden war. Bekannt sind seine Unterschriften in Briefen: „Ihr geringster Mitgenosse an der Trübsal und am Reich“ – „Ihr nach dem ewigen Leben sich innig sehnender“ – „Ihr innig verbundener Bruder in dem, welcher sich für uns zu Tode geliebt hat und nun auf dem Thron sitzt, seine uns erworbenen Gaben über uns auszuschütten“ -.

Er war ein Mann des Gebets. Er verstand das Bitten, das Suchen, das Anklopfen, zu dem uns der Herr ermahnt. Das muss jeder bekennen, der ihn hat beten hören. Auch die von ihm geschriebenen Gebete47 – das kann jeder denselben abfühlen – sind von ihm zuvor durchbetet worden.

Eine Tugend, durch welche sein Glaube sich erwies, war seine Demut, Demut vor Gott, Demut vor den Menschen. Wir haben schon manche Äußerung seiner Demut mitgeteilt; wir erinnern an die Abschiedsworte, die er an die Gemeinde richtete, als er 1860 nach Deutschland reiste. Walther wusste ja, dass ihn Gott zu einem Werkzeug erwählt hatte, hier in Amerika, neben andern treuen Arbeitern, das lutherische Zion zu bauen, er wusste ja, dass er zum Aufbau der Synode viel beigetragen hatte, aber er wollte es nicht wissen, er beanspruchte keine Ehre, sondern gab Gott die Ehre; und wenn Menschen in Betracht kamen, sagte er nicht: ich, sondern: die Synode. In einer editoriellen Korrespondenz schrieb er im Jahr 1860 auf seiner Reise nach Europa: „O, wie freue ich mich daher, dass mir Gott die hohe Gnade geschenkt hat, in der Gemeinschaft unserer Synode stehen zu können! – Möge er ... mir helfen, dass ich bald wieder neugestärkt in den Kreis meiner Brüder trete und den Segen, den ich darin bisher genossen, noch ferner genieße bis zum Tage meines Todes.“48 Er wusste ja, dass er in der Synode und auch außerhalb derselben Ansehen hatte, Einfluss hatte, aber er missbrauchte dies Ansehen, diesen Einfluss nicht in seinem Interesse, er erhob sich nicht über andere.

Man sagt, er sei herrschsüchtig gewesen, habe sich keinen Widerspruch gefallen lassen. Wir antworten: Walther war auch ein armer Sünder und in dieser Erkenntnis lebte er und darum hat er auch über seinen alten Adam geklagt, der nicht besser und schöner war als der anderer Sünder. Hat ihn nun auch sein Fleisch bisweilen gequält, so wissen wir doch auch, dass er gegen dasselbe gekämpft, tapfer gekämpft hat; wir wissen, dass er auch, wo er sich übereilen ließ, dies demütig anerkannte; wir wissen, dass er auch Widerspruch ertragen und sich dem Willen anderer unterworfen hat.

Ein Pastor schreibt uns: „Als es ihm einmal passierte, andere etwas zu hart zu behandeln, tat er dann ein so volles, demütiges Bekenntnis, dass ich ihm hernach sagte, er habe zu viel bekannt. Er antwortete: Gott gebe, dass es den Beleidigten nicht schade. Ich will aber lieber zu viel als zu wenig bekennen, denn mein einzig Verlangen ist, selig zu werden.

Als Walther einmal mit andern Schiedsrichter zwischen zwei Parteien war, fiel der eine Part, weil unzufrieden mit dem abgegebenen Urteil, in ungestümen Reden über Walther her. Dieser tat, als höre er nicht. Als dann der Unwillige auf das Zureden anderer ein klein wenig einlenkte, drückte ihm Walther zum Abschied herzlich die Hand. Als ich später Walther mein Befremden über diese seine Handlungsweise ausdrückte, entgegnete er: Wie denn ein Arzt tue, der einen Todkranken vor sich habe? Ob nicht sein Herz jauchze, wenn er auch nur einige schwache Zeichen beginnender Besserung verspüre? Solche Ärzte sollten wir auch sein, die Schwachen und Todkranken tragen, nicht alsbald viel neues Leben verlangen, sondern uns herzlich freuen, wenn wenigstens ein kleiner Anfang gemacht sei.“

Pastor Sieker schreibt in den Anmerkungen zu seiner „Gedächtnispredigt auf den selig vollendeten Dr. C.F.W. Walther“: „Schreiber dieses kann das aus ... Erfahrung bezeugen, dass er versucht sein könnte, sich zu freuen, Walther sogar persönlich verletzt zu haben, weil er nachher eine so seltene Geduld und Freundlichkeit darüber von ihm erfuhr, die einen unauslöschlichen heilsamen Eindruck machen und hinterlassen musste. Während so mancher angesehene Mann in der Kirche mit Spott und Härte die Geringen und von ihm Abweichenden abstößt, war Walther stets die Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit selbst, auch gegen die Geringsten. – Die schärfste, erschütterndste Rede, welche Schreiber von des seligen Mannes Lippen hörte, wurde bei Gelegenheit einer Versammlung der Synodalkonferenz durch die Bemerkung eines andern, damals gern geehrten Mannes veranlasst. Letzterer begann seine Darlegung mit den Worten: ‚Wenn Professor Walther in einer Sache geredet und geurteilt hat, ist es schwer, dagegen aufzutreten.’ Mit ungemein gedämpfter, in tiefer Wehmut erzitternder Stimme, die sich aber später in erschütternder Schärfe ermannte, erklärte Walther dem Sinn nach Folgendes: Von Feinden der Wahrheit Gottes habe er und könne er es ruhig ertragen, wenn man ihm beimesse, dass er darum eine Ansicht oder Maßregel bekämpfe, weil sie ihm nicht angenehm sei, dass er darum eine Lehre oder Praxis befürworte, weil er sie für recht halte. Nun sei ihm aber im Kreise seiner Glaubensbrüder unterstellt worden, dass man es schwer finde, in einer Frage zu opponieren, die er für recht halte zu bejahen. Da sei er gedemütigt, wie nie zuvor. Ob er denn Anlass gegeben habe, so von ihm auch nur zu denken? Sei das der Fall, so habe er bis jetzt seinen Gott nicht gekannt, dem allein zu folgen und gehorsam zu sein sei; so habe er sich nicht gekannt, da er in dem Glauben gewandelt habe, nur und nur allein Gottes Ehre zu suchen. Er sei ein Mensch wie der Geringste in der Versammlung, und dieser Geringste sei so viel höher als er, so er Gottes Wort gegen ihn führe, wie Gott höher sei als ein Mensch. Ob denn der Haufe der Feinde der lautern Wahrheit den Triumph feiern solle, dass aus dem Kreis seiner Glaubensbrüder der Verdacht aufsteige, man dürfe ihm nicht zuwider reden? Aber dem Teufel sei Trotz geboten, mir nachzuweisen, dass ich auch nur einem einfältigen Laien gerechterweise den Eindruck hinterlassen habe, man dürfe mir nicht widersprechen“ usw.

An seinen Neffen J.W. schrieb er im Jahr 1868: „ – Doch tröstet mich das, dass ich wenigstens ein Denkmal der großen Barmherzigkeit Gottes bin, die sich oft gerade solche Werkzeuge aussucht, an welchen die freie Gnade um ihrer Unwürdigkeit willen umso heller leuchtet.“

Wenn wir bedenken, welche Autorität Walther besaß, wie man sein Urteil in allen Dingen begehrte, wie hoch man ihn als Lehrer ehrte, so müssen wir es als ein Wunder der mächtigen Gnade Gottes preisen, dass dieseer Mann in der Demut geblieben, nicht höffärtig geworden und gefallen ist.

Wie Walther gewissenhaft war in der Ausrichtung seiner verschiedenen Ämter, so auch in seinem ganzen Wandel. Er war ungemein ängstlich besorgt, sich in allem so zu halten, dass ja niemand ein Ärgernis nehmen könnte.

Groß war seine Uneigennützigkeit und Genügsamkeit. Als er noch in Perry County weilte, wo damals Armut zu Hause war, und anfangs in St. Louis, teilte er gern mit den ihm Anbefohlenen die Armut. Pastor F. Lochner, der im Herbst 1846 von seiner ersten Gemeinde vertrieben worden war und eine Zeitlang Walthers Gast war, schreibt: „Es fiel mir schwer, von seiner mir so herzlich angebotenen und erwiesenen Gastfreundschaft so lange Gebrauch machen zu müssen, da ich sah, wie knapp es doch oft bei ihm herging. Hier ein Beispiel. Da der Holzvorrat ziemlich auf der Neige war und die Kasse doch nicht die Beschaffung einer Cord Brennholz gestattete, obwohl Holz damals noch sehr billig war, so entschloss sich Walther, einen Teil des Tages in dem geheizten Familienzimmer seine schriftlichen Arbeiten zu machen, was freilich für ihn nicht sehr angenehm war. Glücklicherweise hatte nach einigen Tagen ein Vorsteher etwas bei ihm zu tun und konnte derselbe seine Verwunderung nicht unterdrücken, den Pastor, der eben an einem Lutheranerartikel schrieb und auf dem Tisch einige Bände von Luthers Werken vor sich liegen hatte, nicht im Studierzimmer arbeitend anzutreffen. Wiewohl nun Walther mit der Sprache nicht recht heraus wollte, so hatte doch der Vorsteher bald gemerkt, was die eigentliche Ursache der Translokation sei, namentlich als Walther für kurze Zeit zur Besprechung in der kalten Studierstube mit demselben verweilt hatte. Am nächsten Morgen kam daher eine Fuhre Holz, und Walther, der darob nicht wenig überrascht war, aber nun auch gleich merkte, woher, konnte wieder für den ganzen Tag sein Studierzimmer beziehen.“ Wie bescheiden seine Wohnung anfangs im alten Anstaltsgebäude war, wie er später, als Freunde ihm ein für ihn erbautes Wohnhaus zum Geschenk anboten, sich weigerte, dasselbe anzunehmen, haben wir bereits gehört. Für die Bücher, die er herausgab, nahm er keinen Cent als Vergütung. Wenn er, wie andere Schriftsteller, für alle seine Schriften Gratifikation gefordert oder genommen hätte, wäre er ein reicher Mann geworden. Aber er verzichtete, wie auf eigene Ehre, so auch auf zeitlichen Gewinn. Er hat damit sehr viel zum Aufblühen des „Concordia-Verlags“ beigetraten.49 Den Gewinn – und es waren Tausende von Talern – ließ er in die Synodalkasse fließen.

Groß war Walthers Freigebigkeit und Mildtätigkeit; nicht nur gab er für bestimmte Zwecke regelmäßige Beiträge, sondern auch bei außerordentlichen Aufforderungen, und er gab immer reichlich.

Groß war seine Gastfreundschaft. Allen Liebhabern Christi stand sein Haus offen und sie wurden ohne Murren, mit Freuden, auf längere Zeit bewirtet.

Ein deutscher Theologe erbot sich, in den Dienst der amerikanischen lutherischen Kirche zu treten und fand bei seiner Ankunft in Walthers Haus die freundlichste Aufnahme. Derselbe beschreibt die genossene Gastfreundschaft so: „Ich fand sofort die allerfreundlichste Aufnahme und Unterkunft für mich und meine Familie (Frau und zwei halberwachsene Kinder) in der Wohnung und am Tisch des Herrn Professor Walther und verblieb daselbst volle fünf Monate. Um den Grundsatz, dass ein von Deutschland kommender Theologe sich die hiesigen Verhältnisse erst längere Zeit ansehen solle, ehe er ins Amt träte, auch ins Werk zu setzen, ließ sich Walther die größten Beschwerlichkeiten, ja, selbst Entbehrungen nicht verdrießen. Die Wohnung war beschränkt, es standen erst die beiden Seitenflügel des alten College. Den südlichen Flügel bewohnten mit ihren Familien die Professoren Walther, Biewend und Rektor Gönner. Nun war noch eine Familie mehr hinein gekommen. Die Einnahme war zu der Zeit so kärglich, dass es auf dem Tische, an dem auch einige Studenten noch regelmäßig aßen, bisweilen selbst an Brot mangeln wollte. Gott erweckte das Herz des Bäckers R., dass durch reichliche Brotlieferungen dem wirklichen Darben vorgebeugt wurde. Und doch wurde diese große Wohltat die ganze Zeit hindurch mit derselben Unverdrossenheit und liebenswürdigsten Freundlichkeit erwiesen. Da nun Woche nach Woche und Monat nach Monat verstrich, ohne dass ein Beruf kam, und das Warten mir schier zu lange dünken wollte, äußerte Walther: ‚Sonst ist das Begehren von Pastorem immer viel größer als unser Vermögen, die Stellen zu besetzen. Ja, oft kommen so viele Berufe, dass wir wünschen möchten, wir könnten die Pastoren drechseln; aber gerade jetzt will kein passender Beruf kommen.’ Wenn nun bisweilen wir unsere Bekümmernis darüber aussrpachen, dass wir so lange zur Last fielen, so erwiderte er: ‚Ich danke Gott, dass er mir die Gnade verliehen und mich würdig geachtet hat, Ihnen dienen zu können. Geben ist seliger als nehmen.’ Aber nicht allein durch solche liebliche Trostreden suchte Walther der schweren Wartezeit ihre Herbigkeit zu nehmen, sondern er war auch darauf bedacht, mich in angemessene Tätigkeit zu setzen dadurch, dass er mir Gelegenheit gab, mit zu unterrichten am College.“

Ein Pastor schreibt: „Als ich am Anfang meiner Amtszeit kränklich und arbeitsunfähig geworden war, lud mich Walther mit so herzlichen Worten zu sich ein, dass ich nicht widerstehen konnte. Er sei, sagte er, überzeugt, dass er in mir den Herrn Jesus selbst aufnehme. Und er hat mich sechs Wochen lang in seinem Hause treu verpflegt.“

In Gesellschaften, bei Geburtstags- und Hochzeitsfeiern und andern Zusammenkünften von Freunden wusste Walther immer die Stunden überaus genussreich zu machen. Da teilte er aus dem reichen Schatz seiner Erfahrung so manches mit, da beteiligte er sich lebhaft, wenn das Gespräch auf die Lehre kam, auf das, was die Kirche im Allgemeinen und die Missourisynode insbesondere bewegte, auf wichtige Ereignisse im Weltreich. Daneben konnte er auch zu seiner Zeit die Gesellschaft durch einen Scherz erheitern, nicht durch Scherze, die Christen nicht ziemen, sondern durch solche, die in den Schranken der Gottseligkeit bleiben.

Walther war ein treuer Freund. Das werden alle bekennen müssen, die seine besondere Freundschaft genossen. Wie war er so mild im Urteil über ihre Schwächen, wie verstand er es, ihnen zu sagen, was er ihnen glaubte, sagen zu müssen, wie offenbarte er ihnen sein Herz! Und wie lieblich konnte er mit ihnen in Briefen reden, wie kräftig sie trösten, ja, auch zuweilen köstlich scherzen!

XXVI.

Walther ein großer Theologe – als Prediger – was hat ihn zum Theologen gemacht? – seine hohen Gaben

Walther war ein großer Theologe50, nicht, wie man dies heutzutage versteht, ein Theologe, der neue, auffallende Bahnen einschlägt, ein neues System der Lehre aufbringt, eine neue Schule, wie man sagt, gründet, aber er war ein großer Theologe im wahren Sinne, wie ein solcher vor Gott und der Kirche sein soll, ein von Gott gelehrter Gottesgelehrter, der die alte apostolische, durch Luther wieder gebrachte reine Lehre klar dargelegt, gründlich bewährt und tapfer verteidigt hat, und zwar zur Ehre Gottes und zum Heil der Kirche. Walther hat nicht, wie manche, eine besondere Lieblingslehre, sondern alle Lehren getrieben und zwar von ihrem Zentrum her, der Lehre von der Rechtfertigung. Er war in allen Lehren zu Hause und hat allen Aufmerksamkeit geschenkt, wie seine Ausgabe der Glaubenslehre von Baier51 zeigt. Durch Angriffe veranlasst, hat er aber manche Lehre besonders dargelegt, begründet und verteidigt und wieder zur Geltung gebracht. Wir nennen die Lehre, dass die heilige Schrift, die ganze auch den Worten nach eingegebene Schrift, die einzige Erkenntnisquelle, Regel und Richtschnur des Glaubens und Lebens sei, die Lehre von dem Unvermögen des natürlichen Menschen in geistlichen Dingen und von der freien Gnade Gottes, von der Rechtfertigung, von der Bekehrung, von den Gnadenmitteln als den Mitteln, in welchen das durch Christus erworbene Heil liegt und durch welche der Glaube, der dies Heil ergreift, gewirkt wird, vom Unterschied des Gesetzes und Evangeliums, von der Kirche Jesu Christi, der unsichtbaren Versammlung aller wahren Gläubigen, ihren Rechten, ihrem Amt und Regiment, von der lutherischen Kirche als der wahren sichtbaren Kirche Gottes auf Erden, von dem Gnadenreiche Christi auf Erden, das ein Kreuzreich bleibt bis zu seiner Wiederkunft zum Gericht (gegen den Chiliasmus).

Sein Kampf gegen den Irrtum war ein entschiedener, aber kein fleischlicher; er floss aus dem Eifer für die Ehre Gottes und die Alleinherrschaft seines Wortes, aus Liebe zu den irregeführten Seelen. Dr. Delitzsch führt in „Zeitgeschichtliche Gedanken“ im „Pilger aus Sachsen“52 folgende Worte aus einem von Walther an ihn gerichteten Brief an: „Glaube mir, mir geht’s bei meiner Polemik gar oft wie Joseph, der zwar hart mit seinen Brüdern redete, aber darnach in seine Kammer ging, sich auszuweinen, und erst, nachdem er sein Angesicht gewaschen hatte, wieder heraus unter die Leute ging.“

Groß war Walther als Prediger. Seine Predigten waren gründlich, lehrhaft und zugleich populär und erbaulich. Er legte es nicht darauf an, die Ohren zu kitzeln, mit seiner Beredsamkeit zu prangen, aber geistreich, beredt, anziehend, hinreißend waren seine Vorträge doch.

Als Walther noch Pastor in St. Louis war, besuchten namentlich an hohen Festtagen gebildete Unkirchliche seine Kirche, um einmal eine schwungvolle Rede zu hören, nicht an dem Inhalt der Predigt, sondern an der schönen Form sich zu ergötzen. Walther hat ja auch in Absicht auf seine Predigten zugenommen, aber schon von Anfang seiner Wirksamkeit an, als er noch Pastor in Sachsen war, war es ihm darum zu tun, mit seiner Predigt Seelen zu gewinnen und darum in seinen Predigten das Eine, was not ist, zu treiben und auch auf die Form allen Fleiß zu verwenden. Herr C.E. Kühnert in Chemnitz in Sachsen schreibt uns, dass Herr Gustav Wild, der in den Jahren 1837 und 1838 Walthers Beichtkind in Bräunsdorf war, sich noch jetzt erinnert, was Walther gepredigt, und ihm manches mitgeteilt habe, u.a. aus dem Jahre 1837 folgende Themata: Von den Kennzeichen der wahren Demut – Von dem überschwänglichen Reichtum der göttlichen Gnade – Welches ist die rechte sichtbare Kirche Gottes auf Erden? 1. die nichts dazu tun, 2. die nichts davon tut, 3. die nicht verdreht. Aus dem Jahr 1838: Von der wahren Bekehrung zu Gott – Die Wiedergeburt ein Werk des dreieinigen Gottes – Wie wunderbar Gott die Menschen zur Seligkeit führt – Himmel und Hölle, 1. dass es gewiss einen Himmel und eine Hölle gibt, 2. für wen diese Orte bestimmt sind. Eine Beichtrede behandelte die Frage: Warum die meisten Kommunikanten keinen Nutzen und Segen spüren? 1. weil sie nicht glauben, dass der wahre Leib und Blut Christi im Abendmahl gegenwärtig sei, 2. weil sie noch nicht ihre Sünden erkannt und wahre Buße getan haben, 3. weil sie noch in wissentlichen und herrschenden Sünden leben.

Dr. A. Brömel urteilt in seinen „Homiletischen Charakterbildern“ über Walthers Predigten so: „Er“ (Walther) „ist so orthodox wie Johann Gerhard, aber auch so innig wie ein Pietist, so korrekt in der Form wie ein Universitäts- oder Hofprediger, und doch so populär wie Luther selbst. Wenn die lutherische Kirche ihre Lehren wieder ins Volk bringen will, dann wird sie so treu und gewiss in der Lehre und so ansprechend und zeitgemäß in der Form sein müssen, wie es bei Walther der Fall ist. Walther ist ein Musterprediger in der lutherischen Kirche. Wie anders stünde es in Deutschland um die lutherische Kirche, wenn viele solche Predigten gehalten würden!“ „Das, wodurch Walther so eindringlich wirkt, ist natürlich nicht die Form, sondern der Inhalt seiner Predigten. Er predigt als guter Lutheraner das ganze Wort Gottes. Lieblingsgedanken hat er nicht. Mit der größten Überzeugungstreue predigt er den ganzen Inhalt der Schrift; und das gerade ist das Wohltuende. Nicht ein Titelchen der Schrift gibt er auf.“ „Immer und immer wieder kehrt Walther zur Rechtfertigung allein durch den Glauben zurück.“ „Weil er über die Versöhnung mit Gott als seligstes Geheimnis so gern redet und selbst darin lebt und webt, darum fordert er auch so dringend auf, sich versöhnen zu lassen. Seine Rede wird sehr lebhaft und andringlich, wenn er hierauf zu sprechen kommt.“ „Die Gnadenbrunnen sind ihm natürlich lediglich das Wort imd die Sakramente. Mit unerschütterlicher Festigkeit hängt er am Worte.“ „Ins Wort weiset er daher alle hinein; hier ist der Himmel offen, das Herz Gottes aufgetan.“ „Walther schwächt aber die Notwendigkeit der Heiligung nicht ab.“53

Walthers Kenntnis Luthers und anderer Theologen, welche Anweisungen für Prediger geschrieben haben, und seine reiche Erfahrung im Pfarramt setzen ihn in den Stand, eine so herrliche Anweisung für Prediger zu schreiben, wie seine „Amerikanisch-lutherische Pastoraltheologie“ 1872.

Was hat Walther zu einem solchen Theologen gemacht? Luther sagt: Gebet, Studium und Anfechtung machen einen Theologen. Diese drei Stücke haben auch Walther dazu gemacht. Sein Leben war ein Gebetsleben. Mit eisernem Fleiß studierte er. Außer der heiligen Schrift studierte er namentlich Luther, den größten Lehrer nach den Aposteln. Er kannte Luthers Schriften genau, aber dies nicht allein, er war auch ein treuer Sohn und Schüler Luthers. In einer Synodalrede54 sagt er: „Ein Schüler Luthers, und wie ich zu Gott hoffe, ein treuer Schüler desselben, habe ich alles, was ich bisher öffentlich geredet und geschrieben habe, nur diesem Propheten der letzten Welt nachgestammelt.“ Von Luthers Schrift „Dass der freie Wille nichts sei“ sagte er, sie habe ihn die Größe Gottes erkennen lassen; aus der Schrift „Von den Schlüsseln“ habe er erkannt, was das Evangelium sei, und aus den Schriften über den Wucher, was wahre Nächstenliebe sei. Aus Erfahrung konnte er daher auch treffliche Anweisung zum Studium der Schriften Luthers geben.55 – Aber auch das dritte Stück, die Anfechtung, hat nicht gefehlt. Und weil Gott aus ihm einen großen Theologen machen wollte, so hat er ihn auch viele und schwere, auch hohe geistliche Anfechtungen erfahren lassen. Es hat Gott gefallen, ihn wiederholt in den Schmelztiegel des Kreuzes und der Trübsal zu werfen. Ein Pastor, ein alter Freund Walthers, schreibt uns: „Als ich ihn einmal besuchte, sah er mich mit einem fast tränenvollen Blick und trauernder Gebärde an und sagte: ‚Ach, wenn ich doch sterben könnte!’ Als ich ihn später fragte, was ihm vornehmlich von seinen Anfechtungen geholfen hätte, sagte er: ‚Das heilige Abendmahl.’ Auch klagte er darüber, dass es sein Beruf mit sich bringe, so viel schlechtes Zeug lesen zu müssen, was ihm viel zu schaffen mache. Ich tröstete ihn damit, dass es Luther ebenso gegangen sei, dem der Teufel vorgemacht habe, dass am Ende auch der schändliche türkische und tartarische Glaube ein guter sei.“ Überdies traf alle Schmach der Feinde der reinen Lehre, die sie über unsere Synode ausschütteten, zunächst und zumeist den Vorkämpfer; daher ihn Dr. Sihler56 in seiner Selbstbiographie „unsern Generalkreuzträger“ nennt.

Gott hatte aber auch Walther, um recht viel durch ihn auszurichten, mit großen herrlichen Gaben ausgerüstet. Walther hatte ein gutes Judicium, er konnte das Wahre vom Falschen leicht unterscheiden und die Gründe für und wider eine Sache genau abwägen. Diese Gabe kam ihm zustatten bei der Darlegung, Begründung und Verteidigung der Lehre, bei Disputationen, bei Religionsgesprächen, bei der Abgabe von Gutachten, wie man in zweifelhaften Fällen christlich handeln soll. Er besaß ein gutes Ingenium, er konnte eine Sache schnell und leicht begreifen, sich lebendig vorstellen und die passenden Ausdrücke dafür finden. Diese Gabe zeigte sich besonders in seinen herrlichen Predigten und Vorträgen. Er erfreute wohl auch bisweilen die Seinen und Freunde mit einem poetischen Erguss. Es kommt selten vor, dass beide Gaben in einem Menschen in so hohem Maße bei einander sind. Sein gutes Gedächtnis verließ ihn erst in den letzten Jahren. Er besaß starke Willenskraft, und Gott brauchte gerade einen energischen Mann zu dem, was er in den Vereinigten Staaten ausrichten wollte. Seine Regiergabe, die sich besonders in der Leitung der Gemeinde, der Synode und der Anstalt zeigte, missbrauchte er nicht, um sich eine Herrschaft anzumaßen, sondern gebrauchte sie dazu, dass Gottes Reich gebaut werde. Er war aller Kirchenpolitik feind und ging gerade durch, nach dem, was er aus Gottes Wort als recht erkannt hatte, wenn auch die Synode darüber zu Trümmern gegangen wäre. Er verteidigte die Wahrheit und zeugte gegen Irrtum und Unrecht und überließ die Folgen dem Herrn, der die Kirche regiert, und hatte das feste Vertrauen, der Herr werde alles wohl machen. Als ein Freund einmal wegen des Ausgangs einer Verhandlung besorgt war, sprach er: „Nur getrost! Wir beginnen mit Gebet, und was wir da von Gott bitten, das gibt er uns auch; denn Gott ist treu, er hat’s zugesagt, dass er uns Mund und Weisheit geben wolle; er hält sein Wort; wir sollen nur glauben.“ Als die Synode durch die Wucherfrage bewegt wurde, äußerte er wiederholt, dass er von der rechten Lehre nicht abweichen könne, wenn auch die Synode in Stücke falle. An einen Freund schrieb er am dem 22. März 1869: „Wir werden wohl nicht ausweichen können, um die Wucherfrage bei Gelegenheit der nächsten Allgemeinen Synode gemeinschaftlich zu besprechen. Da stehe uns Gott bei! Satan hat offenbar Böses im Sinn. Aber der in uns ist, ist größer, als der in der Welt ist. Nötigt uns Gott, diese kitzliche Sache vorzunehmen, so wird Er auch helfen, dass wir darüber nicht gespalten werden.“

XXVII.

Walthers letzte Krankheit – letztes Referat – letzte Geburtstagsfeier – 50jähriges Amtsjubiläum

Fünfzig Jahre hat Gott diesen seinen treuen Knecht in seinem Dienst gebraucht; dann hat er ihn ausgespannt und in Frieden dahinfahren lassen.

In den Ferien 1886 besuchte Walther seine Kinder in New York. Er sagte, dies sei sein letzter Besuch. Fast sämtliche Pastoren der New Yorker Pastoralkonferenz kamen an einem Tage zu Pastor Keyl, um Walther zu begrüßen und einige Stunden seinen Umgang zu genießen. Von hier reiste er nach Cleveland, um seine Kinder dort zu besuchen, und wohnte der Synode des Mittleren Bezirks, die in Pastor Niemanns Gemeinde (4. bis 10. August) gehalten wurde, bei. Von Cleveland begab er sich nach Detroit, um der daselbst (vom 11. bis 16. August) tagenden Synodalkonferenz als Delegat beizuwohnen. Krank kehrte er zurück. Doch gönnte er sich keine Ruhe, sondern fuhr in seiner angestrengten Arbeit fort. Als der Westliche Bezirk am 13. Oktober und die folgenden Tage seine Sitzung in St. Louis hielt, leitete er auch noch die Lehrverhandlungen. Seit dreizehn Jahren hatte er auf den Sitzungen dieses Bezirks über das Thema referiert, „dass nur durch die Lehre der lutherischen Kirche Gott allein alle Ehre gegeben werde, ein unwidersprechlicher Beweis, dass die Lehre derselben die allein wahre sei“57. In dieser Sitzung galt es, das Thema zum Abschluss zu bringen. Es war ein Jammerbild, anzusehen, wie der durch Fieber geschwächte Mann zwar nicht kraftlos, aber mit Anstrengung aller seiner Kräfte vortrug. Wohl wünschte mancher, dass ein anderer ihm die Arbeit abgenommen hätte, aber wiederum musste man ihm die Freude gönnen, sein Thema zum Abschluss zu bringen. Es war ein Jammerbild, aber auch das Bild eines Mannes, der rastlos, ohne Rücksicht auf sich, für Gottes Sache arbeitete. War ja doch das herrliche Thema, das er zum Abschluss brachte, das Thema seines Lebens: Gott allein die Ehre! Tiefbewegt und mit Schluchzen schloss er seinen Vortrag: „So sind wir denn zu Ende mit unseren seit dreizehn Jahren besprochenen Thesen, in welchen nachgewiesen worden ist, dass unsere lutherische Kirche in allen diesen Lehren Gott allein alle Ehre gibt und niemals die Ehre, die dem großen Gott gebührt, der Kreatur beilegt. Was Gott gebührt, gibt sie ihm auch ganz. So helfe denn nun der liebe Gott, wass wir nicht nur uns freuen, einer solchen Kirche anzugehören, sondern dass wir auch selbst ihm alle Ehre geben in unserem Glauben, Bekenntnis, Leben, Leiden und Sterben. Unser Lebensmotto muss sein: Soli Deo gloria (Gott allein die Ehre). Das haben die Engel alsbald gesungen, nachdem der Heiland geboren war. Das war das Erste und ist auch die Hauptsache. Gott hat durch Jesus seine Ehre wieder bekommen. Wir haben nichts davon getragen als Schande, haben aber, indem Gott seine Ehre wieder bekommt, die ewige Seligkeit. Wohl allen, die das von Herzen glauben! Die werden dann alle heiligen Engel schauen und den Gesang der Ehre, des Preises und Ruhmes Gottes fortsetzen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gott helfe, liebe Brüder, dass wir einst auch unter dieser Schar sind und dann von ganzem Herzen dem lieben Gott wirklich alle Ehre geben. Denn hier können wir es nicht, unser schändliches Fleisch hängt uns an. Aber dort, wenn Gott das alte Fleisch von uns genommen hat, wird unsere Lehre nicht nur Theorie sein, sondern wir werden sie auch praktizieren. O Herr Jesu, dazu hilf uns allen. Amen.“58

Die Synode sprach ihm den innigsten Dank aus für die Arbeit, welche er sich das in den letzten dreizehn Jahren gelieferte Referat habe kosten lassen, und drückte zugleich den Wunsch aus, er möge seines kränklichen Zustandes halber seine Vorlesungen eine Zeitlang aussetzen. Er folgte aber der Weisung nicht, er hielt sich nicht für berechtigt, auf die Bitte eines Bezirks hin die ihm von der Allgemeinen Synode übertragene Arbeit einzustellen; auch die Vorstellungen anderer, sich doch eine Zeit der Ruhe zu gönnen, waren vergeblich, er arbeitete weiter, bis er gänzlich zusammenbrach.

Am 25. Oktober feierte er seinen Geburtstag. Als am Abend seine Kollegen, Verwandte und Freunde sich bei ihm gewohntermaßen einfanden, widmete er sich ihnen in der bekannten liebenswürdigen Weise, aber man konnte wohl merken, dass es nicht ohne Anstrengung seiner Kräfte geschah.

Bald darnach verschlimmerte sich sein Zustand, doch fuhr er in seinen Arbeiten fort. Am Mittwoch, den 3. November, beteiligte er sich noch an der St. Louiser Eintagskonferenz, und am Abend dieses Tages versprach er endlich der Aufsichtsbehörde, seine Vorlesungen einstellen zu wollen. Als er nicht  mehr auf sein konnte, lag er eine Zeitlang auf dem Sofa, sein Schwager aber, Herr Apotheker H. Bünger, nötigte ihn, sich ins Bett zu legen. „Ihr bringt mich hier herein“, sagte Walther dabei, „da komme ich nicht wieder heraus.“ Anfang Dezember kam seine Tochter, Frau Pastor Keyl, nach St. Louis, um ihn zu pflegen. Auch sein Sohn, Pastor Ferd. Walther, kam dreimal zu demselben Zweck. Im Dezember wurde er immer schwächer, seine Füße wollten ihn nicht mehr tragen, er konnte nicht mehr auftreten.

So nahte der 16. Januar 1887 heran. Der 2. Sonntag nach Epiphanias war der Tag, an welchem er vor 50 Jahren ordiniert worden und in das heilige Predigtamt getreten war. Man hatte schon lange daran gedacht, den Tag des 50jährigen Amtsjubiläums entsprechend zu feiern, und wie manche haben heiße Wünsche zu Gott aufsteigen lassen, dass Walther diesen hohen und seltenen Ehrentag in guter Gesundheit erleben möge! Aber Gottes Gedanken waren andere als die seiner Freunde. Von einer großartigen Feier konnte bei Walthers andauernder Schwäche keine Rede sein. Doch gönnte ihm Gott die Freude, diesen Tag zu erleben, und es kam auch eine Feier zustande, wenn auch keine so große, wie man anfänglich vorhatte. Das Krankenzimmer wurde von der Gemeinde durch ein Komitee mit neuen, prächtigen, bequemen Möbeln ausgestattet. Am Sonntagvormittag wurden in den Kirchen St. Louis’ Jubelpredigten gehalten. Schon frühmorgens hatten die Studenten Walther mit einem Gesang begrüßt und durch eine Abordnung ihre Glückwünsche ihm dargebracht. Nach dem Vormittagsgottesdienst gratulierten ihm eine Anzahl auswärtiger Freunde: Prof. Crämer in Begleitung Herrn Uhligs, Pastor Schieferdecker und Pastor H. Sauer und Herr Meyer von Fort Wayne. Nach dem Nachmittagsottesdienst stellten sich die vier Delegaten der vier Gemeindebezirke, die Pastoren von St. Louis, die Glieder der Fakultät des Seminars, Prof. A.F. Hoppe und Herr Barthel dem teuren Jubilar vor. Walther empfing die Gratulanten in dem neuen Invalidenstuhl. Zuerst gratulierte im Namen der Gemeinde der Vorsteher Weise, welcher schon Walthers Gemeinde in Bräunsdorf in Sachsen angehört und seiner Ordination beigewohnt hatte. Tief gerührt sprach Walther seinen Dank aus für die bisher von der Gemeinde ihm erwiesenen Liebe und rühmte die unverdiente Gnade, womit Gott seine, wie er demütig bekannte, geringe Arbeit gesegnet habe. Im Namen des Ministeriums redete Pastor Otto Hanser, im Namen der Fakultät Herr Prof. R. Lange. Darnach überreichte ihm Pastor W. Achenbach die von den Synodalen gesammlte Summe von $ 3000 in Gold. Sämtliche Gratulanten reichten ihm noch mit kurzem Glückwunsch die Hand. Auf die ihm dargebrachten Gratulationen erwiderte er unter anderem: „Es ist wahr, dass Gott mich elenden Menschen und armen Sünder aus unverdienter Gnade gebrauchen wollte, um sein Werk auszurichten. Es wäre Undank, wenn ich leugnen wollte, dass Gott Großes getan hat. Nur ihm, nicht mir, gebührt die Ehre. ... Ich habe in meinem Leben von Menschen viel Lob und viel Tadel erfahren, aber ihr könnt mir’s glauben, liebe Brüder, gegen Beides bin ich gleichgültig geworden.“ Als er dann die reiche Gnade Gottes lobend und dankend erwähnte und bekannte, dass er, wenn er auf sich sehe, sich vor Gott schämen müsse, da versagte ihm die Stimme, mit der Linken bedeckte er die Augen, die Tränen flossen über seine Backen und die Sehnsucht seines Herzens offenbarte sich in den Worten: „Hinaus, hinaus ... mein Gott! aus dieser argen Welt.“ Am Jubiläumstage und schon in den Tagen vorher erhielt Walther eine Menge von Gratulationsschreiben aus der Nähe und aus der Ferne. Bald konnte er das Bett nicht mehr verlassen. So schwer dies dem rastlos tätigen Mann fallen musste, untätig da zu liegen, so fügte er sich doch geduldig in Gottes Willen.

XXVIII.

Erbauliches Kranken- und Sterbebett – seliger Abschied – Begräbnis

Bis auf den letzten Monat äußerte er Interesse für das Wohl der Kirche, der Synode, der Anstalt. „Ach, dass nur“, erklärte er, „unsere Synode bei dem beharrt, was sie hat! Gott hat ihr so überschwängliche Gnade erwiesen, - und dass sie nur ein frommes Ministerium behält und keine unwürdigen Personen ins Amt lässt!“ Einmal sagte er zu seinem Sohn, alle Studenten sollten eine Arbeit anfertigen über das Thema: „Was muss ein junger Prediger vor allen Dingen predigen, wenn er seine Gemeinde selig machen will?“ Die für arme Studenten eingehenden Gelder verwaltete er noch längere Zeit. Bis auf einen Monat vor seinem Tode hielt er darauf, dass die Seinen seine Beiträge an die Gemeinde regelmäßig entrichteten. Doch trat, je näher dem Ende, das Interesse für seine engere und weitere Umgebung immer mehr zurück und sein Geist war nur auf das Eine gerichtet, ein seliges Ende durch Christus. Hatte er in der ersteren Zeit noch die Hoffnung gehegt, er werde noch einmal genesen und die gewohnte Arbeit wieder aufnehmen können, so hat er doch später diese Gedanken aufgegeben und sich auf die Ausspannung aus dem Dienst gefreut und nach Erlösung sich gesehnt.

Oft hat er bekannt, dass er große Freude empfinde, wenn er die vielen großen Wohltaten an seinem Geiste vorüber gehen lasse, die ihm Gott während seines langen Lebens erwiesen habe. Einmal äußerte er, viele hielten ihn wohl für einen recht halsstarrigen Mann, der sich von seiner Meinung nicht abbringen ließe, aber er sei gewiss, dass dieser „Eigensinn“ ein donum Dei (eine Gabe Gottes) sei. Oft hat er, bis in die letzte Zeit, das als eine besondere Gnade Gottes gepriesen, dass er ihn in dieser letzten Krankheit vor schweren geistlichen Anfechtungen behütet habe, die ihm in früheren Krankheiten nicht erspart blieben. Er tröstete sich der gnädigen Erwählung Gottes und ließ sich damit trösten. Einmal klagte er, als Pastor C.C.E. Brandt mit Pastor Bartels ihn besuchte: „O, wie große Geduld muss Gott mit mir armen Sünder haben, ach, die Sünde, die Sünde!“ – und als er dann aus dem Evangelium getröstet wurde, freute er sich des göttlichen Trostes und rief, Freudentränen weinend, aus: „Ach, wenn wir den Trost nicht hätten! Der treue Heiland! O, das wird herrlich sein, wenn wir den sehen, den wir hier nicht gesehen und doch geliebt haben. Wäre ich nur schon da! Doch, wie Gott will!“ Zu Pastor Wangerin sagte er einmal: „Ich bete mit den lieben Kindern: ‚Nimm mich in dein Himmelreich, mach mich deinen Engeln gleich.’“ Sonntags pflegte er sich von seiner Tochter oder von seinem Sohn die Predigt aus Heshusius’ Predigtbuch vorlesen zu lassen.

In den letzten Wochen lag er oft im Schlaf und war bewusstlos. Als in dieser Zeit der Verfasser dieses Buches bei einem Besuch zum Abschied ihm sagte: „Der Herr wird dich nicht verlassen noch versäumen, er wird dir mächtiglich beistehen“, sagte der Ermattete, sein Haupt etwas wendend: „sonderlich in der letzten Stunde!“ Oft entstieg seinem Herzen der Seufzer: „Gott, erbarme dich!“ Oft betete er: „Christi Blut und Gerechtigkeit – das ist mein Schmuck und Ehrenkleid“ usw. Als Pastor O. Hanser von ihm Abschied nahm, beantwortete er dessen Frage, ob er sich auf die himmlische Herrlichkeit freue, mit Ja. In der vorletzten Woche musste ihm sein Sohn folgende Schriftabschnitte vorlesen: 1. Joh. 2; Psalm 103; Joh. 14; 15 und 17; 1. Petr. 1 und die Lieder: „In dich hab ich gehoffet, Herr“, „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“ und „Es ist noch eine Ruh vorhanden“.

Am 4. Mai sollte die Allgemeine Synode in Fort Wayne zusammen treten. Der Abschied seiner Kollegen, die zur Synodalversammlung ziehen mussten, war höchst schmerzlich; sie wussten, dass sie ihn nicht wieder im Leben sehen würden. Als ihn am 4. Mai sein Sohn erinnerte, dass jetzt die Synode beginne, dass er aber in eine andere Versammlung, die der Patriarchen, Propheten und Apostel, bald werde berufen werden, entgegnete er: „Das wird herrlich sein!“ Seit diesem Tag konnte man wieder verständlich mit ihm reden und er fasste alles, was man ihm sagte, während er die Tage vorher fast immer ohne Bewusstsein war. Er hat da wohl noch viel geseufzt: „Gott, erbarme dich! Ach Gott, verlass mich nicht!“ aber auch den Sterbetrost, den man ihm aus Gottes Wort zusprach, bis zuletzt entweder mit Ja oder mit Kopfnicken oder Händedruck bekräftigt. Als ihn am 5. Mai ein altes Gemeindeglied besuchte und den 23. Psalm („Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“) begann, hat er den ganzen Psalm gesagt. Am 6. Mai abends betete Pastor Stöckhardt auf sein Begehr noch einmal mit ihm und den Angehörigen und sprach ihm dann den Vers des Abendliedes vor: „Soll diese Nacht die letzte sein in diesem Jammertal, so führ mich, Herr, in Himmel ein zur auserwählten Zahl“; worauf er sagte: „Das gebe Gott!“ Auf die Frage, die Pastor Stöckhardt ihm vorlegte, ob er auf die Gnade des Herrn Jesus Christus, die er sein Leben lang bezeugt habe, nun auch getrost sterben wolle, antwortete er mit einem lauten, deutlichen Ja. Gegen Mitternacht schien er noch einmal arge Schmerzen zu haben und sprach dann: „Es ist genug!“ Seitdem scheint er keine Qual mehr empfunden zu haben. Samstag, den 7. Mai, lag er den ganzen Tag, wie man sagt, im Sterben, hat aber bis zuletzt das Bewusstsein behalten und deutlich zu erkennen gegeben, dass er, was Pastor Stöckhardt, Prof. Schaller und sein Sohn ihm sagten, wohl verstand. Abends ½ 6 Uhr entschlief er fein sanft und still.

Die Synodalversammlung in Fort Wayne war von der ersten Sitzung an auf eine Trauerbotschaft gefasst, sie wurde aber doch furchtbar erschüttert, als sie nun eintraf. Das Innere der St. Paulskirche, in welcher die Synode ihre Sitzung hielt, wurde von den Gliedern der Gemeinde mit Trauerflor behängt. Die Sitzung am Montag wurde mit einem Trauergottesdienst eröffnet. Damit die Synode nicht unterbrochen würde und damit recht viele Synodale am Begräbnis teilnehmen könnten, wurde auf Wunsch der Synode dasselbe bis auf den 17. Mai verschoben.

Am Freitag, den 13. Mai, nachmittags, wurde die einbalsamierte Leiche in das Seminargebäude gebracht und da in der großen Halle, nahe den Lehrsälen, aufgebahrt. Beim Abschied aus dem Trauerhause hielt Pastor Stöckhardt eine Ansprache und ein Gebet. Dem Sarge, getragen von acht Studenten, folgten die trauernden Hinterbliebenen: die beiden Söhne des Entschlafenen, Pastor Ferdinand Walther und Herr Constantin Walther, Pastor St. Keyl und dessen Gattin und Tochter, und Pastor H. Niemann (dessen Gattin, die jüngste Tochter Dr. Walthers, leider durch Krankheit verhindert war zu kommen); denen sich die übrigen Studenten anschlossen.

Das Seminargebäude war inwendig und auswendig schwarz drapiert. Auch die Wohnungen der Professoren, wie der hier wohnenden Gemeindeglieder waren schwarz behangen. Die Studenten hielten abwechselnd Wache.

Am Samstag wurde abends in der Aula des Seminars auf Wunsch von Amerikanern ein englischer Trauergottesdienst gehalten, in welchem Pastor Birkner von St. Louis redete.

Am Sonntagnachmittag wurde die Leiche in die Dreieinigkeitskirche gebracht. Zuvor wurde eine Feierlichkeit veranstaltet. Groß war die Zahl derer, die sich dazu eingefunden hatten. Die große Aula konnte nicht alle fassen. Pastor Stöckhardt hielt dabei eine Rede über 1. Kor. 2,2. Eine große Menge folgte der Leiche zu Fuß, trotz des drohenden Wetters. Die Dreieinigkeitskirche war inwendig und auswendig mit Trauerflor bekleidet. Viele, viele betraten dieselbe noch an diesem Tage und am Montag und Dienstagvormittag, um noch einmal einen Blick auf das Antlitz des teuren Toten zu werfen.

Am Dienstagmittag wurde die Leiche zu ihrer letzten Ruhestätte gebracht. Um 11 Uhr versammelten sich die Studenten, Professoren und Pastoren, St. Louiser und auswärtige, Lehrer, Gemeindevorsteher und andere im Schulhaus an der Barry Straße, um von hier aus in feierlichem Zug in die Dreieinigkeitskirche zu ziehen. Um 12 Uhr begann der Trauergottesdienst, in welchem Herr Präses Schwan über den 90. Psalm predigte und Herr Prof. Crämer über 2. Kge 2,12 am Altar redete. Die Träger waren bei dieser Feierlichkeit die Professoren des Seminars und die Pastoren der Stadt. Aus allen Teilen der Vereinigten Staaten waren Pastoren der Missourisynode herbeigeeilt, um dem geliebten Toten die letzte Ehre zu erzeigen. Auch andere Synoden waren vertreten: die Minnesotasynode durch ihren Präses, Herrn P. Albrecht; die Wisconsinsynode durch die Professoren ihres Seminars in Milwaukee, Notz und Gräbner; die norwegische Synode durch ihren Allgemeinen Präses und Herrn Professor Larsen von Decorah. An keinem Begräbnis eines Theologen in Amerika haben wohl so viele Theologen teilgenommen. Die Stadt St. Louis hat wohl kaum ein größeres Leichenbegräbnis gesehen.

Am Grabe hielt Pastor O. Hanser die Grabrede über Dan. 12,2.3. Herr Prof. Larsen (von der norwegischen Synode) konnte sich nicht enthalten, eine kurze Ansprache zu halten, um zu bezeugen, wie viel auch die norwegische Synode dem teuren Entschlafenen verdanke.

Die Studenten stimmten auch am Grabe ihres geliebten Lehrers, wie bei den voraufgehenden Feierlichkeiten, ihre Trauerlieder an. Pastor Sieck sprach Kollekte und Segen und Pastor Wangerin, nach Absingen des Begräbnisliedes „Nun lasst uns den Leib begraben“ das Vaterunser. Die Gruft, in die der Sarg gesenkt wurde, war ausgemauert. Eine starke Steinplatte deckt den Sarg.

Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an; ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach. Offenb. 14,13. Walthers Seligkeit wird keine größere sein als die anderer Sünder, die durch Christus selig werden; aber seine Herrlichkeit im Himmel wird eine besonders große sein; er hat mehr gearbeitet, mehr gekämpft als andere, mehr als andere die Schmach Christi getragen; um so größer wird seine Herrlichkeit sein.

Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort

Gottes gesagt haben; welcher Ende schauet

an und folget ihrem Glauben nach.

Hebr. 13,7